Fussballerin Aurélie Csillag: «Den Vorkämpferinnen verdanken wir viel»
Die 22-jährige Zürcherin über ihre Liebe zum Fussball, ihr Coming-out und ihren Umgang mit Rückschlägen
Mit der Heim-EM geht für Fussballerinnen wie Aurélie Csillag ein grosser Traum in Erfüllung. Ob das junge Talent auch tatsächlich für das Schweizer Nationalteam zum Einsatz kommen wird, zeigt sich erst in den kommenden Wochen.
«Hast du das gesehen? Das ist extrem bitter!» Die ehemalige Basler Stürmerin Aurélie Csillag spielt auf Instagram ein Video des Schweizer Fernsehens ab. Zu sehen ist eine entscheidende Szene vom Playoff-Halbfinal gegen GC Zürich vom vergangenen Wochenende.
Nach einem Basler Eckball prallt der Ball am Arm einer GC-Spielerin ab. Die Schiedsrichterin lässt weiterspielen. Ohne Videoassistent fehlt der Beweis – kurz danach erzielt GC ein Tor.
Hätte die Schiedsrichterin auf Handspiel entschieden und Basel den Elfmeter verwandelt, hätte es den Ausgleich gegeben – wäre das Spiel in die Verlängerung gegangen. So aber zieht GC mit dem Sieg in den Playoff-Final der Super League ein, der höchsten Spielklasse im Schweizer Frauenfussball. Basel scheidet aus und geht in die Sommerpause.
In der Super League des Schweizer Männerfussballs kommt der Videoassistent seit der Saison 2019/20 bei jedem Spiel zum Einsatz – mit dem Ziel, die Fairness im Sport zu erhöhen und um klare Fehlentscheidungen zu vermeiden. Bei den Frauen wird er dieses Jahr zum ersten Mal verwendet, aber lediglich im Cupfinal.
Das Fehlen eines Videoassistenten im Spielbetrieb ist jedoch nur eines von vielen Beispielen, das von der grossen Diskrepanz zwischen Männer- und Frauenfussball zeugt.
Die Unterschiede sind vielfältig: Sie zeigen sich bei vielen Clubs in der Infrastruktur, in der Nachwuchsförderung, beim Mangel von gut ausgebildeten Schiedsrichter*innen, beim Sponsoring sowie in der medialen Sichtbarkeit. Am gravierendsten jedoch ist die Ungleichheit bei den Gehältern: Die Mehrheit der Spielerinnen in der Super League verdient kaum oder gar keinen Lohn.
Aber Aurélie Csillag will nicht über Mängel reden, sondern über Möglichkeiten – und über Fussball. «Der Frauenfussball hat in den letzten zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht», sagt sie. «Als Fussballerin bin ich privilegierter als Sportler*innen in anderen Sportarten wie zum Beispiel in der Leichtathletik.» Doch darüber später mehr.
«Als Fussballerin bin ich privilegierter als Sportler*innen in anderen Sportarten wie zum Beispiel in der Leichtathletik.»
Aurélie Csillag
. . . über die Liebe zum Fussball Seit sie denken kann, hat sie dieses runde Ding fasziniert – der Ball, den man treten, «tschutte», verlieren, aber auch beherrschen kann. Aurélie spielt stets mit den Jungs. Ihre Zwillingsschwester hingegen kann nichts mit Fussball anfangen. Unter den vier Csillag-Töchtern ist Aurélie die Einzige, die sich für den Fussball begeistert, und die Einzige, die im Leistungssport tätig ist.
Als kleines Mädchen kickt sie, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet: zuhause im Innenhof, draussen auf der Strasse, auf dem Pausenplatz. «Wieso trittst du nicht einem Fussballverein bei?», will ihre Lehrerin wissen. Zu diesem Zeitpunkt ist Aurélie bereits 10 Jahre alt und ihre Eltern melden sie beim FC Blue Stars an. Sie kann sich gut an ihren ersten Match erinnern. «Das fühlte sich so richtig professionell an, schon nur das Aufwärmen», lacht sie.
Dann geht es schnell: Aurélie überspringt mehrere U-Mannschaften und wechselt vom FC Blue Stars zu GC Zürich. Sie begreift, dass auch Frauen Fussball auf höchstem Niveau spielen – und dass sie selbst dazugehören könnte. Bis zu diesem Moment ist ihr Bild von Fussball ausschliesslich männlich geprägt. Männer sind auf den Panini-Bildern, die sie sammelt. Ihr Lieblingsspieler ist Lionel Messi und wenn bei einer WM oder EM in der Stadt das Fussballfieber ausbricht, dreht sich alles um Männerfussball.
Im Sturm fühlt sie sich seit jeher zuhause. «Ich wollte Tore schiessen. Schon als Kind war ich schnell, ich wollte gegen alle ein Wettrennen machen», sagt sie. Ein schneller Flügel, der Tore schiesst – das ist auch heute noch ihre Stärke. Parallel zu ihrer sportlichen Laufbahn absolviert sie eine kaufmännische Grundausbildung an der United School of Sports.
