Gegen die «Aufgeheiztheit» der linksradikalen queeren Szene

Der Publizist Jan Feddersen hat mit «Meine Sonnenallee: Notizen aus Neukölln» seine Verarbeitung des Traumas vom 7. Oktober 2023 vorgelegt

Polizeibeamte versuchen auf der Sonnenallee in Brand gesetzte Mülltonnen zu löschen
Polizeibeamte versuchen auf der Sonnenallee von Demonstrant*innen in Brand gesetzte Mülltonnen zu löschen (Bild: Paul Zinken/dpa)

Wie umgehen mit dem Streit rund um Israel und Palästina, der die LGBTIQ-Szene derzeit förmlich zu zerreissen droht? Jan Feddersen hat diese Frage in einem neuen Buch auf ungewöhnliche Weise durchleuchtet.

Als der Journalist Jan Feddersen in den 1990ern nach Berlin kam, um bei der politische eher linken taz als Redakteur anzufangen, war eines seiner herausragenden Merkmale, dass er sich leidenschaftlich für die Sichtbarkeit von LGBTIQ-Themen einsetzte. Er besprach schwul-lesbische Buchveröffentlichungen, Queer-Cinema-Produkte, die neuen Ausstellungen im Schwulen Museum, kurz: Dinge, die die meisten Tageszeitungen nur sporadisch berücksichtigten. Weil «man» meinte, das seien Minderheitenthemen. Feddersen schaffte Platz für sie und behandelte sie genauso selbstverständlich wie alles andere. Eine Form von Aktivismus, die Feddersen für viele zu einer Art LGBTIQ-Ikone machte.

Er nutzte später seine Kontakte, um die Idee des Elberskirchen-Hirschfeld-Hauses zu lancieren, das die verschiedenen kleinen und grossen queeren Archive in Berlin unter einem Dach beherbergen sollte. Aus dem Projekt wurde nichts, u.a. weil die queere Szene Berlins (und die entsprechenden Institutionen mit Archiven) so sehr zerstritten waren, dass es unmöglich war, sie zu einem «E2H» zu einen. Feddersen selbst wurde aus der Szene attackiert, weil er angeblich nicht «queer» genug sei oder nicht «richtig» queer (wie Transaktivistin Nora Eckert wiederholt schreibt). Man warf Feddersen – dem ehemaligen Mitglied im Kommunistischen Bund – vor, «rechts» zu sein, kombiniert mit dem Vorwurf der Transfeindlichkeit.

Publizist Jan Feddersen auf dem taz lab, 2024
Publizist Jan Feddersen auf dem taz lab, 2024 (Bild: Molgreen/CC BY-SA 4.0)

Feddersen startete die «Initiative Queer Nations», die so wie einst Magnus Hirschfeld ein Jahrbuch herausgibt. Und er moderiert/organisiert viele Veranstaltungen der Reihe «Queer Lectures».

Rauheit des Bezirks Wozu diese lange Präambel? Feddersen lebt seit seinem Umzug nach Berlin vor 28 Jahren in Neukölln, direkt an der Sonnenallee. Er kam dorthin, noch bevor die Hipster (wie er sie nennt) und Erasmus-Student*innen den Mietspiegel verdorben haben und lange bevor dieser Stadtteil zu einem Eldorado für alle wurde, die sich «cool» wähnen und die Rauheit des Bezirks – mit seiner ausgeprägten «Migra-Szene» – gleichsetzen mit dem, was sie von der deutschen Hauptstadt als filmreifes (Party-)Setting erwarten.

Er kam zur Sonnenallee, lange bevor diese zur «berüchtigsten Strasse des Bezirks» wurde, als nach dem 7. Oktober 2023 Unterstützer*innen der Hamas direkt vor seiner Haustür anfingen, Süsswaren zu verteilen, um den Terrorangriff auf Israelis als vermeintlichen Befreiungsschlag gegen die Imperialist*innen zu feiern. Die Sonnenallee sei zu einem «Catwalk von Hamasverstehern» mutiert meint Feddersen in seinem neuen Buch «Meine Sonnenallee: Notizen aus Neukölln».

Jan Feddersens Buch «Meine Sonnenallee: Notizen aus Neukölln»
Jan Feddersens Buch «Meine Sonnenallee: Notizen aus Neukölln» (Bild: Wallstein Verlag)

Im Gespräch mit MANNSCHAFT sagt unser langjähriger Kolumnist Feddersen, die Erfahrung mit den Süssigkeiten und dem Abfeiern der Hamas-Aktion sei für ihn eine grössere «Heimsuchung» gewesen als 9/11. Er verstand die Welt nicht mehr, vor allem die queere linke Welt. Feddersen meint, die Vertreter*innen dieser Welt seien mit ihrem «linken Weltdeutungsgefühl auf Klippen gelaufen» und hätten ihren Kompass verloren.

Er fragte sich, ob all die Menschen, die er nun bei den Pro-Palästina-Demos in seiner Nachbarschaft sah, wirklich all die Jahre seine Nachbar*innen waren – oder falls nicht, wer seine wirklichen Nachbar*innen sind. Er wollte wissen, was sie denken, was sie beschäftigt, was ihre Sorgen sind. Und so machte er sich auf, die Leute in seinem Umfeld zu interviewen, den Friseur an der Ecke, die Verkäuferin an der Supermarktkasse, den jungen schwulen Berufsschüler mit arabischem Familienhintergrund, den er mit seinem Lebenspartner in der Schlange eines Chicken-Imbisses traf usw.

