Die Geschichte der schwulen Sexualität – neu zugänglich gemacht
Plötzlich tauchen lang vergessene Pornofilme auf Tube- und X-Kanälen wieder auf
Erstmals seit Jahrzehnten findet man im Internet wieder Szenen aus schwulen Vintage-Pornos, die als verschollen galten. Sie laden zu einer Zeitreise ein und einer Diskussion darüber, wie frühere Generationen sich «idealen» Sex als Utopie vorstellten.
Anfangs schien es wie Zufall – diese Retro-Pornos, die vereinzelt auf X-Kanälen (vormals Twitter) kursierten, meist in schlechter Bildqualität, oft nur in kurzen Szenen. Dem interessierten Zuschauenden konnte schnell klar werden, dass da Filme in Ausschnitten zu sehen waren, die man seit Ewigkeiten nirgends finden konnte, ausser vielleicht als Titel in der International Movie Data Base oder in Büchern wie Jeffrey Escoffiers «Bigger than Life: The History of Gay Porn Cinema from Beefcake to Hardcore» (2009), wenn man Glück hatte als Einzelfoto der Stars in bebilderten Pornogeschichten oder in Ausstellungen. Aber ganz sicher nicht in irgendwelchen Filmarchiven oder kommerziell verfügbar als DVD.
Denn Porno ist immer auf der Spur der neuesten Trends – Körper, Gesichter, Schwänze, Positionen, Sexpraktiken, Themen –, da ist für Rückblick wenig Zeit. Zumindest schien das bis vor kurzem so. Doch dann wuchs der Hunger nach «Material» derart stark an, mit dem Tube-Seiten und X-Kanäle bespielt und befüllt werden müssen, dass erfinderische Content-Kreatoren irgendwo/irgendwie altes bis sehr altes Material entdeckten, bei dem die Copyright-Frage nicht eindeutig geklärt ist, weil viele Firmen aus den 1960ern und 70ern schon lange nicht mehr existieren, die Rechtsnachfolge undeutlich ist und die einstmals verantwortlichen Produzenten, Regisseure und Darsteller entweder tot sind oder heute unter ihren «richtigen» Namen irgendwo zurückgezogen leben.
Ohne Bezahlschranke und Preisschild Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Gerichtsprozess starten, um ihr Material zu schützen, ist also extrem gering. Und die wenigen Firmen, die solches Material halbwegs restauriert auf Bezahlseiten wie Bijou Video als Stream angeboten hatten, konnten nicht verhindern, dass ihre «Bijou Classics» heruntergeladen wurden – und dann neu in Umlauf kamen, diesmal ohne Bezahlschranke bzw. Preisschild.
Und so tauchen also nun nach und nach immer mehr Szenen aus der Zeit auf, als schwule Pornografie überging von kurzen Super-8-Filmen, die per Post verschickt wurden und die man meist allein zuhause (und heimlich) in seiner Wohnung schaute, überzugehen in Titel in Spielfilmlänge und mit Handlung (ganz wichtig!), die man gemeinsam mit anderen in Kino schaute. Eine Tradition, die u.a. die Netflix-Serie «Nuovo Olimpo» aufgreift und nachstellt (MANNSCHAFT berichtete).
Einige berühmte Filmbeispiele haben Einzelaktivisten in den USA schon vor längerer Zeit restauriert, etwas Wakefield Pooles «Boys in the Sand» (1971), der erste Porno, der jemals in der New York Times beworben und rezensiert wurde (MANNSCHAFT berichtete über den Tod von Poole).
In Kellern und Lagerhäusern Aber vieles, was jetzt kursiert, war seit damals kaum zugänglich. Schlummerte in irgendwelchen Kellern und Lagerhäusern, teils auch in Privatbesitz. Manches ging – nach dem Tod der Sammler – an Institutionen wie das One Archive in Kalifornien oder ans Schwule Museum Berlin (SMU). In Berlin lagern tausende von DVD-Kassetten und Super-8-Filme, die bei der Wohnungsauflösung von Verstorbenen gefunden und dem SMU von Freund*innen übergeben wurden.
In alten Ausgaben der Zeitschrift The Advocate (ebenfalls im SMU archiviert) findet man viele Anzeigen, die auf neueste Filme aus den frühen 1970ern hinweisen. Teils gab es auch Besprechungen und kritische Einordnungen dieser Filme in The Advocate. (Bevor Hardcore-Sex aus dem Blatt verbannt wurde, wegen der Anzeigenkund*innen.) Man fragt sich beim Lesen natürlich, wie diese Filme wohl aussahen, die als James-Bond-Parodien oder als Western charakterisiert wurden. Wie gesagt, es war lange unmöglich von diesen Titeln irgendetwas in Bewegtbild zu finden.