«Ich wollte Tore schiessen. Schon als Kind war ich schnell, ich wollte gegen alle ein Wettrennen machen»
Aurélie Csillag
Nach acht Jahren bei GC wechselt sie 2023 mit zwanzig Jahren zum FC Basel. Im selben Jahr kommt sie unter der damaligen Nationaltrainerin Inka Grings zum ersten Mal für die Schweiz zum Einsatz, im Testspiel gegen Island – dazu noch zuhause in Zürich. Ein Moment, der ihr bis heute in besonderer Erinnerung bleibt.
. . . über ihr Coming-out Bei der United School of Sports absolviert auch Lilly Nägeli die kaufmännische Grundausbildung. Die Leichtathletin über 800 und 1500 Meter ist im Kader von «Swiss Starters Future» und hat einen Freund. Die jungen Frauen sehen sich im Kraftraum der Schule, lernen sich aber erst näher kennen, als sich Lilly von ihrem Freund trennt.
Sie verlieben sich, ziehen in Zürich in eine gemeinsame Wohnung und stehen offen zu ihrer Beziehung. Für die im Frauenfussball sozialisierte Aurélie ist das selbstverständlich. Anders als im Männerfussball sind offen queere Spielerinnen kein Tabu, gegenüber dem Team muss man sich nicht erklären. Lesbische Vorbilder wie Ramona Bachmann oder Lara Dickenmann gehören zu den besten Fussballerinnen der Schweiz.
Wenn das Paar Hand in Hand unterwegs ist, fallen Lilly neugierige Blicke von Mitmenschen auf. Auf Instagram wird die Mittelstreckenläuferin mit abfälligen Kommentaren konfrontiert wie «Ihr sündigt», «Was ihr macht, ist nicht richtig» oder mit anstössigen Sprüche wie «Wollt ihr einen Dreier?». Manchmal sind es nur Kotz-Emojis. Immer sind es Männer, die hinter diesen Kommentaren stecken.
In einem Porträt im Tages-Anzeiger im Oktober 2024 macht das Paar seine Beziehung öffentlich. Lilly übernimmt den Lead, mit der vollen Unterstützung ihrer Freundin im Rücken. «In der Leichtathletik gibt es nicht dieselben Vorbilder wie im Frauenfussball», sagt Aurélie. «Ein Coming-out ist nie einfach, aber wenn du in deinem Sport allein bist – und das auch noch in einer Einzelsportart –, wird es umso schwerer.»
«Ich habe mich ständig mit anderen verglichen. Wieso bin ich nicht so wie die anderen, wieso habe ich andere Gefühle?»
Aurélie Csillag
Ihr eigenes Coming-out liegt bereits einige Jahre zurück, doch sie erinnert sich, wie sie lange damit gehadert hatte: «Ich habe mich ständig mit anderen verglichen. Wieso bin ich nicht so wie die anderen, wieso habe ich andere Gefühle?» Wenn sie anderen etwas mitgeben möchte, dann den Mut, sich vor solchen Vergleichen zu lösen und sich nicht unter Druck setzen zu lassen. Aurélies Ängste vor dem Coming-out bei ihrer Mutter, die an der Elfenbeinküste lebt, erweisen sich als unbegründet.
Auf den Artikel im Tages-Anzeiger erhalten Lilly und Aurélie ausschliesslich positive Reaktionen. Bei einer Wanderung in den Bergen werden sie von Fremden angesprochen, die sie erkennen und ihnen Mut zusprechen. «Das war mega random, hat mich aber extrem gefreut», sagt Aurélie.
. . . über Fankultur und die EM Die Verunsicherung spürt Aurélie, wenn sie ein Leichtathletikstadion betritt, um Lilly bei einem Wettkampf zu unterstützen. Dürfen die Zuschauer*innen erkennen, dass sie ihre Freundin ist? «Ich halte auch hier ihre Hand oder küsse sie, schaue aber immer kurz nach links oder nach rechts», sagt sie.
«Unsere Fankultur ist sehr offen und herzlich – und durch die vielen sichtbaren Vorbilder auch von Anfang an LGBTIQ-inklusiv.»
Aurélie Csillag
Anders im Frauenfussball: «Unsere Fankultur ist sehr offen und herzlich – und durch die vielen sichtbaren Vorbilder auch von Anfang an LGBTIQ-inklusiv», sagt Aurélie. Bei den Spielen trifft man auf Familien, Kinder, Jugendliche und ganze Freundeskreise. Eine negativ geladene Stimmung, ausgrenzende Fangesänge, übermässiger Alkoholkonsum oder extreme Rivalität, wie man sie aus dem Männerfussball kennt, sucht man hier vergeblich.
Auch die Spielerinnen selbst wirken nahbarer. Während viele Männer nach dem Abpfiff direkt in der Kabine verschwinden, nehmen sich die Fussballerinnen – selbst in der Super League – Zeit für ihre Fans. Bei einem der letzten Spiele wartete ein kleiner Junge auf Aurélie, um sie um ein Autogramm zu bitten. Er trug ihr Trikot. «Das war total unerwartet und hat mich riesig gefreut!»
