«Jede Erektion hat im Kontext des Films ihren Sinn»
Tim Lienhards Doku «Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria» kommt im April ins Kino
Der Fernsehjournalist Tim Lienhard war viel für Arte unterwegs und lieferte Features über LGBTIQ-Ikonen wie u.a. Quentin Crisp. 2013 kam sein erster Kinofilm raus. Jetzt ist er mit einem neuen Werk am Start.
Darin hat er sich auf sexpositive Weise mit dem Leben schwuler Männer auf Gran Canaria beschäftigt, besonders ältere Männer stehen im Fokus, die auf der Insel Freiheit suchen. Premiere ist am 10. April im Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz. Es folgen ebendort zwei weitere Vorstellungen am 15. und 17. April.
MANNSCHAFT sprach mit dem Filmemacher über sein neuestes Werk – und über die Erektionen, die er als Ausdruck von Lebensfreude darin zeigt, in neoprüden Zeiten wie diesen.
Im April kommt dein Film «Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria» ins Kino. Was hat dich bewegt, einen solchen Film zu drehen … Jahrzehnte nach den legendären Gran-Canaria-Storys von Ralf König? Gibt’s noch was Neues zu erzählen?
Mein Film ist kein Comic und auch kein Buch, sondern ein Dokumentarfilm, wie er für mich ganz typisch ist. Ich habe grosses Interesse daran, etwas zu machen, was andere nicht machen! Deswegen sind alle meine Filme («One Zero One – The Story of Cybersissy & BayBJane» und «Character One: Susan») hybride Werke. Gegen Konventionen und so wie man die nicht auf Filmhochschulen lernt, also gar nicht formatiert. «Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria» ist mein persönlichster Film. Dies nicht allein, weil ich mich hier selbst zum Thema mache, sondern auch, weil ich noch nie so radikal offen und ehrlich war wie in diesem provokanten Film.
Ich beschreibe zum einen meine Lust, als alter, weiser Mann mit 64 in Drag Party zu machen und zum anderen begegne ich in diesem 82-minütigen Dokumentarfilm gleichaltrigen Crossdressern und schwulen Männern, die regelmässig nach Gran Canaria fahren, um dort das zu erleben, was auch ich auf der Insel erleben kann: grosse Freiheit!
Neu an meiner Erzählung dürfte mein Selbstbewusstsein sein, mich als alter Mann gemeinsam mit hübschen jungen Männern in die hedonistische Partyszene zu begeben. Neu und überraschend dürfte auch sein, dass ich Exhibitionismus und Scham, Alter und meine sehr spezielle Art, einer grotesk sexualisierten Drag zum Thema mache.
Für viele Menschen ist Gran Canaria ein Sehnsuchtsort, der Sonne, Strand und Sex verspricht. Auch Drogen. Wieso funktioniert das alles ausgerechnet dort – aber nicht in queeren Hotspots wie Berlin, Amsterdam, London oder Paris? Sind die Spanier allgemein toleranter gegenüber LGBTIQ oder nur auf dieser Insel?
Erfahrungen in Spanien sind grossartig. Die Toleranz der Spanier führe ich auf ihre jahrzehntelange Erfahrung von Repression unter der Diktatur von General Franco zurück. Erst 1977 atmete das Land auf und wählte sein erstes demokratisches Parlament. Ich glaube, von diesem Freiheitswillen, der unbedingt mit Toleranz gekoppelt ist, haben sich die Spanier glücklicherweise noch sehr viel bewahrt. Umso besser für uns Touristen. Noch besser für uns queere Touristen. Spanien wurde gerade zum top queerfreundlichen Reiseziel ernannt! Nicht ohne Grund. In Berlin insbesondere fühle ich mich im öffentlichen Raum als sichtbar queere Person und in Drag seit gut einem Jahr nicht mehr sicher. Ich habe in Drag Gewalterfahrungen gemacht und werde in Drag zunehmend von Taxifahrern auf der Strasse stehen gelassen.