Nichts als Anekdoten und Fotos Ganz ab und an tauchten Ausschnitte jener Filme in neueren Dokumentarfilmen auf, die vor allem junge US-amerikanische Filmemacher schufen, wenn sie Zugang zu Einzelpersonen hatten, die einst Regisseure, Produzenten oder Darsteller waren. Wobei diese vielfach selbst kein Material aufbewahrt haben, wie ich im Kontext meines «Porn»-Buchs feststellte. Man musste schon froh sein, wenn man Anekdoten und Fotos bekam. Offensichtlich waren Pornos für viele nichts, was als aufbewahrenswert angesehen wurde. Oder als kulturell wichtig (MANNSCHAFT berichtete über die neusten Vorlieben auf Pornhub).
Nun also die Zeitenwende? Wie es scheint ja, denn selbst ein Film wie «Erotikus: A History of the Gay Movie» aus dem Jahr 1973 – in dem Ton DeSimone damals den Übergang von Super 8 zu einer neuen Kino-Ära beschrieb und viel historisches Material verwendete – ist heute online (kostenlos) abrufbar. Ironischerweise sogar auf russischen Seiten wie ok.ru, wo man allerdings einen Weg finden muss, an der Startseite vorbeizukommen. Scheinbar haben Putins Jagdhunde dieses LGBTIQ-Outlet noch nicht entdeckt.
In «Erotikus» tritt der berühmte Darsteller und Regisseur Fred Halsted als Erzähler auf, der mit nacktem Oberkörper und imposanten Koteletten durch die Historie führt. Er verweist darauf, dass der allererste Film mit einem «Cum Shot» (also einer Abspritzszene) der als wissenschaftliche Doku verpackte Streifen «One: A Study of the Teenage Masturbation Syndrome» aus dem Jahr 1969 ist, auch von Tom DeSimone gedreht.
Da sieht man nacheinander eine Reihe Jungs bei der Selbstbefriedigung. Das überraschende ist: im Soundtrack dazu hört man Ravels «Bolero» als sich ständig steigernde Orgasmusmusik. Heute wird viel gerätselt, ob Maurice Ravel schwul oder vielleicht asexuell gewesen sein könnte, weil nichts über Beziehungen zu Frauen bekannt ist. Egal wie da die Antwort ausfällt: Ravel ist Teil der schwulen Pornogeschichte.
«Zehn – Die Traumfrau» Und die Verwendung des «Bolero», um einen perfekten Orgasmus zu untermalen, erlebt man bei DeSimone ein volles Jahrzehnt bevor Regisseur Blake Edwards das gleiche Musikstück für den exakt gleichen Zweck in seinem Film «Zehn – Die Traumfrau» für die Szene mit Bo Derek und Dudley Moore nutzte. (Es ist interessant zu spekulieren, ob Edwards «One» bzw. DeSimone kannte, Letzterer machte immerhin nach seinen Pornoanfängen eine bedeutende Hollywoodkarriere mit Horrorfilmen.)
Ich muss gestehen, dass diese spezielle «Bolero»-Entdeckung mich als Musikwissenschaftler besonders beeindruckt hat. Denn: Natürlich wurde so etwas in meinem Studium an der Freien Universität Berlin niemals diskutiert, und in aktuellen Artikeln zum 150 Geburtstag Ravels kommt es auch nirgends vor. Nicht einmal in LGBTIQ-Medien.
Zu «Freiwild» erklärt Der X-Kanal PacoJonesFL1 ist einer von vielen, wo immer wieder Szenen aus diesen alten Filmen auftauchen und dann sofort von allen möglichen anderen Kanälen geteilt und weiterverbreitet werden. Sexfluencer Charlie Cherry hatte im MANNSCHAFT-Interview kürzlich erklärt, dass das Stehlen von Content, um damit eigene Kanäle zu füttern, ein zentrales Problem der aktuellen Pornoszene sei, weil es sich für viele Darsteller*innen und Firmen nicht mehr lohnt, aufwändig zu produzieren (zum Beispiel für Onlyfans), wenn Inhalte sofort zu «Freiwild» erklärt werden und im Internet niemand den vielfach anonymen Accounts Grenzen setzt, sicherlich nicht Elon Musk. Der aber, im Gegensatz zu Marc Zuckerbergs Meta Sex auf seiner Social-Media-Plattform zulässt.
Im Gespräch mit MANNSCHAFT sagte der Regisseur und Produzent Lucas Kazan, dass er es zwar auch begrüsse, dass momentan so viel historisches Material erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder in Umlauf gebracht wird. Aber: Zu oft würden die längeren Filme brutal zerstückelt, um daraus X-kompatible Miniszenen zu machen, so Kazan. Die Bildqualität sei zudem schockierend schlecht, weil sich niemand die Mühe mache, das Quellenmaterial zu restaurieren oder zu optimieren. Entsprechend gäben die Clips, die nun zugänglich sind, nur eine Ahnung von dem, was die Originalfilme einmal waren.