Trotz der offenen und familiären Atmosphäre im Frauenfussball: Der Konkurrenzkampf ist real – besonders unter den jungen Spielerinnen. Aurélie Csillag hat es nicht ins definitive EM-Kader geschafft, steht aber auf Abruf bereit (MANNSCHAFT berichtete). Ihre Entwicklung bleibt im Fokus des Trainerstabs, und bei Verletzungen oder kurzfristigen Änderungen könnte sie noch nachnominiert werden. Für alle Spielerinnen – ob im Kader oder auf der Warteliste – ist die Heim-EM ein grosser Traum. «Meine erste EM – und dann auch noch in der Schweiz», sagt sie. «Auch wenn wir uns untereinander gut verstehen: Wir Jungen sind ehrgeizig. Wir wollen alle dabei sein.»
. . . über Rückschläge und den Blick nach vorne Sportlich blickt Aurélie auf ein herausforderndes Jahr zurück. In einem Training für die Nationalmannschaft im Juni 2024 verletzt sie sich schwer am Fuss: Riss der Aussenbänder, angerissenes Innenband. «Im ersten Moment dachte ich, bis zum Saisonstart bin ich wieder fit», sagt sie. Doch die Reha zieht sich länger als gedacht und sie verpasst die ersten Spiele. «Im Grunde war es besser so, als wenn die Verletzung mitten in der Saison passiert wäre. Aber es war trotzdem hart.»
In dieser Zeit kommt die mentale Belastung, Aurélie will sich keine Fehler erlauben: «Ich wollte alles aufholen, was ich verpasst hatte. Ich dachte, ich müsse in jedem Spiel ein Tor schiessen, auffallen, liefern. Ich habe mir selbst enormen Druck gemacht – und mich damit blockiert.»
Hilfe findet sie im Mentaltraining, insbesondere durch Hypnose. Dort lernt sie, sich zu fokussieren, ihre Nervosität zu steuern und innere Stärke zu aktivieren. «Wir haben einen Anker gesetzt: Wenn ich meinen Zeigefinger drücke, erinnere ich mich an meine Stärken – an meinen Instinkt, meine Schnelligkeit, mein bestes Spiel. Das hilft mir, präsent zu sein und Vertrauen in mich zu haben.»
Auch wenn nicht alles in Zahlen messbar sei – sie fühle, dass sie sich weiterentwickelt habe. Der harte Kampf zurück aufs Spielfeld hat sich gelohnt. Im Mai unterschreibt Aurélie einen Vertrag beim SC Freiburg und wechselt somit in die Bundesliga, die für viele prominente Schweizer Fussballerinnen ein wegweisender Schritt in der Karriere war.
Kraft gibt ihr nicht zuletzt auch Lilly. Gemeinsam verbringen sie den Winter an der Elfenbeinküste und besuchen Aurélies Mutter – eine Auszeit vor dem intensiven Frühjahr. Im Alltag bauen sie sich gegenseitig auf. «Es ist ein schönes Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn wir beide trainiert haben – gemeinsam runterzufahren und über unsere Leistungen zu sprechen.»
«Es ist ein schönes Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn wir beide trainiert haben – gemeinsam runterzufahren und über unsere Leistungen zu sprechen.»
Aurélie Csillag
Obwohl beide Leistungssportlerinnen sind, ist ihre Ausgangslage verschieden. Während Aurélie in einer professionelleren Struktur trainieren kann, muss Lilly als Leichtathletin vieles selbst stemmen – von der Finanzierung bis zur Organisation der Trainingslager. «Sie ist ständig unterwegs – im Dezember war sie in Südafrika, im März in Portugal, jetzt ist sie in St. Moritz im Höhentraining. Und sie zahlt alles selbst, wohnt in Airbnbs, kocht selbst. Ich finde krass, was sie leisten muss, ohne die gleiche Unterstützung zu haben.»
Auch Aurélie ist auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, um sich auf ihre sportliche Karriere zu konzentrieren. Trotzdem fühlt sie sich privilegiert, der Frauenfussball habe sich stark entwickelt, nicht zuletzt auch dank Vorkämpferinnen wie Ramona Bachmann oder Lara Dickenmann.
«Natürlich gibt es noch grosse Unterschiede zum Männerfussball. Aber wir haben schon so viel erreicht – die Generation vor uns musste für Sichtbarkeit und Strukturen kämpfen. Heute haben wir offizielle Webseiten, Spielberichte im Fernsehen, Fans im Stadion – das gab es früher alles nicht. Und das verdanken wir auch den Vorreiterinnen.»
Queere Geschichte ist nicht nur eine Erzählung von Leid und Unterdrückung, sondern auch von Liebe und Widerstand. Der 28-jährige Can und der 62-jährige Andreas blicken aus zwei Perspektiven auf eine Geschichte, die noch lange nicht auserzählt ist (MANNSCHAFT-Story).
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