Ist Gran Canaria das «bessere Berlin», wie die Berliner Zeitung kürzlich schrieb? Gibt’s da auch Dinge wie Berghain oder KitKat Club mit entsprechender Fetisch- und Darkroom-Kultur zu Techno-Beats?
Die Berliner Clubszene ist nicht zu toppen! Sie ist einzigartig und von mir sehr geschätzt. Aber eben als Safe Space in den entsprechenden Clubs. Nur der Weg dorthin ist sehr beschwerlich in Berlin. Auf Gran Canaria gibt es insbesondere im grossen Yumbo Center in Maspalomas eine unfassbar dichte Ansammlung von queeren Clubs und Lokalen. Ja, es gibt dort auch Darkrooms und Techno Beats.
Die schwule Szene ist weltweit sexpositiv. Die Rahmenbedingungen sind aber durchaus sehr verschieden. Gerade zurzeit gibt es bedrohliche Entwicklungen, die dieses Safe Spaces und Sex Spaces gefährden. Umso selbstbewusster sollten wir, die wir uns dort verantwortungsvoll treffen wollen, diese schützen.
«Gerade zurzeit gibt es bedrohliche Entwicklungen, die dieses Safe Spaces und Sex Spaces gefährden»
Tim Lienhard, Filmemacher
Wie du schon sagtest: Dein Film ist auch Selbstporträt von dir. Warum ist es dir wichtig, Privates öffentlich zu machen? Du hast ja bereits 2023 Teile der Tagebücher öffentlich gemacht ... Bist du Exhibitionist?
Ja, ganz offensichtlich habe ich exhibitionistische Neigungen. Diese lebe ich aber nicht damit aus, dass ich nur mit einem Mantel bekleidet Passanten mit meiner Nacktheit erschrecke, ein typisches, übles Klischee von Exhibitionisten, sondern ich öffne mich als Person. Das Private öffentlich machen, ist hochpolitisch. Als ich mich mit Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz während des CSD-Wochenendes in Berlin in Drag fotografieren wollte, lehnte Olaf Scholz meine Bitte ab. Er habe Sorge gehabt, dass dies Foto in einen falschen Kontext geraten könne. Das fand ich beschämend. Allein diese Erfahrung zeigt, wie politisch Sichtbarmachung von Queerem ist, und zwar abseits von Parteiprogrammen und Parteipolitik. Ich zeige nicht nur mein Geschlecht, was in Drag geradezu subversiv ist und mit grosser Lust mit Doppeldeutigkeit spielt, ich stelle Ambivalenz aus, wenn ich meinen männlichen Körper ausstelle, der zugleich mit Polyesterhalbkugeln Attribute von Weiblichkeit präsentiert.
Ich erzähle auch von mir in dem von dir erwähnten Buch, das ich 2023 publiziert habe («Paradiesfrüchte – 100 Texte aus meinen 500 Tagebüchern»). Mein Exhibitionismus ist mutig, denn ich gebe mir nicht allein eine körperliche Blösse, sondern öffne mich auch in meinem Umgang mit Herkunft, Moral, Verletzbarkeit und Ehrlichkeit.
Eine Kollegin erzählte mir, sie sei geschockt gewesen von deiner Darstellung des Jugendwahns älterer schwuler Männer auf Gran Canaria. Wieso wolltest du das so schonungslos in Szene setzen? Und wie vertragen sich eigentlich die Generationen auf Gran Canaria?
Wenn sich ein 20-jähriges Mädchen botoxt, würde das deine Kollegin auch Jugendwahn nennen? Wenn sich eine 30-Jährige Brustimplantate einsetzen lässt, ist dann der Begriff Jugendwahn angemessen? Mir gefällt dieser Begriff nicht und schon gar nicht im Zusammenhang mit älteren Schwulen. Er bedient lediglich ein abgedroschenes Klischee. Wir wollen alle gut aussehen. Wir glauben alle, dass wir am besten in der Jugend aussehen. Mein Film könnte das Gegenteil beweisen: Ich finde mich mit 64 in Drag ausgesprochen attraktiv. Ich bin schlecht geschminkt und dennoch von einnehmender, positiver Ausstrahlung. Ich bin lieber schlecht geschminkt und gut gelaunt als perfekt zurecht getrimmt und mies drauf.