Aber, man könnte sagen: Zumindest ist ein Anfang gemacht. Und viele jüngere Queers, für die ein Porno aus den frühen 2000er Jahren bereits steinzeitlich ist, entdecken, dass die LGBTIQ-Sexfilmgeschichte viel weiter zurückrecht und es vor allem zwischen den berühmten Beefcake-Szenen aus den 50ern (die dank Stiftungen wie der Bob Mizer Foundation gut aufgearbeitet sind) und dem Pornoboom der 80er viel zu entdecken gibt.
Da passt es gut, dass das Pornfilmfestival Berlin dieses Jahr einen Schwerpunkt setzt und sich mit «Geschichte» beschäftigt. Unter anderem kann man die neue (fantastische!) Doku «Velvet Vision» des US-Regisseurs Bart Everly sehen, ein Porträt des Pornovisionärs James Bidgood, der zwischen 1964 und 1970 in seinem Wohnzimmer in Manhattan «Pink Narcissus» als Reihe surrealer Sequenzen drehte mit seinem damaligen Lover Bobby Kendall.
Wegweisende Kitschkunst Bidgood schuf eine Ästhetik, die bis heute in den Werken von schwulen Kitsch-Künstlern wie Pierre et Gilles weiterlebt. Du er schuf Gay History, wie der bekannte Kunsthistoriker Jonathan D. Katz betont, aber auch Filmemacher John Waters. Beide zählen zu den Promis, die in «Velvet Vision» zu Wort kommen.
Nguyen Tan Hoang untersucht derweil in «Eavesdropping on Jason Sato’s Brothers» die Unsichtbarkeit asiatischer Männer im Mainstreamporno und analysiert das Beispiel des US-japanischen Regisseurs James Sato, der Anfang der 1970er den skandalösen «Inzest»-Film «Brothers» drehte. (Man sieht hier, dass viele heute neuerlich aktuelle Themen – wie Inzest – schon damals ausgeschlachtet wurden als Tabuthema, das viele erregte.) In «Brothers» wird ein junger Soldat nach Vietnam geschickt und stirbt dort, während er kurz vor der Abreise eine Nacht mit seinem Brüder verbrachte, der am Ende weinend am Massengrab der gefallenen Soldaten steht. Ein verstörende und zugleich tief bewegende Szene. (Dieser Film ist in voller Länger auf Seiten wie z.B. GayMaleTube zu finden.)
Mit all diesen neuen Dokus wird eine Tradition fortgesetzt, die mit Filmen wie «Seed Money: The Chuck Holmes Story» (2015) oder «Wrangler – Das Leben einer Legende» (2008) bzw. «Ich habe immer Ja gesagt: Die vielen Leben des Wakefield Poole» (2012) ins Rollengebracht wurde.
Keine «Freakshow» Während hier im Bereich der schwulen Geschichte viel aufgearbeitet wird, sieht es bei lesbischem und feministischem Porno deutlich anders aus. Dieser startete eigentlich erst in den 1980er Jahren in San Francisco. Pornografie aus dem trans Bereich – wo trans Menschen nicht als «Freakshow» vorgeführt werden, sondern selbstbestimmt entscheiden können, in was für Formen von Sex zu partizipieren wollen – gibt es sogar seit noch kürzerer Zeit. Aufarbeitung in Form von Dokus ist hier so gut wie nicht existent. Vielleicht braucht es da einfach mehr zeitlichen Abstand?
Auf alle Fälle bietet die neue kostenlos zugängliche Vielfalt an historischen Filmen auf Pornoportalen und auf X die Chance, eine einzigartige Zeitreise in die schwule Vergangenheit zu unternehmen und andere Körperideale und Formen des sexuellen Umgangs zu bestaunen. Sie zeigen unter Schlagworten wie «From Grandpa’s Closet», dass wir – als Gay Community – einen wirklich weiten Weg zurückgelegt haben.
Dass viele der einstigen «jungen Wilden» rückblickend nochmals ihre Geschichten von damals in Dokumentarfilmen erzählen, ist eine wichtige Form von Oral History. Bei der US-Amerikaner*innen Filmemacher*innen aus dem deutschen Sprachraum leider Lichtjahre voraus sind, auch wenn Regisseure wie Jochen Hick mit seinen «Cycles of Porn» da wichtige Impulse gegeben haben.
Auf alle Fälle tut sich gerade viel - und Institutionen wie das Pornfilmfestival Berlin bringen viel davon auch zu uns. Die nächste Ausgabe startet am 21. Oktober (mehr Details hier).
Lil Nas X hat sich in Interviews als «Power Bottom» beschrieben und wie etliche andere Prominente über die Lust gesprochen, penetriert zu werden (MANNSCHAFT berichtete).
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