Analoges Cruising – im Zeitalter von Dating-Apps?
Leo Herrera hat ein «Handbuch» verfasst, um jungen Queers die Freuden des altmodischen «Jagens» nach Sex nahezubringen
Der US-Autor und Filmemacher Leonardo Herrera hat ein kleines Buch über «analoges» Cruising geschrieben. Darin erklärt er, warum diese «historische» Form des sexuellen Kennenlernens in Bars, Saunen, Kinos und Parks so viel spannender ist als modernes Online-Dating.
Die Idee zu «(analog) Cruising: a manual» kam Herrera, als er in Berlin lebte, erzählt er im MANNSCHAFT-Gespräch. Entsprechend fängt das Buch auf mit einem Eintrag zu «Berlin, 2022» an – mitten in einer Hitzewelle und damit, dass sich Herrera zum Überwinden einer Schreibblockade in einen «notorischen Darkroom» der Stadt begibt.
Er war damals damit beschäftigt einen Berlinführer zu den «Sex Places» zu schreiben und klapperte verschiedene Locations ab. «Fast jede Bar in einem schwulen Kiez hat einen Sexbereich», so Herrera. «Eine bedient die junge Hipster-Welt, in anderen tummeln sich Bären, es gibt stylische Fetisch-Bars mit perfekter Beleuchtung für Männer, die ein Vermögen ausgeben für ihr Leder-Outfit. Es gibt ein eher abgelegenes Lokal, das türkische Sexarbeiter frequentieren, ein anderes für notgeile Siebzigjährige. Die meisten schliessen bei Sonnenaufgang.»
«Vulkanischer Orgasmus» In kurzen Vignetten beschreibt Herrera seine Erlebnisse. Los geht es mit dem «vulkanischen, theatralischen Orgasmus» eines Tops im bereits erwähnten Darkroom im 1. Kapitel, den Herrera beobachtet, während der Bottom seine Hose anschliessend hochzieht und sich mit Papierhandtüchern abwischt.
«Wenn manche Leute sagen, sie gehen zum Strand um nachzudenken, dann glaube ich sie meinen genau das» – also solche Szenen, die ihre Gedanken beruhigen. Und sortieren. «Manchmal scheint es mir, wir würdigen unsere Sex Spaces so wie Korallenriffe – nur wenn wir verreist sind, wenn sie verbleichen und sterben.»
Um diesem Sterben einer schwulen Sexkultur etwas entgegenzusetzen, kommen im Buch Geschichten zu «Saunen», «Strassen», «Natur», «Sexkinos», «Sexclubs» und «Bars» vor (in dieser Reihenfolge). Mit einem Epilog zu «Apps». Das Thema «Toiletten», das der Fotograf Marc Martin in vielen Büchern und Ausstellungen berücksichtigte (MANNSCHAFT berichtete), fehlt hier seltsamerweise.
Mit geladenen Gästen Die Herrera-Storys starten nach dem Berlin-Prolog 2004 in San Francisco, setzen also vergleichsweise spät in der Cruising-Geschichte der schwulen Welt ein, der bereits der kürzlich verstorbene Schriftsteller Edmund White 1977 in seinem Klassiker «The Joy of Gay Sex» einen eigenen Abschnitt gewidmet hat: «Cruising ist, wenn man rausgeht auf die Jagd, auf der Suche nach Sex mit einem Fremden, es passiert die ganze Zeit, überall – beim Frühstück in einem Café, in einem Geschäft, während man Schuhe anprobiert, bei einem Empfang mit geladenen Gästen. Aber die am weitesten verbreitete Zeit dafür ist die Nacht, und die typischen Orte sind Strassen, Parks, Bars, Saunen, Diskotheken, wo sich schwule Männer versammeln.»
Laut White gibt es eine «Kunst des Cruisens», die viel mit Timing und Blicken zu tun habe, schreibt er. Und genau darum geht es auch Herrera. Zu MANNSCHAFT sagt er: «Ich glaube nicht, dass wir die klassische Art des Cruising jemals verlieren werden. Sie verschwindet manchmal für eine Weile. Aber sie kehrt immer wieder zurück. Queere Männer kommunizieren seit Jahrhunderten auf diese Weise. Ich glaube nicht, dass Cruising je aus irgendeinem Grund ausgestorben ist. Es ist aber wichtig wieder zu lernen, wie man jemanden von Angesicht zu Angesicht cruist, was im Zeitalter der sozialen Medien verlorengegangen ist» (MANNSCHAFT berichtete).
