Schwul und konservativ: Wie passt das zusammen?
Schwule Rechte, rechte Schwule
Obwohl die LGBTIQ-Community oft mit linken Bewegungen assoziiert wird, zeigen Umfragen und Studien: Ein Teil schwuler Männer fühlt sich von konservativen oder gar rechtspopulistischen Parteien angezogen. Was steckt dahinter – politische Überzeugung, Abgrenzung, persönliche Prägung?
In einer kürzlich veröffentlichten Online-Umfrage auf der schwulen Datingplattform Romeo erklärte die Mehrheit der Befragten, sie würden bei der nächsten Wahl die AfD wählen (MANNSCHAFT berichtete).
Die Zahlen gingen schnell viral, obwohl sie bei weitem nicht repräsentativ waren. Trotzdem werfen sie eine wichtige Frage auf: Warum gibt es in der queeren Community – die doch oft mit progressiven, linken Bewegungen assoziiert wird – Männer, die konservative oder gar rechtspopulistische Parteien unterstützen?
Um den Antworten auf die Fragestellung dieses Textes auf die Spur zu kommen, geben der Kulturanthropologe Patrick Wielowiejski, der Psychologe Tim Wiesendanger und ein konservativ wählender schwuler Mann namens Andreas* gesprochen. Ihre Antworten werfen ein komplexes Licht auf Identität und Zugehörigkeit.
Wielowiejski hat seine Dissertation über schwule Männer in der AfD geschrieben und mehrere Jahre lang über sogenannte «Alternativen Homosexuelle» geforscht – eine lose Gruppierung von AfD-nahen Schwulen. Die besagte Romeo-Umfrage kennt er gut. «Diese Erhebungen sind methodisch gesehen völliger Quatsch», sagt er.
«Diese Erhebungen sind methodisch gesehen völliger Quatsch. Die Teilnehmenden können mehrfach teilnehmen und der Link ist teilbar. Das ist keine repräsentative Stichprobe.»
Patrick Wielowiejski, Kulturanthropologe
«Die Teilnehmenden können mehrfach teilnehmen und der Link ist teilbar. Das ist keine repräsentative Stichprobe. Diese Zahlen sagen nichts aus über die Mehrheit der queeren Community. Im Gegenteil: Andere Studien, wie etwa jene der Uni Giessen, zeichnen eher das Bild, dass die Mehrheit schwuler Männer grün oder sozialdemokratisch wählt.»
Und doch: Das Phänomen existiert. Es gibt sie – schwule Männer, die sich konservativen oder gar rechtsnationalen Kräften zuwenden. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die meisten AfD-Wähler*innen aus der queeren Community sind Gays.
«Die extreme Rechte macht im Grunde genommen Politik für Männer»
Patrick Wielowiejski, Kulturanthropologe
Der Wunsch nach Freiheit Ein schwuler Mann, der rechtspopulistisch – also AfD, FPÖ oder die SVP – wählt, liess sich für diesen Artikel nicht finden. Mehrere Kandidaten schlugen das Angebot eines Gesprächs ab (trotz Option, anonymisiert zu werden). Deshalb fiel die Wahl auf einen moderateren Wähler.
Andreas, 57 Jahre alt, lebt mit seinem Mann in der Nähe von Frankfurt und arbeitet bei einer Versicherung. Er ist in der DDR aufgewachsen, hat sich mit Anfang 20 unmittelbar nach der Wende geoutet und führt heute ein ruhiges, bürgerliches Leben.
«Ich wähle konservativ, meistens CDU oder FDP. Aber niemals AfD.»
Andreas*, MANNSCHAFT-Leser
Für ihn ist klar: «Ich wähle konservativ, meistens CDU oder FDP. Aber niemals AfD.» Für Andreas ist konservativ wählen kein Widerspruch zum Schwulsein, sondern Ausdruck von Stabilitätsbedürfnis und Freiheitsverständnis. Er sieht sich nicht als Opfer, sondern als Teil der Gesellschaft, der seinen Platz gefunden hat.
«Ich hatte das Glück, nie gravierend diskriminiert worden zu sein. Beruflich bin ich nie angeeckt, auch in meiner Familie wurde mein Mann akzeptiert.» Ob das wohl daran liegt, dass Andreas und sein Mann ein traditionelles Männlichkeitsbild erfüllen und ihr bürgerlicher Lebensstil in der Mehrheitsgesellschaft nicht auffällt?
Später im Gespräch wird allerdings klar: So uneingeschränkt hat er sich nicht immer gefühlt nach seinem Coming-out. Es gab eine Zeit, da habe er seine Orientierung am Arbeitsplatz verschwiegen, der Karriere zuliebe. «Das war rückblickend sicher nicht das Beste für meine Psyche», räumt er ein. Verläuft die Linie zwischen links und rechts vielleicht bei der persönlichen Schmerzensgrenze und der eigenen Definition von Diskriminierung?