«Delirierende Kommentare»

Die Begegnungen verarbeitete Feddersen zu schlaglichtartigen Kurzreportagen, die er auf Facebook in loser Reihenfolge postete. Um zu zeigen, dass die anti-imperialisten Demos, die regelmässig Schlagzeilen machten, eine überwiegend «extraterritoriale Veranstaltung» sind – kein linken Idealen verpflichtetes Projekt, sondern «phantasmatisch». Er nahm in Kauf, dass ihm in den sozialen Medien «ein paar delirierende Kommentare» um die Ohren fliegen würden. Er habe niemanden gesperrt, sagt Feddersen, sondern die Diskussion gesucht.

Der Lektor des renommierten Wallstein-Verlags wurde auf die ungewöhnliche Facebook-Aktion Feddersens aufmerksam und bot ihm an, die Texte als Buch zu veröffentlichen. Dieses umspannt den Zeitraum vom Oktober 2023 bis zum berüchtigten Dyke* March 2024, wo sich die Vertreter*innen einer queerfeministischen Revolution quasi gegenseitig zerfleischten («irgendwo musste ich ja aufhören», so Feddersen, die Dyke*-March-Katastrophe war da durchaus passend, findet er).

So liegen jetzt also die 240 Seiten dieses Tagebuchs eines Traumas als Buch vor. Und laden an vielen Stellen ein, Feddersen auf den Streifzüge rund um die Sonnenallee zu begleiten. Feddersen wollte dabei kein bewusst «schwules» Buch schreiben. Aber er ist schon als selbstbewusster, offen schwuler Mann unterwegs, was man durchweg merkt. Er selbst sagt, sein «Gaydar» sei angeschaltet gewesen. Entsprechende Themen, die ihm auffallen, nimmt er also immer wieder in den Blick. Sei es, wenn es in einem eigenen Kapitel ums Schwuz geht (MANNSCHAFT berichtete), sei es, wenn Feddersen mit seinem Ehemann an einem albanischen Café vorbeikommt und die Männer darin über ihn lachen – mit den Worten «die sind europäisch».

Instantkontakte als Antistresskur

Besonders unterhaltsam sind seine Beobachtungen zum Dating-Verhalten rund um die Sonnenallee (Stichwort: Instantkontakte als Antistresskur). Die queere Migra-Szene ist weitgehend unsichtbar, nach dem Motto «Don’t Ask, Don’t Tell». Feddersen sagt, viele Familien wüssten von ihren homosexuellen Kindern und deren Partner*innen, würde diese oftmals auch akzeptieren. Aber sie blieben in der Öffentlichkeit unsichtbar.

Eine besonders anrührende Geschichte hat es nichts ins Buch geschafft, nämlich die von den zwei Jungs aus dem Chicken-Imbiss. Sie sind 17 und 18 Jahre alt und haben sich entschlossen, gemeinsam auf eine Berufsschule zu gehen, um so viel Zeit wie möglich zusammen zu verbringen. Sie wollen ihr ganzes weiteres Leben zusammen verbringen, erzählten sie Feddersen, aber nicht für alle sichtbar. Sondern privat, mit sich und mit ihren Familien. Deshalb baten sie Feddersen, ihre Story nicht mit allen Details ins Buch aufzunehmen.

«Wann haben wir denn den ersten Pride in Gaza-Stadt?»

Jan Feddersen, Publizist

Feddersen meint, die Queers-for-Palestine-Bewegung sei ein «Schlag ins Gesicht für LGBTIQ aus entsprechenden Ländern, die es nach Berlin geschafft haben». Die queeren Strukturen, die es in Palästina vor Ausbruch des aktuellen Krieges gab, seien im Untergrund und von Verfolgung bedroht, wie man das aus der BRD in den homophoben 1950er Jahren kennt (MANNSCHAFT berichtete). «Wann haben wir denn den ersten Pride in Gaza-Stadt», fragt Feddersen provokant all diejenigen, die meinen, es würde Queers in Palästina so gut gehen, wären da nicht die Israelis.

Fahrzeug der Polizei auf der Sonnenallee
Fahrzeug der Polizei auf der Sonnenallee (Bild: Soeren Stache/dpa)

«Was ist an Normalität so schlimm?»

Im MANNSCHAFT-Gespräch verrät er auch, was er als nächstes machen will: ein Buch über queere Normalität. Eine Serie von Porträts soll es werden, die fragt, was an «Normalität» so schlimm sein soll. Damit wolle er sich gegen die «Aufgeheiztheit der queeren Szene» wenden, wie er sagt.

Denn die Queer-Bewegung, in ihrer jetzigen Ausformung, sei – anders als früher die schwul-lesbische Bewegung – nur lebensfähig, weil sie rundum staatlich finanziert sei. Wenn Leute wie Donald Trump und möglicherweise auch die neue bundesdeutsche Regierung die entsprechenden Fördergelder streichen bzw. anders investieren, bleibt abzuwarten, was übrigbleiben wird. Und was sie wie neu formieren wird.

«Ich weiss, was es bedeutet, im ländlichen Raum Vielfalt zu leben.»Sophie Koch ist die neue Queerbeauftragte (MANNSCHAFT berichtete).

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