Herreras «Handbuch» ist also auch eine Gebrauchsanleitung. «Ich habe das Buch geschrieben, weil eine neue Generation die klassische Form des Cruising wiederentdecken möchte und erlebt hat, wie toxisch und süchtig machend Online-Dating-Apps wie Grindr sind. Wir haben ausserdem einen enormen Wandel im Sexbereich erlebt durch PrEP, DoxyPEP und HIV unter der Nachweisbarkeitsgrenze. All dies führt dazu, dass Cruising wieder Teil der queeren Fantasie und Sexkultur wird.»
Erleben junge Queers die Geschichten dieser «vergangenen» Form des Kennenlernens wie ein Märchen als längst vergangenen Zeiten? «Ich glaube, viele junge Leute erleben gerade analoges Cruisen, auch wenn sie es nicht wirklich wissen», so Herrera zu MANNSCHAFT. «Es gibt mittlerweile viele Darkrooms, Sexpartys und sexpositive Festivals. Sie nutzen auch digital-analoge Hybrid-Varianten mit Apps wie Sniffies. Sogar auf Tiktok sprechen junge Leute heute über die Freuden des analogen Cruisens. Es fühlt sich also nicht mehr wie ein Märchen aus längst vergangener Zeit an, sondern eher wie etwas, das im echten Leben heute passiert – und was viele neugierig macht.»
Offene Gespräche über queere Intimität Entsprechend ist das Feedback auf Herreras 166-Seiten-Buch mit dem rosa Retro-Umschlag, dessen Farbe ans legendäre Butt-Magazin erinnert (MANNSCHAFT berichtete). «Die Reaktionen auf das Buch waren überwältigend positiv und besser, als ich es mir je hätte vorstellen können», so Herrera im MANNSCHAFT-Interview. «Wir haben Tausende Exemplare des Buchs von Singapur bis Brasilien verkauft. Therapeuten geben es ihren Klienten, um offene Gespräche über queere Intimität zu führen. Jedes Mal, wenn ich in eine Schwulenbar gehe, sei es in New York, San Francisco oder New Orleans, kommt jemand auf mich zu und spricht über das Handbuch. Auch viele trans Menschen greifen dazu. Das ist wunderbar!»
Und was ist mit dem deutschsprachigen Markt und speziell mit Berlin, wo sein Buch zu Grossteilen entstanden ist? Bislang gebe es noch keine deutsche Fassung, sagt Herrera, hofft jedoch auf «mehrere Übersetzungen» in der Zukunft.
Cruising-Märchen auf einer Bärenparty Hat er – aus den vielen Cruising-Geschichten, die er in seinem Buch zusammengetragen hat – eine, die er besonders mag? Auf die Frage antwortet Herrera mit einem Lachen und sagt: «Ich habe einfach zu viele zur Auswahl!» Und weiter: «Meine absoluten Favoriten stehen alle im Buch, das eine Reihe persönlicher Geschichten und Tipps enthält. Von meinem ersten Mal in der Sauna über meine Blamage in einem Sexkino bis hin zu einem Cruising-Märchen auf einer Bärenparty.»
Im Rahmen dieser ersten Saunageschichte handelt Herrera eine ganze Reihe von Punkten ab, wie z.B. «Abweisung», «Nimm eine Abweisung nicht persönlich», «Einvernehmlichkeit», «Lautstärke», «Fanny Packs», «Die richtige Zeit wählen» und das «Traumprinz-Syndrom», wo er davor warnt immer länger zu warten und zu warten auf den vermeintlich perfekten Mann, statt mit denen zu interagieren, die schon da sind. Herreras Rat im Buch: «Prince Charming kann ein Orgasmus sein und keine reale Person. Trau dich zu experimentieren und neue Archetypen auszuprobieren. Wie die Dragqueen Meatball sagte. ‹Du stehst am Buffett, warte nicht auf die Krabbenbeine!›» In einer Sauna hat Herrera selbst entdeckt, dass er ein «Chubby Chaser» ist und «Rubens-artige Männer» attraktiv findet, schreibt er. Für ihn sei das eine neue Erkenntnis an einem Dienstagnachmittag gewesen. Die ihn (und seinen Partner) sehr glücklich gemacht habe.
«Jeder sollte einmal im Leben in einem Garten jemanden anbeten» Im Buch mischt Herrera verschiedene Orte in den USA immer wieder mit Berlin – als sei die Stadt eine logische Erweiterung. (Übrigens die einzige im deutschsprachigen Raum.) Bezüglich des Cruising in Parks kommt er zu dem Schluss: «Jeder sollte einmal im Leben in einem Garten jemand anderen anbeten – und sich selbst anbeten lassen.»