Ein Gedanke fällt bei Andreas’ Argumentation besonders auf, weil ungewohnt: Sein politischer Kompass sei stark geprägt durch seine DDR-Erfahrungen. «Ein Staat, der alles reguliert, Kontrolle über Sprache, Meinungen und Verhalten ausübt – das kenne ich zur Genüge. Ich bin in einem System aufgewachsen, in dem jede Person in deinem Umfeld potenziell ein Spitzel war. Und wenn der Staat erfahren hätte, dass man schwul ist, hätte das negative Konsequenzen auf alle Lebensbereiche gehabt.»
Ihm bereiten heutige linke Bewegungen mit ihrer gendergerechten Sprache und gefühlten Denkverboten mehr Unbehagen als konservative Ordnung. Und Andreas unterscheidet deutlich zwischen konservativ und rechts: «Ich habe keine Lust, mich für jede Form der Identitätspolitik rechtfertigen zu müssen. Trotzdem lehne ich jede Form von Extremismus ab.»
Einfach normal sein Der Zürcher Psychotherapeut Tim Wiesendanger hat sich in mehreren Publikationen mit der Psyche schwuler Männer befasst, darunter in seinem Buch «Vertieftes Coming-out: Schwules Selbstbewusstsein jenseits von Hedonismus und Depression».
Seine Erklärung für das Phänomen geht in die Tiefe: Viele schwule Männer würden in einer Welt aufwachsen, die ihnen vermittetle, dass ihre sexuelle Orientierung nicht normal sei. Auch wenn sie später ein selbstbewusstes Leben führen würden, könne sich diese Botschaft tief ins Unterbewusstsein einbrennen.
«Wer sich im Innersten für sein Schwulsein schämt oder es abwertet, kann sich paradoxerweise zu politischen Strömungen hingezogen fühlen, die genau diese Ablehnung spiegeln»
Dr. phil. Tim Wiesendanger, Psychotherapeut
Das nenne man internalisierte Homophobie: «Wer sich im Innersten für sein Schwulsein schämt oder es abwertet, kann sich paradoxerweise zu politischen Strömungen hingezogen fühlen, die genau diese Ablehnung spiegeln», erklärt der Pychologe. Es sei eine Form der Selbstbestrafung oder der Suche nach Ordnung, die einem Halt gebe – auch wenn sie ausgrenzend sei.
«Bürgerlich, maskulin, unauffällig. Sie wollen nichts mit Prides, Drag oder nicht-binären Menschen zu tun haben.»
Dr. phil. Tim Wiesendanger, Psychotherapeut
In Wielowiejskis anthropologischen Forschungen zur AfD seien es vor allem schwule Männer, die sich von feministischen oder trans-inklusiven Diskursen abgrenzen würden. Sie sähen sich selbst als die «guten Schwulen»: «Bürgerlich, maskulin, unauffällig. Sie wollen nichts mit Prides, Drag oder nicht-binären Menschen zu tun haben.» Diese Männer würden ein schwules Selbstbild pflegen, das sich nicht als Teil der LGBTIQ-Community verstehe, sondern als eigenständig – und nur scheinbar unpolitisch, denn: «Es ist eine Form der Abgrenzung, die sich hervorragend in rechte Kulturkämpfe integrieren lässt.»
Tim Wiesendanger spricht von einem Phänomen, das er «heteronormative Bünzligkeit» (hochdeutsch: Spiessigkeit) nennt. Viele würden sich nach einem ruhigen, geregelten, bürgerlichen Leben sehnen: Kinder, Reihenhaus, Rasenmäher. Dieses Ideal erscheine manchen als der wahre Beweis für Gleichwertigkeit mit Heteros. Und rechtspopulistische Parteien geben sich oft als Bewahrerinnen genau dieses konservativen Lebensentwurfs.
Queerfeindliche Migrant*innen? Auf seine Haltung gegenüber Migration angesprochen, holt Andreas etwas aus: «Grundsätzlich finde ich es richtig, dass man Menschen, die in Not sind, wie zum Beispiel Familien, die vor einem Krieg flüchten, Schutz bietet. Auch viele Deutsche sind während und nach dem Krieg emigriert beziehungsweise geflüchtet.» Die pauschale Verurteilung von Einwanderer*innen, wie sie die AfD praktiziert, lehnt er ab.
«Aber ich finde eben auch, dass es in Deutschland einer Steuerung der Migration bedarf, wie sie zum Beispiel CDU oder FDP anstreben.» Die Linke hingegen wolle unbegrenzt viele junge Männer aufnehmen, ohne ihnen eine Perspektive zu geben. Andreas geht noch weiter und sagt, dass linke Parteien indirekt Minderheiten schaden würden: «Viele geflüchtete Menschen sind in homo- und frauenfeindlichen Systemen aufgewachsen, sie haben das irgendwo verinnerlicht und legen ihre Einstellung nicht an der deutschen Grenze ab.»
