Thomas Hitzlsperger: «Nach dem Coming-out kamen auch Liebesbriefe»
Ein ehrliches Gespräch über Akzeptanz, Vielfalt und persönliches Wachstum
Zehn Jahre ist es her, dass sich Thomas Hitzlsperger als schwul geoutet hat. Heute ist der Ex-Fussballer u.a. DFB-Botschafter für Vielfalt und besitzt ein Restaurant in London. Mit ihm sprachen wir über den spanischen Kussskandal, über deutsche Politik und warum er für sein Coming-out-Interview zwei Anläufe brauchte.
Thomas, dein mediales Coming-out liegt jetzt zehn Jahre zurück. Wie ist das Interview mit Carolin Emcke und Moritz Müller Wirth für die Zeit damals zustande gekommen? Ich kannte Moritz schon gut. Zum ersten Mal habe ich ihn, glaube ich, bei der Fussball-EM 2008 getroffen. Er ist zwar Fan des Karlsruher SC, aber das konnte ich gut ausblenden (grinst). Ich hatte Vertrauen zu ihm. Für mich war das ein grosser Schritt, es brauchte grosses Vertrauen. Er hat mir dann kurz darauf Carolin Emcke vorgestellt, die kannte ich bis zu dem Zeitpunkt nicht.
Eine gute Wahl, oder? Das war eine sehr gute Wahl! Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Das gilt für Moritz genauso, bis heute sind wir befreundet. Als ich damals zu ihm gegangen bin, 2013, habe ich noch in Wolfsburg gespielt und war auch häufiger in Berlin, und dann haben wir uns getroffen und ich sagte, ich würde gerne mit ihm etwas besprechen.
Es gab ein enormes Medienecho. Warst du auf die vielen Anfragen vorbereitet? War dir klar, dass das passieren würde? Mir war es nicht in der Dimension klar, aber ich war vorbereitet. Es wäre ja vermessen gewesen, zu glauben, die ganze Welt würde sich jetzt für mich interessieren. Meine Karriere war zu Ende, ich hatte aufgehört zu spielen. Dennoch wusste ich, das Thema ist immer noch interessant.
Bis heute. Ich dachte daher, für den Fall, dass das Thema viel Aufmerksamkeit erzeugen würde, muss ich vorbereitet sein. Der erste Versuch ist gescheitert, aber beim zweiten Anlauf war klar: Ich zieh das jetzt durch! Ich wandte mich an eine Kommunikationsagentur und fragte, ob sie mich unterstützen würden. Die kurze Zusammenarbeit verlief hervorragend. Wir haben das Vorgehen genau abgestimmt, Videostatements vorab aufgenommen und auch vereinbart: Ich werde nach Erscheinen des Interviews natürlich zur Verfügung stehen. Aber nach ein, zwei Wochen bin ich weg. Ich war dann zuerst in San Francisco und anschliessend auf Hawaii.
Machen Sie, was Sie wollen, aber reden Sie nicht in der Öffentlichkeit über Ihr Schwulsein!
Warum hat es beim ersten Mal nicht geklappt? Damals war mir klar: Ich kann mein Schwulsein nicht mehr leugnen. Ich fing an, Leute mit einzubeziehen, und als ich zu Moritz gegangen bin, habe ich ja noch aktiv in Wolfsburg gespielt. Da habe ich schon gemerkt, das würde etwas Grösseres auslösen, wenn ich das öffentlich mache. Aber ich wollte es tun.
Ich bin zu einem Medienanwalt gegangen und der hat gesagt: Nee! (lacht) Das werden Sie nicht aushalten, lassen Sie das bleiben. Machen Sie, was sie wollen, auf Partys gehen, ausgehen, aber: Reden Sie nicht in der Öffentlichkeit darüber! Nach dem Gespräch war ich konsterniert und dachte: Okay, vielleicht hat der Mann recht, er hat sehr viel Erfahrung. Also habe ich zu Carolin und Moritz gesagt: Wir verschieben das besser.
Würdest du heute wieder so entscheiden? Heute muss ich sagen, der Anwalt hatte vermutlich recht. Ich war noch nicht so stabil, es hätte mir wirklich schaden können. Heute geht es mir gut, und es ist alles gut gelaufen. Ich hätte gerne erlebt, wie die Kabine, die Fans und die Medien reagiert hätten. Das kann ich nun nicht beantworten, das ist schade.