Meine beiden 23-jährigen Assistenten im Film, Jonas Lawitzke und Enrico Wohlfahrt, zwei ausgesprochen hübsche junge Männer, habe ich ganz bewusst mit vor die Kamera geholt, um ihre Perspektive auf die Insel zum Ausdruck bringen zu können. Natürlich gibt es da ein Gefälle wie überall auf der Welt: die Alten verdrehen sich den Kopf nach den Jungen. Aber nach mir, der ich mit 64 tatsächlich alt bin, verdrehen sich auch sehr viele den Kopf. Das Besondere an Gran Canaria ist aus meiner Sicht genau diese Aufhebung der Grenzen zwischen Jugend und Alter. Im Yumbo Center, genau wie am Beach, mischen sich alle Generationen.
«Ich nenne das aber nicht Jugendwahn, sondern Lebenslust und Huldigung von Schönheit»
Tim Lienhard, Filmemacher
Ein Protagonist des Filmes, der Anfang 50 ist, berichtet davon, dass er noch nie so gefragt war von ganz jungen Männern, wie jetzt, wo er älter geworden ist. Ja, günstigstenfalls motiviert mein Film, im Alter nicht aufzugeben, wenn vermeintlich nichts mehr geht. Denn es geht noch ganz viel. Ich nenne das aber nicht Jugendwahn, sondern Lebenslust und Huldigung von Schönheit.
Ein zentraler Ort im Film ist das Yumbo Center, mit queere Bars und Discos sowie einer Moschee. Und einem Wiener Kaffeehaus. Alles sieht aus wie ein 70er-Jahre Betonbau aus dem Märkischen Viertel in Berlin. Was macht diese Monstrosität so besonders? Und wieso wollen Gran-Canaria-Schwule nachmittags unbedingt Kaffee und Torte, nach dem Fick in den Dünen? (Kontrastprogramm der Biederkeit?)
In den Dünen lassen sich Torten nicht genussvoll essen. Da weht zu viel Sand. Deswegen müssen Torten und Kaffee im Yumbo Center eingenommen werden. Ob vor oder nach dem Fick in den Dünen oder anderswo. Das bedingt sich aber nicht zwingend gegenseitig! Die Monstrosität des Yumbo Centers löst sich auf in der Lebensfreude und Partylaune, die sich hier allabendlich vermittelt. Ich bin ein grosser Fan gewesen von Ibiza, war jahrelang in den Sommern dort. Aber da trifft man fast nur noch reiche, eingebildete, bornierte und verspannte, getunte Menschen an. Schwule eh kaum mehr. Auf Gran Canaria ist alles entschieden entspannter, demokratischer, wirklich gleichberechtigter. Das ermöglicht auch die heruntergekommene, teilweise verrottete Architektur.
Wer die neueste Architektur aus den edelsten Materialien und mit den elegantesten Interieurs sucht, muss nach Dubai gehen. Da allerdings wird er nicht einen Hauch von Freiheit erleben wie auf Gran Canaria, wenn er queer ist. Das Morbide, in die Jahre Gekommene der Gebäude, insbesondere des Yumbo Centers in Maspalomas, dürfte die meisten Besucher daran erinnern woher sie kommen. Wer kommt schon aus Hochglanzambientes?
«Das in die Jahre Gekommene der Gebäude, insbesondere des Yumbo Centers, dürfte die meisten Besucher daran erinnern woher sie kommen»
Tim Lienhard, Filmemacher
Im Film sieht man etliche Erektionen, die zu zeigen auf Plattformen wie Facebook und Instagram sofort zu Abstrafaktionen führen würde. Warum wolltest du in unseren neoprüden Zeiten unbedingt harte Schwänze zeigen? (Gehört das Zelebrieren von Erektionen zu einer «richtigen» Gay Culture dazu?)
