Die wahre Geschichte der Darkrooms von Verona
Steffi Irmen glänzt im Solo-Musical «Die Amme» in Berlin
Da haben Peter Plate und Ulf Leo Sommer als neue Intendanten des Theaters des Westens für ihren Star Steffi Irmen den roten Teppich ausgerollt – und ihr eine Solo-Show gegeben, die vor allem ein Best-of-Rosenstolz ist. Über dem am Premierenabend der Geist von Anna R. schwebte.
Seit Wochen kann man in Berlin Plakate sehen, die für «Die Amme» werben, eine Auskopplung der Figur aus «Romeo und Julia – Liebe ist alles», mit der Steffi Irmen als junge Darstellerin einen Mega-Splash gemacht hatte und zu so was wie einem Kultphänomen wurde.
Sie avancierte zur Kerstin Ott des deutschen Musicals und inspirierte Plate und Sommer sogar, sich von Annette Hess das Skript für «Ku’damm 59» umschreiben zu lassen, damit Irmen darin eine grosse lesbische Rolle bekommt (MANNSCHAFT berichtete). Denn Irmen ist – was selten genug vorkommt in der ansonsten eher verklemmten deutschsprachigen Musicalszene – eine unkompliziert offen lesbische Künstlerin, die ihre Ehefrau Kiara Brunken nicht versteckt, sondern im Gegenteil mit ihr über rote Teppiche schreitet und von ihr mit grösstmöglicher Selbstverständlichkeit im Frühstücksfernsehen spricht, Urlaubsfotos auf Instagram teilt und keinen Herzstillstand bekommt, wenn jemand das L-Wort benutzt.
Gängiges Gerücht widerlegt
Auf den «Amme»-Plakaten war zu lesen, es sei «die lustigste Show in der Stadt». Eine Kollegin, die ich bei der Premiere am Donnerstagabend traf und die für ein lesbisches Magazin arbeitet, meinte: diese Ankündigung sei interessant, weil sie das gängige Gerücht widerlegt, Lesben hätten keinen Humor. In dem Sinn könne man das Ganze fast als subversiv und empowernd ansehen.
Power hat Steffi Irmen auf alle Fälle. Denn in dieser One-Woman-Show steht sie zwei Akte lang allein auf der Bühne, und sie erzählt im Quatsch-Comedy-Club-Stil einem nur über Lichtstrahl anwesenden William Shakespeare die wirklich wahre Geschichte der verfeindeten Familien Capulet und Montague, damit er sie aufschreiben und aus der Tragödie ein Stück machen kann.
Balkonszene
Dabei turnt Irmen im ikonischen Ammen-Kostüm (mit Haube) über Tische und Stühle auf einer ansonsten leeren Bühne. Im Hintergrund sieht man die halbrunde Kulisse von «Romeo und Julia»; auf dem Balkon sitzen fünf Musiker*innen und sorgen für einen zwischen Klassik à la Rondo Veneziano und Pop changierenden Sound.
Die Geschichte, die über Monologe erzählt wird, hat sich das queere Autor*innenduo Franziska Kuropka und Lukas Nimscheck ausgedacht, die auch Regie führen. Sie sind Comedy-Schreiber*innen mit eher sanftem Humor – der niemandem weh tun will. Sie interessieren sich nicht wirklich fürs Verona des 15. Jahrhunderts, auch nicht für Shakespeare. Vielmehr wollen sie das historische Setting nutzen, um LGBTIQ-Anliegen von heute abzuhandeln.
Lord und Lady Capulet
Das fängt damit an, dass die Fehde zwischen den Familien Capulet und Montague hier auf einen schwulen Skandal zurückgeführt wird. Denn Vincente Capulet ist verheiratet mit einer lesbischen Frau, die «butch» und zigaretterauchend wenig Interesse an Sex mit ihm hat. Sie lässt ihn gewähren, als er in ihrem gemeinsamen Haus einen Darkroom einrichtet, zu dem regelmässig Herren für Partys eingeladen werden. Einer dieser Herren ist der junge Montague.
Doch als rauskommt, was er mit Lord Capulet treibt, wird er zusammengeschlagen – und stirbt. Seine Familie gibt Capulet die Schuld. Und die Stadtgesellschaft wendet sich gegen Lord und Lady C, weil sie «anders» sind. Was in der «Amme» in den bekannten Song «Vincent» mündet, der nun «Vincente» heisst. Und maximal zündet!
Hier wie anderswo werden bekannte Plate/Sommer-Lieder textlich leicht angepasst, um sich ins neue Narrativ einzufügen. Ein Narrativ, das Irmen mit raumgreifender Persönlichkeit, wechselnden Stimmfarben und Sinn für Slapstick bravourös serviert.
Plädoyer für die Liebe
Natürlich geht es – wie könnte es bei einem Romeo-und-Julia-Spinn-off anders sein – vor allem um Liebe. Und um ein Plädoyer, so lieben zu dürfen, wie man will. Ohne Ausgrenzung. Das wird von Kuropka/Nimscheck angereichert mit nachgespielten Szenen aus dem Shakespeare-Stück. Und für mich war die Balkonszene – von Irmen mit wechselnden Stimmen auf einem Tisch stehend vorgetragen – das poetisch Anrührendste des Abends. Weil sich da hinter der an sich belanglosen Geschichte mit ihrem harmlosen Humor eine Dimension auftat, die über sich hinaus verwies.
