Unsterbliche Liebe in der ewigen Stadt: «Nuovo Olimpo» bei Netflix
Ferzan Özpeteks neuer Film handelt von zwei Männern, die sich beim Cruisen in einem römischen Sexkino kennenlernen
Der in Italien lebende und arbeitende türkische Star-Regisseur Ferzan Özpetek hat seinen ersten Film für Streaming-Anbieter Netflix gedreht – über zwei Männer, die sich im Rom der 1970er Jahre in einem Kino beim Cruisen kennenlernen und nach einem intensiven Sexnachmittag ineinander verlieben.
Die Geschichte basiere auf «wahren Begebenheiten», heisst es im Vorspann, man kann ihn also leicht autofiktional lesen, besonders weil das Original-Drehbuch auch von Özpetek stammt.
Nach dem Sex in allen möglichen Positionen (und unter Einsatz von viel Marmelade!) beschliessen die beiden Männer zusammenzubleiben, weil die Verbindung zwischen ihnen etwas Besonderes ist, obwohl solch eine Beziehung in der italienischen Gesellschaft jener Jahre schwierig ist. Jedenfalls dann, wenn man sie offen führen will.
Der eine Mann heisst Pietro (gespielt von Andrea Di Luigi) und studiert Medizin, der andere Enea (Damiano Gavino), ist aufstrebender Regisseur und so etwas wie das Alter Ego von Ferzan Özpetek.
Beide Darsteller sehen unfassbar gut aus und werden von der Kamera so eingefangen, dass man als Zuschauer*in das Gefühl hat, ihnen körperlich komplett nahe zu sein – dazu gehören auch so viele Kameraeinstellungen mit Schwänzen und Schamhaaren, wie sie selbst bei Netflix selten sind.
Politischer Aktivismus statt persönliches Glück Doch statt eines frühen Happy Ends kommt es anders. Denn in Rom toben Demonstrierende durch die Stadt, marxistischer Student*innen, um genau zu sein. Folge: Polizeieinsatz, Tränengas, Verhaftungen. Die Beziehung von Enea und Pietro wird auseinandergerissen, auch von den Mitstudierenden, die finden, dass es wichtiger sei, auf die Strasse zu gehen, als sich zum Rendezvous in der Pizzeria zu verabreden. Politischer Aktivismus wird über persönliches Glück gestellt – und eine schwule Liebe haben auch im Italien der 70er die jungen Marxist*innen und Sozialist*innen nicht sonderlich ernst genommen, geschweige denn unterstützt. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Nach dem abrupten Ende ihrer Beziehung macht der Film mehrere Zeitsprünge, von 1978 nach 1988, wo der aufstrebende Regisseur Ena seinen ersten Spielfilm im Kino vorstellt, in dem er die Liebesszene mit Pietro vom unvergesslichen Marmeladen-Nachmittag eins-zu-eins nachgestellt hat. Es gibt einen Skandal, eine Obszönitätsklage, viel Presseaufmerksamkeit. Und eine Karriere hebt ab.
Der inzwischen als Arzt arbeitende Pietro sieht den Film zusammen mit seiner Frau. Und fragt sich, ob er Enea nochmal kontaktieren sollte, nachdem er all die Jahre nicht wusste, wie er ihn finden könnte. Obwohl er noch mehrmals im Kino Nuovo Olimpo nach ihm gesucht hatte. Nochmal weiter im Jahr 1993 erfährt Pietro, dass Enea nun mit einem Sportler (gespielt von Alvise Rigo) glücklich zusammenlebt – als erster Regisseur Italiens, der ein Coming-out gewagt hat. Auch in den 90ern in Italien nahezu ungeheuerlich provokant!.
Dann kommt noch ein Sprung ins Jahr 2015, wo ein sehr (sehr!) grosser Zufall bzw. Schicksalsschlag die beiden Ex-Liebenden nochmal zusammenführt …
Debüt mit «Hamam – Das türkische Bad» Für alle, die Özpetek als Namen nicht zuordnen können: Er kam selbst 1978 als Korrespondent türkischer Zeitungen nach Rom und studierte dort Filmgeschichte und Regie. 1997 machte er einen Splash mit dem italienischen Film «Hamam – Das türkische Bad», über einen jungen verheirateten Architekten namens Francesco (gespielt von Alessandro Gassman), der nach Istanbul kommt, um ein geerbtes Haus mit benachbartem Dampfbad zu verkaufen. Der sich dort aber in den Sohn seiner Gastfamilie verliebt und von seiner eigenen Ehefrau beim Sex mit diesem überrascht wird, als sie zu Besuch kommt.
Wegen der Darstellung von Geheimnissen in einer italienischen Familie und wegen Superstar Gassman in der Hauptrolle eines Mannes, der zu seinem schwulen Begehren steht und dafür seine Frau verlassen will, löste der Film beim Erscheinen in Italien reichlich Wirbel aus. Ich erinnere mich noch gut daran, als Erasmus-Student in Mailand die volle Wucht dieses Wirbels vor Ort mitbekommen zu haben. Es war ein Erlebnis. Der Film wurde Kult. Und ist es bis heute geblieben. Axel Schock und Manuela Kay würdigen ihn ausführlich in ihrem Buch «Out im Kino: Das lesbisch-schwule Filmlexikon».