Ich habe meinen Film nicht gemacht, um Erektionen zu zeigen, die findet man online zuhauf! Ich habe meinen Film auch nicht für Facebook gemacht, sondern trotzdem und vor allem für die grosse Leinwand. Auf Instagram wimmelt es von Erektionen und Lockrufen zu kommerziellen Portalen voller Erektionen! Allerdings ganz Instagram typisch als totaler Fake und verlogene Augenwischerei. Im Kontext dessen, was ich im Film erzähle, macht jede Erektion ihren Sinn. Da ich in meinem Film über eine sexpositive Szene spreche, finde ich es mehr als ehrlich statt Porno inszenierte Erektionen zu zeigen. Mein Film besticht gerade durch diese Ehrlichkeit und Offenheit, da er ein Plädoyer für Freiheit ist. In Zeiten, in denen (wie gerade vom ungarischen Parlament beschlossen) Pride-Paraden nicht mehr genehmigt werden. Eine bedrohliche Entwicklung! (MANNSCHAFT berichtete.)
Bei allem Respekt, dass für den ein oder anderen Erektionen eine Bedrohung sein könnten, sind sie definitiv Ausdruck von Lust und nicht von Frust, von möglicher Fruchtbarkeit und damit auch von Kreativität. Ganz abgesehen davon finde ich jeden nackten Schwanz in meinem Film äusserst ästhetisch. Ich habe das Glück, dass ich noch nie Angst haben musste vor Schwänzen!
In einem Interview hast du gesagt, dein Film sei «fern von jeder woken Ideologisierung und Moralisierung». Was meinst du damit? Und welchen Einfluss siehst du in Ideologisierung und Moralisierung auf Gay Culture vs. Queer Community?
Wachsam sein gegen Diskriminierung ist eine positive Definition von «woke». Da gehe ich 100 Prozent mit. Wenn diese Wachsamkeit und Aufforderung zur Rücksichtnahme aber zum rigiden, moralischen Imperativ wird und diejenigen, die diesen Imperativ ausrufen für sich beanspruchen, was Moral ist, halte ich dagegen! Wokeness, die selbst diskriminierend wirkt, indem sie individuelle Freiheiten einschränkt und aus moralischen Gründen abstraft, ist für mich eine dumme Karikatur dessen, was sie eigentlich sein will.
Wer für sich Freiheiten beansprucht, sollte anderen auch ihre Freiheit zugestehen. Moralisierung im Sinne von Abstrafung anderer Gesinnungen, ist in Wirklichkeit unmoralisch. Ich bin ein entschiedener Verfechter von Freiheit mit kultivierter Eigenverantwortung. Vielleicht ist mein Film ein Zeugnis genau dieser Haltung.
Im April wird dein Film dreimal in Berlin im Kino gezeigt. Wo kann man ihn sonst sehen? Und wird er auch als Doku im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kommen? Ist man da inzwischen so weit … wo doch jetzt sogar das ZDF das Leben von Olivia Jones zu einem Eventfilm machen will (MANNSCHAFT berichtete)?
Olivia, Jones in Ehren! Aber mich wundert selbstverständlich nicht, dass sich das ZDF offenbar auf sie als gemeinsamen Drag-Nenner einigen kann. Die öffentlich-rechtlichen Programme liefern weichgespülte, möglichst massenkompatible Programme. Mein Film dagegen ist eine bittersüsse Frucht aus einem Garten der Lüste. Ihn muss man aufspüren und pflücken, es wird ihn nicht frei Haus geben.
Ich rechne mit weiteren Einladungen zu queeren Filmfestivals. Bisher wurden mehrere Einladungen ausgesprochen. Updates gibt es auf meiner Webseite und in den sozialen Medien.
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