«Fraysexuell»: Neues Label für etwas Altbekanntes?
Es geht um Menschen, die kein Begehren spüren bei Partner*innen, die sie näher kennen
In der britischen Zeitschrift Gay Times erklärt diese Woche der Sexkolumnist Bobby Box – der sich auf Instagram als «zertifizierter Genusserzieher» («pleasure educator») bezeichnet – einer queeren Leser*innenschaft, was «Fraysexualität» bedeutet, basierend auf seinen eigenen Lebenserfahrungen.
«Natürlich kann ich die Sexualität von niemandem mit einem Label versehen, ausser meine eigene», so Box. Er selbst bezeichnet sich als «fraysexuell», weil er zunehmend weniger sexuelle Anziehung empfinde, je besser er seine Partner*innen kenne.
Laut Box sei «Fraysexualität» auf dem «Asexualitätsspektrum» einzuordnen. Das Queer Lexikon erklärt die Sache so: «Als fraysexuell können sich Personen bezeichnen, die nur dann eine sexuelle Anziehung gegenüber einer anderen Person empfinden, wenn (noch) keine tiefe emotionale Bindung zwischen ihnen besteht. Damit ist Fraysexualität so etwas wie das Gegenteil von Demisexualität.»
Das heisst, wer sich als fraysexuell definiert, kann sexuelle Anziehung nur gegenüber fremden oder kaum bekannten Personen empfinden, zu denen er oder sie keinerlei emotionale Verbindung hat. Bei Demisexualität ist es dagegen so, dass Menschen mit dieser Orientierung nur körperliches Interesse an einem Gegenüber empfinden, wenn auch eine emotionale Beziehung besteht.
«The Joy of Gay Sex» Ältere Homosexuelle werden sich jetzt vielleicht verwundert die Augen reiben, schliesslich ist das, was hier als «fraysexuell» beschrieben wird, ihnen weitgehend bekannt als Präferenz für anonymen Sex, wie er einst Standard war in Saunen, Parks, Darkrooms usw. Er war in den 1970er Jahren so selbstverständlich, dass Edmund White und Charles Silverstein in ihrem Buch «The Joy of Gay Sex» darauf gar nicht gross gesondert eingehen, sondern diese sexuelle Kontaktform mehr oder weniger als Basis für alles ansehen, wenn sie das Verhalten von schwulen Männern in Bars, Badehäusern etc. beschreiben.
Im Filmklassiker «Trick» von 1999 sagt eine heterosexuelle Frau noch voller Bewunderung zu ihrem schwulen Bekannten und dessen One-Night-Stand («Trick»), dass anonymer Sex «heiss» sei und sie die beiden beneide. Wie gesagt, laut «Joy of Gay Sex» war solcher Sex eine weit verbreitete Form von gelebter schwuler Sexualität, ungeachtet der Tatsache, ob Menschen – in diesem Fall Männer – daneben noch feste Partnerschaften haben oder nicht; mit oder ohne Sex.
«Nischenorientierung» Bei Bobby Box ist daraus 2024 eine «sexuelle Nischenorientierung» geworden; behauptet er zumindest: «Viele tun die Legitimierung von Fraysexualität ab mit der Begründung, solche Personen hätten schlicht ‹Bindungsprobleme› oder wollten solche Formen von ‹Anhänglichkeit› nicht. Aber das stimmt nicht. Die Folge ist ein Mangel an Informationen und Sichtbarkeit.»
Auch wenn fraysexuelle Menschen Bindungsprobleme hätten, seien sie unabhängig davon eine eigene «Gruppe» (Box vermeidet den Identitäsbegriff). Er zitiert als Definition für Fraysexuelle einen Ratgeber, wo es heisst: «Erstens, auch wenn Menschen sich nach einer stabilen und liebevollen Beziehung sehnen, verlieren sie zunehmend das Interesse an Sex. Zweitens, am Anfang einer Beziehung haben sie intensive sexuelle Lust, aber diese schwindet langsam, wenn sie ihren Partner besser kennenlernen. Und egal wie verbunden sie sich dem anderen emotional fühlen, die Flamme lässt sich nicht neu entfachen. Sie sind einfach sexuell stärker angezogen von Fremden statt von Leuten, die sie besser kennen.»