Das war bei «Vincente» auch der Fall. Und ich fragte mich, wieso man einer so faszinierenden Bühnenpersönlichkeit wie Steffi Irmen nicht etwas Modernes gegönnt hat, mit der gleichen wunderbaren Musik, um all diese Themen abzuhandeln? Statt immer in diesem pseudohistorischen Amme-Kostüm herumzurennen. Denn dann wären die Ausführungen zu Darkrooms, Hassgewalt und verbotener Liebe sicher sehr viel intensiver gewesen. Vielleicht kommt das ja noch mal …
Klassiker zum Mitklatschen
Das Publikum reagierte auf die recycelten Lieder (und auf die wenigen neuen Originalkompositionen) enthusiastisch und klatschte bei Klassikern frenetisch zum Refrain mit. Und besonders in den ruhigeren Momenten kam man als Zuhörer*in nicht umhin, die Stimme von Anna R. mitzuhören. Vorm Theater des Westens brennen für sie immer noch die Kerzen und liegen Blumen. Als Plate und Sommer zum Schlussapplaus auf die Bühne kamen, sagten beide sichtlich bewegt, dass dieser Abend «natürlich für Anna» sei. Die Erinnerung an sie schwebte über allem. Aber Steffi Irmen liess sich davon nicht erdrücken. Sie betonte, was für eine unglaubliche Ehre es für sie sei, diese Lieder interpretieren zu dürfen – und tat es dann auf ihre ganz eigene Art, die nicht versucht, irgendjemanden nachzumachen.
Nachhören kann man all das nun auf CD, denn das «Amme»-Cast-Album erscheint am Tag nach der Premiere offiziell mit zwölf Tracks, von «Guten Tag, liebes Glück» über «Hormone», «Hallo Julia», «Ich will nur sie» bis zu «Mädchen auf dem Pferd» und «Lass sie reden». Arrangiert wurde sie Musik für Musicalzwecke von Joshua Lange.
3000 Watt Strahlkraft
Dass ein*e Musicaldarsteller*in eine Solo-Show bekommt, ist selbst am Broadway ungewöhnlich, im deutschsprachigen Raum fast unerhört. So werden nur die Grössten geehrt (die genug Anziehungskraft haben, um genug Publikum anzulocken). Steffi Irmen hat sich aus dem Pool der ansonsten eher anonymen hiesigen Musicalcommunity ins Spotlight katapultiert. Und glänzt im Scheinwerferlicht mit einer Tour de Force, die nie langweilig wird oder durchhängt, sondern mit 3000-Watt-Strahlkraft bis zur Finish Line rast.
Das Premierenpublikum zeigte sich enthusiastisch, auch die prominent vertretene (erweiterte) LGBTIQ-Fraktion. «Wie sie alleine den ganzen Abend und die Musik trägt, echt verrückt», sagte Lars Eidinger zu Journalist*innen. Bambi Mercury ergänzt: «Ich find’s grossartig und fantastisch, wie eine Person eine komplette Bühne ausfüllt.»
«Haube ab!»
Gloria Viagra schwärmt: «Es ist eine Person, die allein das Theater unterhält – in verschiedenen Stimmlagen, in verschiedenen Rollen. Ich bin überwältigt. Hut ab, oder besser: Haube ab!» Und Sven Lehmann fügt hinzu: «Steffi Irmen ist absolut grossartig, ein Phänomen. Und gerade die Hommage an Rosenstolz bewirkt bei mir eine absolute Gänsehaut.»
Der Gänsehautmoment war besonders intensiv, als sich alle mit Blumen in den Armen lagen und Anna R. gedachten. Er stellt sich beim Verlassen des Theaters automatisch nochmal ein, wenn man an dem überlebensgrossen Anna-R-Bild und den brennenden Kerzen auf der Kantstrasse vorbeikommt. Und mit der Rosenstolz-Musik im Kopf in die Nacht entlassen wird.
Wann kommt der Anruf von Barrie Kosky?
«Die Amme» läuft zum Premierenwochenende von Donnerstag bis Sonntag, danach immer freitags, zwischen den «Romeo und Julia»-Aufführungen (ebenfalls mit Steffi Irmen), die ab nächste Woche wieder anstehen bzw. zwischen den nächsten Produktionen, die folgen werden bis Ende 2025.
Nach diesem Knock-out-Auftritt als Solo-Amme ist es eigentlich allerhöchste Zeit, dass Steffi Irmen eine Musicalhauptrolle bekommt – entweder schreiben Plate und Sommer eine für sie, zusammen mit Annette Hess, oder jemand anderes engagiert Irmen vom Fleck weg. Vielleicht klingelt ja Barrie Kosky mal an, für seine nächste Produktion an der Komischen Oper Berlin, gern mit Lesben-mit-Humor-Schwerpunkt als Erweiterung von Koskys bisherigem Entertainment-Spektrum.
Das «Tuntenhaus» ist das älteste queere Wohnprojekt Berlins. Nach dem Verkauf der Immobilie kämpfen die Bewohner*innen nun um ihr Zuhause. Hier erzählen sie, was ihnen das Haus bedeutet (zur MANNSCHAFT-Story).
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