Sie schreiben allerdings auch, dass Özpetek zwar in romantischen Bildern schwelge, sich jedoch um eine «Stellungnahme» herummogle, soll heissen, er zeige nicht, was eine solche Beziehung in der islamischen Gesellschaft von Istanbul bedeuten würde, er zeigt auch nur begrenzt, wie die Nachbarn darauf reagieren würden, wenn die Beziehung zwischen Francesco und Mehmet in Italien öffentlich würde.
Das könnte man auf den neuen Netflix-Film übertragen. Dass Enea und Pietro in der Subkultur Roms und in einem Cruising-Kino offen zusammen sein können, mag man noch glauben. Aber dass eine Sexszene wie die, die man hier sieht, in den späten 80ern im italienischen Kino von einem Mainstreampublikum so wohlwollend aufgenommen wird, wie in «Nuovo Olimpo» gezeigt …? Auch die Ehefrau, die irgendwann erahnt, dass ihr Mann eigentlich in jemand anderen verliebt ist, kehrt als Motiv zurück.
Bilderbuchartige Nostalgie Der Unterschied zwischen dem in der damaligen Gegenwart spielenden «Hamam» und «Nuovo Olimpo» ist, dass der neue Film in Nostalgie badet, und dass diese als Rückblick so aufgeräumt und bilderbuchmässig «hübsch» aussieht, wie die wahren 70er und 80er es niemals waren, schon gar nicht in einem angeranzten Cruising-Kino (falls sich noch jemand an solche Lokalitäten erinnert!). Es ist ein bisschen so wie mit Ryan Murphys «Boys in the Band»-Remake von 2020 (MANNSCHAFT berichtete), wenn man das mit dem William-Friedkin-Film von 1970 vergleicht. Einer ist eine authentische Zeitkapsel, der andere: Netflix-erklärt-uns-LGBTIQ-Geschichte-wie-wir-sie-gern-erlebt-hätten-wie-sie-aber-nicht-war. (Um es etwas überspitzt zu formulieren.)
Zum Einsatz kommt bei «Nuovo Olimpo» viel gefühlvolle Musik à la Richard Clayderman, auch ein bisschen Mina (was grossartig ist). Dazu sieht man Männer in Vintage-Klamotten, die sofort OnlyFans zum Zusammensturz bringen würden – besonders, wenn sie die Klamotten ausziehen. Neben Gavino und Di Luigi als Enea und Pietro muss unbedingt auch Fitness-Influencer Alvise Rigo als späterer Lebenspartner von Pietro erwähnt werden. Ricky Martin gehört zu seinen Instagram-Followern. Bei Netflix sieht man seinen Körper auf eine Weise, die bei Insta sofort zensiert würde.
Während die Liebenden in den 70er- und 80er-Jahre-Szenen glaubhaft jung und verliebt rüberkommen, wirkt das Makeup für die gealterte Version ihrer Figuren anfangs etwas befremdlich. Um nicht zu sagen billig. Aber daran gewöhnt man sich bzw. darauf achtet man nicht mehr, weil der Film sich (natürlich) am Ende emotional so zuspitzt, dass derartige Details egal werden.
«Männer al dente» Özpetek hat nach «Hamam» übrigens auch wegweisende und populäre Filme wie «Männer al dente» (2010) gedreht oder «Das Geheimnis von Neapel» (2017), er ist zudem Autor verschiedener erfolgreicher Romane. Und ja, auch er ist einer der wenigen Kinoregisseure in Italien, der von Anfang an unverblümt öffentlich zu seiner Homosexualität stand.
Warum er die Schwierigkeiten, das zu tun, in «Nuovo Olimpo» nur dezent andeutet (wenn überhaupt), statt sie als Thema ins Zentrum der Geschichte zu rücken, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht wollte er nicht von der Lovestory ablenken?
Die erinnert entfernt an den neuen französischen Film «Hör auf zu lügen», wo es auch um eine Liebe zwischen zwei jungen Menschen geht, die von ihren unterschiedlichen Lebenswegen auseinandergerissen werden – und trotzdem ein Leben lang aneinander gebunden bleiben.
Kurz: Der Film ist perfekt für einen romantischen Abend vorm Bildschirm, mit schönen Menschen, schönen Bildern von Rom, Dachterrasse und Kirchenkuppeln inklusive, schwelgerischer Musik und vielen spannenden Fragen. Auch wenn diese nur ansatzweise beantwortet werden.
Im Netflix-Film «Der unsichtbare Faden» wird die turbulente Geschichte von zwei schwulen Vätern und ihrem Teenagersohn erzählt – als Porträt der italienischen Gesellschaft heute (MANNSCHAFT berichtete).
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