Aber man muss zuerst auf sich selbst achtgeben. Es ist ehrenwert, wenn man den Anspruch hat, Menschen zu helfen, indem man selbst sichtbar wird. Aber dafür braucht man das nötige Selbstbewusstsein. Meine Familie damals stand hinter mir. Aber der Rat des Anwalts war wichtig, auch wenn ich anfangs sauer war.
In dem 2014 erschienen Interview wurdst du gefragt, ob du hoffst, jede Menge Liebesbriefe zu bekommen. Darauf hast du gesagt: Wenn der Richtige dabei ist . . . Es kam schon einiges an Briefen, ganz wertschätzende, tolle Briefe. Auch ein paar wenige Beleidigungen und Beschimpfungen, aber der Grossteil war extrem positiv, und ja, es gab auch Liebesbriefe.
Und der Richtige war nicht dabei? Ich habe mich über jeden gefreut, aber wollte erstmal Abstand gewinnen. Ich bin verreist und war noch nicht aktiv auf Social Media. Also habe ich mich bei Twitter angemeldet, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, diese Stille. Und sagen wir es mal so: Ich habe seither eine gute Zeit gehabt. (lacht)
Wenn sich heute Sportler outen, hört man oft als Gegenreaktion, auch aus der Community: Das gehe niemanden was an. Ja, ich kenne auch Menschen, die das immer wieder behaupten. Aber dann stellt man fest: das Interesse ist gross. Nach wie vor hat es eine Relevanz, weil Leute sich für die Geschichten anderer Menschen interessieren. Fussball ist so präsent in der Gesellschaft, und wenn sich ein Spieler outet, während oder nach der Karriere, dann wollen Fans mehr darüber erfahren. Heterosexuelle Spieler füllen doch auch die Klatschspalten mit ihren glücklichen oder gescheiterten Beziehungen, Hochzeiten und sonstigen Storys. Das interessiert nun mal eine Vielzahl von Menschen.
Wenn sich ein junger Fussballer wie Josh Cavallo outet, entsteht dann ein Kontakt und ihr schreibt einander? Wir hatten keinen persönlichen Kontakt. Es war mir jedoch wichtig, ihm via Social Media zu gratulieren. Aber Jake Daniels kenne ich persönlich. Letztes Jahr trafen wir uns in England zu einem Interview. Ich hoffe, er geht seinen Weg und wird ein grossartiger Fussballer.
Bei Twitter, jetzt X, machte vor ein paar Jahren der «gay_1.Bundesligaspieler» von sich reden. In seinem Profil heisst es: «Ich bin ein schwuler 1. Bundesligaspieler. Ich möchte mich outen.» Aktuell hat er rund 550 Follower*innen. Hältst du das für echt? Ich weiss nicht, ob die Person echt ist oder was genau dahintersteckt, schliesslich ist es anonym. Das muss man abwarten. Ich kriege ja ab und zu Anfragen von Zeitungen: «Wir haben gerade gehört, da will sich morgen jemand outen – schreiben Sie uns einen Kommentar?» Es ist nie etwas passiert. Ausser bei Jake Daniels und Jakub Jankto (der tschechische Fussballer hat sich im Februar 2023 als schwul geoutet, MANNSCHAFT berichtete).
Es haben sich inzwischen einige junge Fussballer geoutet. Teilweise beziehen die sich auf dich. Macht dich das stolz? Ja. Es war ein grosser Schritt für mich und nun kann ich andere ermutigen – das ist ein Geschenk. Ich verfolge Diskussionen, manches ist ermüdend, weil ich oft in den Fragestellungen den Eindruck habe, wir sind nicht weitergekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich will das nicht mehr machen (seufzt). Doch das währt nicht lange. Verbesserungen sind erkennbar.
Die Vereine haben sich der Zeit angepasst, sind moderner geworden, man bekennt sich zu Diversität, die meisten Vereine zeigen viel mehr Regenbogensymbole, Bundesligaspieler tragen manchmal die Kapitänsbinde in Regenbogenfarben oder unterstützen Aktionen wie jene von «11Freunde», #ihrkönntaufunszählen.