Die Flamme lässt sich nicht neu entfachen
Box bringt das Beispiel des 33-jährigen Ben, der in seinen vergangenen Beziehungen lieber fremdging, statt mit seinem festen Partner Sex zu haben. Nach der Trennung habe sich Ben entschieden, nie wieder versuchen zu wollen, monogam zu leben, vielmehr wolle er nun eine «ethical slut» werden, was man übersetzen könnte als «ethische Schlampe» oder «Schlampe aus Überzeugung». Er sei inzwischen glücklich in einer offenen Beziehung, in der er auch offen über seinen Sex mit anderen spreche. Das sich gegenseitig von sexuellen Abenteuern mit anderen erzählen, sei demnach eine Art «Vorspiel» zwischen ihm und seinem Offene-Beziehungs-Partner geworden. Box führt noch weitere Beispiele von Männern an, die sich so verhalten würden und das als «fraysexuell» bezeichneten.
Nachdem sich diese Männer als fraysexuell geoutet hätten, fühlten sie sich «verurteilt», sagen sie, als «Egoisten, die einfach nur rumhuren wollen». Solch eine «engstirnige Perspektive» sei «sexnegativ», meint Box, sie würde «heteronormative, homonormative und mononormative Strukturen» festigen, die «für alle schädlich» seien.
«Keine heteronormativen Werte nachäffen» Box zitiert einen weiteren Experten mit den Worten: «Wir haben diese sehr schädliche Vorstellung, dass Sex nur etwas wert sei, wenn er verbunden ist mit romantischen oder sonstigen Gefühlen, und dass solche Gefühle vorzugsweise exklusiv auf eine einzige Person bezogen sein sollten.» Dabei sei es doch so: «Sex kann wunderbarschön, kraftvoll, erfüllend und wertvoll sein, ohne tiefere Gefühle. Queere Menschen müssen aufhören zu glauben, dass wir uns irgendwie adeln würden, wenn wir heteronormative Werte und Sexstandards nachäffen.»
Laut Box sei zum Thema Fraysexualität nicht breit geforscht. Es könne viele Menschen «da draussen» geben, die fraysexuell seien, es aber gar nicht wüssten, weil sie noch nie davon gehört hätten. Weswegen es wichtig sei, «sichtbar, lautstark und geduldig» zu sein, bis diese sexuelle Orientierung besser bekannt und legitimiert würde.
Wieso Fraysexualität von Box und anderen dem Spektrum der Asexualität zugerechnet wird, erklärt Gay Times nicht. Was erstaunlich ist. Denn laut allen Fallbeispielen haben die (in diesem Fall) Männer ja kein Problem mit Sex an sich, sondern nur mit Sex mit Partner*innen, bei denen die Flamme der ersten Leidenschaft erloschen ist.
«Mangelnde Kommunikation» Man kann es als älterer Homosexueller fast grotesk finden, dass eine jüngere LGBTIQ-Generation jetzt Promiskuität und anonymen Sex meint «neu» entdeckt zu haben und ebenfalls meint, dem das Label «Fraysexualität» geben zu müssen, wenn das, worum es geht, bis zum Ausbruch der Aidskrise zumindest in Schwulenkreisen absoluter Alltag war.
Um nochmal White/Silverstein zu zitieren: «Wenn ein schwuler Mann einen Partner hat, dann sollten er und dieser Partner entscheiden, wie viel Sex – falls überhaupt – sie ausserhalb der Beziehung haben wollen und unter welchen Bedingungen. Wenn ein Partner Sex ohne das Wissen des anderen hat, dann geht es weniger um Promiskuität, sondern um Unehrlichkeit. Solche Unehrlichkeit sollte man zurückführen auf mangelnde Kommunikation, statt es als moralischen Fehler zu brandmarken.»