«Wenn du als Schwuler all diese Männer siehst, die in Frankfurt die Strassen bevölkern, fühlst du dich unwohl und traust dich nicht mehr, deinen Freund an die Hand zu nehmen»
Andreas*, MANNSCHAFT-Leser
Er verstehe nicht, wie Parteien wie die Grünen, die viel für Frauenemanzipation und queere Rechte getan hätten, nun genau diese vulnerablen Gruppen einer Gefahr aussetzen würden. «Wenn du als Schwuler all diese Männer siehst, die in Frankfurt die Strassen bevölkern, fühlst du dich unwohl und traust dich nicht mehr, deinen Freund an die Hand zu nehmen», sagt er sichtlich aufgebracht.
Geborgte Akzeptanz Rechts-aussen-Parteien seien keine queerfriendly Parteien, darin sind sich die Gesprächspartner einig. Und doch schaffen sie es, mit Symbolfiguren wie der lesbischen Bundes- und Fraktionsvorsitzenden der AfD Alice Weidel und diffusen Ängsten einen Fuss in die Community zu bekommen.
Wielowiejski nennt das «geborgte Akzeptanz». Tim Wiesendanger hingegen erklärt das Konzept der «Identifikation mit dem Aggressor»: «Wer etwa als Jugendlicher unter Mobbing oder Ausgrenzung gelitten hat, entwickelt manchmal unbewusst eine Strategie: Sich mit den Starken, den Lauten, den Dominanten zu verbünden. Sie stellen sich auf die Seite der Macht, in der Hoffnung, selbst nicht mehr Zielscheibe zu sein.»
«Wer diese Mechanismen versteht, kann besser einordnen, warum ein Teil der Community nach rechts tendiert – und wie wichtig es ist, ein inklusives, vielfältiges Männerbild zu fördern, das Stärke nicht durch Abgrenzung definiert.»
Dr. phil. Tim Wiesendanger, Psychotherapeut
Weiter würden auch unter schwulen Männern gesellschaftliche Normen und kulturelle Prägungen wirken – manchmal auch gegen die eigenen Interessen: «Wer diese Mechanismen versteht, kann besser einordnen, warum ein Teil der Community nach rechts tendiert – und wie wichtig es ist, ein inklusives, vielfältiges Männerbild zu fördern, das Stärke nicht durch Abgrenzung definiert.»
Im Westen nichts Neues Wer einen Blick in die Vergangenheit wirft, merkt schnell: Das Spannungsfeld zwischen Homosexualität und autoritären Denkstrukturen ist kein neues Phänomen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts grenzten sich Teile der frühen Homosexuellenbewegung bewusst von den Ideen des Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfelds ab, der u.a. erste geschlechtsangleichende Operationen durchführte.
Es gab Männerbünde, in denen Männlichkeit, Disziplin und Distanz zum Weiblichen betont wurden. Damals wie heute: Hypermännlichkeit und Homosexualität müssen sich nicht ausschliessen – und Queersein ist nicht automatisch ein Schutzschild gegen konservative oder autoritäre Ideen.
Andreas, konservativer Wähler, will wie viele andere nicht immer durch seine Sexualität definiert werden, sondern einfach nur sein Leben leben. Ausdruck eines Bedürfnisses nach Ruhe, nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit. In einer Welt, in der queere Menschen oft um Anerkennung kämpfen mussten, ist es nachvollziehbar, dass manche – sobald sie angekommen scheinen – keine Lust mehr haben, «loud and proud» zu sein, sondern einfach nur Nachbar*innen von Nebenan. Doch genau darin liegt die Gefahr: Wer sich auf «das Normale» beruft, macht sich abhängig von einer Mehrheitsgesellschaft, die entscheidet, was als normal gilt – und was nicht.
Was Wielowiejski «geborgte Akzeptanz» nennt, ist oft prekär: Sie basiert nicht auf Gleichwertigkeit, sondern auf Duldung. Schwule Männer, die sich von queerer Sichtbarkeit oder Genderfluidität abgrenzen, erleben vielleicht weniger Widerstand – aber sie stärken Strukturen, die all jenen schaden, die nicht in dieses Bild passen.
Community: bunter als man denkt Diese Gespräche bestätigen, was viele schon vermuten: Nicht alle Schwulen sind links, und nicht alle Konservativen sind homofeindlich. Aber wer Parteien wählt, die offen gegen Minderheiten hetzen, schwächt am Ende das Fundament, auf dem unsere mühsam erkämpfte Freiheit steht.
Denn gefährlich wird es dort, wo Konservatismus in Menschenfeindlichkeit kippt. Welche Gesellschaft ermöglichen wir mit unseren Wahlzetteln? Welche Weltbilder bestätigen wir – und welche Menschen werden dadurch ausgeschlossen? Als Queers sollten wir unsere Geschichte kennen; die Kämpfe würdigen, auf deren Fundament wir stehen. Und uns der Verantwortung bewusst sein, dass politische Rechte nie garantiert waren, geschweige denn für immer sein werden. *Name der Redaktion bekannt
Im Herbst ’89 sagt ein 18-Jähriger in Uniform: «Ich fahre jetzt nach Hause, das hier ist Quatsch.» Kurz darauf sitzt Norbert Bisky in Haft. Aus dem DDR-Soldaten wurde einer der prägnantesten Künstler seiner Generation (MANNSCHAFT-Story).
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