Ich möchte keine Angst haben, mich frei zu bewegen, und mich nicht einschränken in meinen Grundrechten
Aber bei manchen gesellschaftlichen Entwicklungen muss man sich Sorgen machen. Ich möchte keine Angst haben, mich frei zu bewegen, und im Rahmen des Gesetzes so leben, wie ich es für richtig halte. Ich möchte mich nicht einschränken in meinen Grundrechten. Und da finde ich es problematisch, wie sich die politische Landschaft und Teile der Gesellschaft entwickeln.
Versuchen manchmal Parteien, dich zu vereinnahmen? Ich würde nicht von Vereinnahmen reden, aber ja: Ich werde angefragt, etwa auf Veranstaltungen zu sprechen. Erstmal freut mich das Interesse, aber ich wäge sorgfältig ab.
Die AfD gehört vermutlich nicht zu jenen, die anfragen. Nein. Das kommt von unterschiedlichen Parteien, sofern Interesse an Themen wie Diversität, Toleranz und Antidiskriminierung besteht.
Du schaltest dich trotzdem immer wieder bei Debatten ein, etwa beim Thema Katar und Saudi-Arabien. Ich habe ab und zu das Bedürfnis, öffentlich zu sagen, wie ich Dinge einschätze. Die Freiheit möchte ich mir nehmen, aber nur zu kritisieren, das wäre mir auch zuwider. Darum erzähle ich auch gerne von Begegnungen mit Leuten, die sagen: «Hey, toll, was du gemacht hast.» Zum Beispiel: «Mein Bruder hat sich auch geoutet und du bist ein Vorbild.» Das ist schon grossartig, das gibt es eben auch. Dazu der Austausch mit Jugendlichen, die nach Orientierung suchen und Fragen haben. Dieser Austausch bedeutet mir sehr viel.
Was Katar angeht: Es war mir ein Bedürfnis, vor Ort zu sein, um es beurteilen zu können. Wenn ich als homosexueller Fussballfan diese WM schauen wollte, dann konnte ich nicht bedenkenlos dorthin reisen. Klar, wenn ein Land wie Katar sagt: Ihr habt unsere Kultur zu respektieren, ist das richtig – wenn ich in den Urlaub fliege. Aber wenn ich so ein Grossereignis als passionierter Fussballer sehen möchte, habe ich ein Problem. Denn es geht ja um die Fans.
In Katar hat die FIFA die Nationalverbände gegeneinander ausgespielt
Erst liess sich das deutsche Team die One-Love-Binde verbieten. Dann gab es eine sonderbare Hand-vor-den-Mund-Geste. Dein Fazit? Was die deutsche Mannschaft dort gemacht hat, dafür gab es am Ende Hohn und Spott, und das ist sehr, sehr schade. Das Bemühen war Spielern und Funktionären anzumerken, doch die FIFA hat die Nationalverbände gegeneinander ausgespielt. Wichtig ist: Spieler müssen überzeugt sein, dass Vielfalt ein wichtiges Anliegen ist. Sie müssen bereit sein, auch Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Wenn es kein ehrliches Anliegen ist, dann lässt man es besser bleiben.
Im Frauenfussball sind Coming-outs nicht so ein grosses Thema. Für die Frauen im Frauenfussball scheint Homosexualität in der Tat kein grosses Problem zu sein, aber dort gibt es andere Themen, mit denen sie sich beschäftigen. Frauenfussball benötigt weiterhin mehr Mittel, um unter ähnlich guten Bedingungen trainieren und spielen zu können und den Nachwuchs zu fördern. Zudem war es ein grosses Thema, als der spanische Verbandspräsident Rubiales bei der Weltmeisterschaft die Spielerin Jennifer Hermoso auf den Mund küsste (MANNSCHAFT berichtete).
Deutsche Fussball-Grössen wie Rummenigge und Grindel fanden den Kuss okay. Das sagt viel aus darüber, wie in Deutschland heterosexuelle Fussball-Funktionäre ticken. Und noch ein paar äusserten sich ähnlich und ich dachte: Oh, ich sehe das anders. Es geht doch um die Spielerin. Wenn sie sagt, es war ohne ihre Einwilligung, dann ist sie die entscheidende Person, die darüber befindet, ob es richtig oder falsch war. Da war ich irritiert, wie viele Menschen, in erster Linie Männer, das in Ordnung fanden.
