Chemsex und eine Frage, die häufiger gestellt werden muss
Eine Konferenz in Berlin macht vor kurzem den Anfang: Jetzt muss die Szene folgen
Das Reden über Chemsex ist schwierig: Es ist peinlich, illegal und manchmal tödlich.
Aber erst wenn wir darüber sprechen, reduzieren wir das Risiko für alle beteiligten. Erste Anfänge dafür werden gerade in den europäischen Grossstädten gemacht. Dazu ein Kommentar*
Im Norden Berlins gab es einmal eine kleine schwule Kneipe, die schon vom Namen her sehr niederländisch klang: «Linda Carrell». Als ob die Gute-Laune-Moderatoren Linda de Mol und Rudi Carrell einen kleinen Safe Space für sich geschaffen haben – mit «Pannekoeken» in allen Variationen natürlich. Der Inhaber, ein lustiger niederländischer schwuler Bär Anfang 40, lud die Gäste gern mal auf einen «Jenever» ein.
Die Kneipe gibt es heute nicht mehr, sie hat während der Pandemie zugemacht. Aber nicht, weil die Mieten zu hoch waren oder die Kunden wegblieben, sondern weil der Inhaber «plötzlich und unerwartet» gestorben ist. Er soll neben seinem Waschbecken gefunden worden sein. Andere aus seinem Umfeld drückten es härter aus: «Er hat schon lange zu viel gefeiert.»
Dass schwules Feiern in Berlin mit Risiko verbunden ist, wissen viele, die häufiger in Clubs gegangen sind – aber gleichzeitig ist genau die Szene, die so gern ausgelassen miteinander feiert, erstaunlich blasé, wenn jemand von ihnen ganz eindeutig Hilfe braucht. Dabei gibt es diese Hilfe in Berlin: zum Beispiel Schwulenberatung, Vista oder die Telefonnummer 116117.
Die Zahlen in Deutschland, Österreich und der Schweiz waren zuletzt alarmierend: Im Jahr 2023 gab es 256 Drogentote in Österreich, 192 in der Schweiz und 2270 in Deutschland – allein in Berlin gab es 271 Tote. Das sind zum Teil Rekordwerte, ausser in der Schweiz, wo die Zahl in den 90er-Jahren noch fast doppelt so hoch war. Aber auch dort ist die Zahl wieder gewachsen seit der Pandemie.
Rund 80 Prozent der Toten sind Männer, und einer der Gründe für den Anstieg könnte auch die offensichtlich erhöhte Verbreitung von Chemsex sein. Über Grindr, Scruff oder Sniffies gelangt jeder ziemlich schnell zu einem «Chill», egal ob Montag um 5 Uhr morgens oder Mittwochs um 14 Uhr mittags. Der Hashtag #chemsfriendly kann entweder schnell zu stundenlangem Kuscheln oder hartem Gruppensex führen.
Zahlen, ab wann es ungesund oder lebensgefährlich wird, gibt es noch wenig, aber Ende März 2025 gab es eine erste Konferenz von deutschsprachigen Experten zu diesem Thema. In Berlin trafen sich 250 Wissenschaftler*innen und Drogenberater*innen, Psycholog*innen, Suchtexpert*innen, Betroffene und Mitarbeitende aus dem Partykontext. Organisiert wurde diese «ChemKon» on der «Bundesinitiative sexualisierter Substanzkonsum» (kurz: BISS) in der Charité, eine Konferenz rund um das Thema Chemsex.
«Wir alle kennen das Glas Wein, um in Stimmung zu kommen.»
Stefan Nagel
Sie sassen also in einem grossen Saal und gleich zu Anfang fragte Stefan Nagel in die Runde, wer denn schon einmal Erfahrung mit «Sex unter Einfluss» hatte. Und weil nur Experten im Raum sassen, die auch wussten, dass Alkohol als Substanz durchaus mitgezählt wird, gingen 250 Arme nach oben. «Ich will meinem Publikum damit die Unschuld nehmen», sagt Nagel. «Wir alle kennen das Glas Wein, um in Stimmung zu kommen.»
Dann zählte er weitere positive Aspekte von Substanzkonsum im sexuellen Kontext auf: Stress und Scham werden schneller abgebaut, Lust wird gesteigert, das eigene Gefühl für den Körper verbessert sich, man findet einen besseren Kontakt mit anderen – und sexuelle Wünsche, die man sich oft nicht traut auszusprechen, können plötzlich erfüllt werden. «Sex und Drogen passen perfekt zueinander», sagt Nagel, «beide sollen sogenannte Ausflüchten aus dem Alltag dar, ergänzen und potenzieren sich wechselseitig.» Auch steht die Gesellschaft beiden Dingen durchaus ambivalent gegenüber.
Mit solchen Sätzen und den Gesprächen der Experten untereinander auf den Gängen wurde zumindest eine der wichtigsten Anfänge gemacht: Das Thema wurde aus einer Schmuddelecke geholt und unter Neon-Licht genau betrachtet. Um dem Thema die Schwere zu nehmen, gab es für alle Glitter-Päckchen in kleinen Plastik-Beuteln verpackt, die sehr szenetypisch aussahen und immer wieder tauchte das Raketen-Emoji auf, das vor allem im Chemsex-Kontext genutzt wird, um «fliegen» anzudeuten.
In weiteren Vorträgen wurde die Rolle von Dating-Apps untersucht, die erhöhte Suizidalität und Anfällig für Psychosen von Chemsex-Praktizierenden untersucht und es wurden Erfahrungen mit unterschiedlichen Therapieformen ausgetauscht. Aus Berlin war dabei zu hören, dass es zwar viele Angebote gebe, diese aber oft eine Abstinenz der Teilnehmer*innen voraussetzen. Die Schweizer Kolleg*innen konnten berichten, dass gerade ihre Konsumreduktions-Angebote sehr angenommen werden. Davon erzählten die Kolleg*innen aus Zürich, andere Städte wollen folgen.
Die Frage «Alles okay bei Dir?» kann in solchen Situationen Leben retten.
Am Rande der Konferenz ging es auch um die Gleichgültigkeit in der Szene, dem Thema gegenüber. Martin Viehweger, einer der Organisatoren der Chemkon, sagte: «Es gibt sehr viel Überstimulation in Berlin bei gleichzeitigem egozentrischem Verhalten – man kann zwar alles machen, aber wenn es schief läuft, bist Du allein.»
Letztlich können auch Expert*innen appellieren, mehr aufeinander zu achten. Dazu gehört es auch, einen Freund anzusprechen, bei dem man das Gefühl hat, es geht ihm nicht gut. Weil er jedes Wochenende mit grossen Augen durch die Clubs läuft. Die Frage «Alles okay bei dir?» kann in solchen Situationen Leben retten. Sie muss viel häufiger gestellt werden.
*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
Brunos muss in Deutschland drei von vier Geschäften dicht machen – was das mit der Porno-Industrie und mit sexpositiven Heteros zu tun hat (Hier geht es zur MANNSCHAFT-Story).
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