Ältere Lesende werden sich vermutlich amüsieren über diese hymnische Würdigung des Cruising, mit der viele selbst einst als Selbstverständlichkeit aufgewachsen sind und die – anders als Herrera behauptet – in der «alten» Form nicht wegen Aids abhandengekommen ist, sondern erst sehr viel später. Aus sehr unterschiedlichen Gründen, die mit Dating-Apps etwas zu tun haben, aber auch mit dem veränderten Ausgehverhalten einer neuen Generation von Queers (MANNSCHAFT berichtete). So dass u.a. Sexkinos verschwanden, weil heutzutage jeder auf seinem Mobiltelefon per Mausklick Pornos gucken kann ohne Eintritt zu zahlen. Trotzdem gibt es noch vereinzelt Sexkinos und Sexshops. Herrera nennt sie «Arkaden» und beschreibt sie als «McDonald’s des Cruising» – «man geht rein und wieder raus, so schnell wie’s geht, und meist fühlt man sich danach ein bisschen angewidert».
«Es ist das McDonald’s des Cruising – man geht rein und wieder raus, so schnell wie’s geht, und meist fühlt man sich danach ein bisschen angewidert»
Leo Herrera, Autor
Herrera geht auch darauf ein, wie Sexkinos in queeren Medien (inklusive TV-Serien und Filme) dargestellt werden und beklagt, dass dieses «queere Sex-Ökosystem» nicht die Würdigung erhalte, die es verdient. Er beschreibt den «Shop als Vorspiel», «Verschwende keine Energie darauf, dass dir etwas peinlich ist», «Wenn du kannst, kaufe etwas …». Immer wieder geht es ihm um «Consent», egal ob in einem Kino, hinter einem Busch oder Baum, in einem Darkroom oder auf einer Sexparty. Oder durch ein Gloryhole (MANNSCHAFT berichtete).
Mitten in einer sexuelle Revolution Laut Herrera leben wir gerade in einer «sexuellen Revolution» – und wir sollten das seiner Meinung nach voll ausnutzen. Das heisst, man soll nicht einer vergangenen Ära nachtrauern, auch nicht in Bezug auf Cruising. Denn die Möglichkeiten, das heute zu tun, sind ganz anders als zu Zeiten von Edmund Whites «Joy of Gay Sex» oder zu den Zeiten von Oscar Wilde im 19. Jahrhundert (die Stephen Alexander in seinem neuen Buch «Das Bildnis des Oscar Wilde» beschreibt).
Wer sich heute dem Cruising hingibt, könne seinem Leben einen Abenteuer-Touch geben, heisst es im Buch. Aber: «Sei ehrlich mit dir selbst, wenn du es tust. Cruising kann herausfordernd sein, selbst an einem guten Tag. Wer es tut, um Selbstbestätigung zu bekommen und sie dann nicht erhält, besonders wenn man sich sowieso schon schlecht fühlt, kann sich Schaden zufügen und einen inneren Heilungsprozess verlängern. Höre immer (immer!) auf deine innere Stimme. Cruising sollte dein Leben nicht gefährden, sondern es spannender machen.» In diesem Sinn entlässt Herrera die neuen Queers mit der Aufforderung: «Happy hunting!», bevor er sich im Epilog dem Thema Apps widmet.
«Pay for Play» Er beklagt, wie viele «Pay for Play»-Profile es gibt, wie die unendliche Pop-up-Werbung nervt, wie anstrengend «Fake»-Profile sind, wie der Algorithmus alles bestimmt. «Es scheint, dass all die Dinge, die Cruising zu einem so harmonischen Erlebnis machen – Benehmen, Anonymität, Privacy – auf den Dating-Apps mit dem Kapitalismus zusammenkrachen. Digitales Cruising scheint mit sich selbst im Widerspruch zu stehen.»
Als kleine Kulturgeschichte des Cruising ist dieses Buch eine unterhaltsame Lektüre, die viel Stoff bietet, um nachzudenken. Herrera verweist zwar im Kontext von Berlin darauf, dass in dieser Stadt schon im späten 19. Jahrhundert eine queere Szene existierte und sich emanzipierte, worüber ja Robert Beachy sein berühmtes Buch «Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity» schrieb, auf Deutsch erschienen als «Das andere Berlin: Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867-1933». Aber eine wirkliche Historie queeren Lebens erzählt Herrera nicht. Auch nicht in Bezug auf New York, wo man u.a. in George Chaunceys «Gay New York: Gender, Urban Culture and the Making of the Gay Male World 1890-1940» mehr erfährt übers Cruising in Bars und Parks.
Trotzdem ist dieses bislang nur auf Englisch erhältliche Handbuch Herreras eine stylische Erinnerung an einen Teil schwuler Kultur, der einst zentral war und heute eher nebensächlich behandelt wird. Obwohl alle Orte, die Herrera beispielsweise in Berlin beschreibt, voll sind. Auch an Dienstagnachmittagen und Abenden.
Blickkontakt, lächeln, freundlich bleiben: 11 Regeln fürs Cruising (MANNSCHAFT berichtete).
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