Man hat noch keinen Fussball-Präsidenten gesehen, der nach dem Sieg einen männlichen Spieler auf den Mund geküsst hätte, oder? Genau das habe ich in dem Zusammenhang auch gedacht. Scheinbar ist Emotion nicht gleich Emotion. Lustigerweise gibt es ja durchaus Bilder von Fussballern, die sich auf den Mund küssen. Aber ich kenne tatsächlich auch kein Bild von einer Pokalübergabe, wo ein Verbandspräsident oder ein Kapitän einen Spieler auf den Mund küsst, und ich wage die Prognose, dass wir das so schnell nicht erleben werden.
Wie war das, als du noch aktiv gespielt hast: Hast du dich da beim Torjubel zurückgenommen, aus Vorsicht, um nicht in Verdacht zu geraten? Das gab es nicht, nein. Also, ich habe jetzt nicht so viele Tore erzielt, aber wenn doch, ist es aus mir rausgeplatzt. Ich habe mich so dermassen gefreut, ich glaube, man sah mir das auch an. Es war eher so: Was, ich habe gerade ein Tor geschossen? Dann bin ich komplett durchgedreht. Das kam dann echt tief von Herzen.
Nach deiner aktiven Karriere warst du lange beim VfB Stuttgart. Da habe ich begonnen als Berater, war Direktor des Nachwuchsleistungszentrums, dann Sportvorstand und zuletzt Vorstandsvorsitzender, zweieinhalb Jahre lang. Alles tolle Erfahrungen. Dass der Aufsichtsrat damals sagte: Du sollst unser Vorstandsvorsitzender sein – das war ganz vorurteilsfrei und schon auch eine Auszeichnung. Der VfB macht das ganz selbstverständlich: Der ist der Beste, der macht das jetzt. Das fand ich schon super.
Vielfalt ist auf der Agenda des DFB nach unten gerutscht
Du besitzt jetzt ein Restaurant in London. Ja, das L’Escargot. Es ist fast 100 Jahre alt, das älteste französische Restaurant in London mit viel Tradition, mitten in Soho. Das hat sich im Frühjahr ergeben. Kurze Zeit war für Renovierungsarbeiten geschlossen, jetzt läuft es und ich bin sehr gern vor Ort. Ausserdem habe mich als Investor an Aalborg BK beteiligt, einem Traditionsverein aus Dänemark. Somit bin ich sehr gut ausgelastet und habe Freude.
Du bist auch Botschafter für Vielfalt beim DFB. Seit der Spielzeit 2022/2023 gilt im Amateurfussball die Regel, dass trans, inter und nicht-binäre Spieler*innen selbst entscheiden, ob sie im Frauen- oder Männerteam sein wollen. Die Landesverbände sind zu uns gekommen und verlangten nach einer Lösung für trans, inter und nicht-binäre Spieler*innen. Die wurde dann auch gefunden. Wie du dir denken kannst, gibt es hier auch Kritiker, aber für mich war das die beste Regelung. Es geht bewusst um eine Lösung für den Amateurfussball und nicht den Profifussball. Der DFB will, dass Fussball für alle zugänglich ist. Darum haben trans Personen genauso das Recht zu spielen wie alle anderen.
Ich merke, Vielfalt ist auf der Agenda nach unten gerutscht
Wie sieht es sonst im DFB mit Vielfalt aus? Es hat sich einiges verändert. Ich merke, Vielfalt ist auf der Agenda nach unten gerutscht. Die Fussball-WM in Katar war aus deutscher Sicht eine grosse Enttäuschung. Vielfalt wird jetzt eher dort behandelt, wo es nicht so öffentlichkeitswirksam ist.
Ich kenne viele engagierte Mitarbeiter*innen, die hervorragende Arbeit leisten und eine Bereicherung für den Verband sind, aber wenn die A-Mannschaft schwere Zeiten durchlebt, dann fallen Themen wie Vielfalt gerne mal hinten runter. Die anstehende Fussball-Europameisterschaft erzeugt einen enormen Druck, der deutlich vernehmbar ist. Ich bleibe zuversichtlich, dass die Mannschaft erfolgreich sein kann und gleichzeitig das Turnier für alle da ist und Begeisterung auslösen wird.
Eine Nacht mit … Ben Whishaw! Für alle, die etwas übrig haben für grosse Schauspielkunst und obendrein nicht meinen, dass Sex-Appeal etwas mit aufgepumpten Gym-Körpern zu tun haben muss, gibt es in Film und TV schon lange nichts Heisseres als den grossartigen Ben Whishaw.
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