White/Silverstein beschreiben unter dem Schlagwort «Monogamie» Partnerschaften, wo beiden Personen sich dafür entschieden hätten, ihre Beziehung «mehr zu würdigen als die Begegnungen mit anderen», was auch «Abenteuer ausserhalb der Beziehung» beinhalten könne. Die Unfähigkeit, darüber gut zu kommunizieren, sei laut White/Silverstein der häufigste Trennungsgrund für Paare («sowohl homo- wie heterosexuelle»). Es sei für Partner*innen wichtig, Regeln zu finden, die ihren speziellen Bedürfnissen und Ängsten gerecht werden, heisst es. Und das könne man nur erreichen mit «ehrlichen (oftmals langwierigen) Gesprächen».
Während die schwul-lesbische Post-Stonewall-Community das alles schon einmal erkannt und öffentlich diskutiert hatte – und es in Bestsellern wie den Romanen von Gordon Merrick rauf und runter zelebriert wurde, etwa in der berühmten «Peter & Charlie»-Trilogie – ist es scheinbar im neuen Millennium von jungen Queers vergessen worden. Übers Warum würde es lohnen nachzudenken. Das US-amerikanisches Magazin Out sprach in einer Titelgeschichte 2014 von «New Monogamy» und erklärte, dass gerade jüngere queere Paare keine offenen Partnerschaft gutheissen würden, sondern exklusive Beziehungen miteinander wollten, inklusive Eheschliessung.
«The Art of Looking» Im Buch «The Art of Looking» reagierte Charles Leslie, Gründer der schwul-lesbischen Leslie + Lohmen Museum in New York, auf diese Out-Geschichte mit den Worten: «Mein Partner Fritz und ich hatten eine glückliche 48-jährige Beziehung, weil wir uns nach dem zweiten gemeinsamen Jahr entschieden, dass ‹die Familie, die zusammen spielt, auch zusammen bleibt›. Das hat für uns perfekt funktioniert, auch wenn uns einige Bekannte vorwarfen, wir seien ‹untreu› und unsere Beziehung damit nicht ‹vollwertig›. Dem kann ich nur vehement widersprechen. Fritz und ich wussten beide, dass Männer – sowohl homo- wie heterosexuelle – sich nicht gross um körperliche Treue scheren. Trotzdem können sie einem anderen emotional tief verbunden sein. Es gibt eine spirituelle und soziale Treue. Klar gab es bei uns zwischendurch Eifersuchtsszenen, aber die haben wir immer schnell gelöst. Und uns darauf konzentriert, was wichtig ist: zusammenzubleiben und dafür zu sorgen, dass unsere Beziehung funktioniert.»
Charles Leslie weiter: «Meine Antwort auf all diese modernen Monogamisten ist: Wartet mal ab! Sie werden noch früh genug merken, dass dieses Eins-auf-Eins-Ideal nicht funktioniert, so wie sie behaupten.»
Sie werden noch früh genug merken, dass dieses Eins-auf-Eins-Ideal nicht funktioniert
Es scheint, dass dieser Moment jetzt gekommen sei. Wobei es interessant ist, dass dafür nun ein Label wie «Fraysexualität» bemüht werden muss und eine Verbindung zu Asexualität hergestellt wird. Ob das hilfreich ist, darüber könnte man ebenfalls streiten. Denn bloss, weil man keinen Sex (mehr) innerhalb einer Beziehung haben will, muss man sich noch lange nicht auf einem Asexualitätsspektrum verorten.
Vielleicht würde eine Umfrage mit Nutzer*innen von Gayromeo oder Grindr hier zu lohnende(re)n Erkenntnissen führen …
Etwas mehr Geschichtsbewusstsein würde auf jeden Fall weiterhelfen, auch dem vergleichsweise jungen Bobby Box, der im Instagram-Zeitalter auf den Spuren von White/Silverstein weiterwandeln will.
Laut Grindr-Statistik war Henry Cavill für Nutzer*innen der Dating-App 2023 der «Hottest Man of the Year» (MANNSCHAFT berichtete).
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