HIV-Prävention in Schulen: Hingehen, wo es weh tut
Matthias Gerschwitz hat vor über 30 Jahren sein positives Testergebnis bekommen
Er «wirkt offen, authentisch und zugewandt», schreibt ein münsterländisches Regionalblatt über seine Präventionsveranstaltungen zum Thema HIV/Aids, die Matthias Gerschwitz zum 15. Mal in Folge in der Region absolviert hat. Aber der Berliner ist auch anderswo unterwegs.
«Als mich die Aids-Hilfe Ahlen 2011 fragte, ob ich als Berliner bereit wäre, in den ‹ländlich geprägten Flächenkreis Warendorf› zu kommen, habe ich spontan zugesagt», erinnert sich der Autor. «In den grossen Städten ist der Umgang mit HIV durch die Möglichkeit der Anonymität sicherlich entspannter, aber in den regionalen Bereichen kann und muss man noch viel Wissen vermitteln.» Das ist sehr euphemistisch formuliert, sagt Gerschwitz, denn in manchen ländlichen Gebieten halten sich Vorurteile oft sehr lange.
Das Anliegen des mittlerweile 65-jährigen Berliners, der vor mehr als 30 Jahren sein positives HIV-Testergebnis bekam, ist es, mit der eigenen Geschichte und aktuellen Informationen vor allem Diskriminierung und Ausgrenzung abzubauen. Und dafür stellt er sich bundesweit und im deutschsprachigen Raum in etwa 100 Veranstaltungen im Jahr vor Schüler*innen der Klassenstufen 8 bis 11, geht in Berufs- und Pflegeschulen oder hält Lesungen aus seinem Buch «Endlich mal was Positives». Das hat er 2009 verfasst und 2018 aktualisiert; es ist nach wie vor das einzige deutschsprachige Buch zum Thema, das ein HIV-Infizierter selbst geschrieben hat.
«Zu den Schulveranstaltungen bin ich gekommen wie die Jungfrau zum Kind», sagt Gerschwitz grinsend. «Als das Buch 2009 herauskam, hörte ich von vielen Seiten, dass man damit in die Schulen müsse. Aber wie macht man das? Noch bevor ich mir eine Strategie dazu überlegen konnte, kam die Aids-Hilfe Frankfurt am Main 2010 nach einer Lesung mit einer entsprechenden Anfrage auf mich zu. Damit ging es los; der Rest war Mundpropaganda, vor allem unter den Aidshilfen, und eine recht ordentliche Medienresonanz. Wobei es damals wohl mehr die Tatsache war, dass da jemand freiwillig von einer Infektion erzählt, die doch eigentlich in die ‹Schmuddelecke› gehöre, und sich damit angreifbar mache.» Auch heute hört er das noch gelegentlich, wenn auch nicht mehr so häufig.
An seine erste Veranstaltung 2010 kann er sich noch lebhaft erinnern. Die war in einer Hauptschule in Frankfurt-Höchst, 8. Klasse. «Ich habe sieben Jahre lang in Frankfurt gelebt, daher ahnte ich schon, was auf mich zukommt: ‹Migrationshintergrund›, ‹Bildungsferne› und ‹Parallelgesellschaft›. Ich hatte keine Ahnung, wie die Jugendlichen reagieren, wenn ein schwuler Mann vor ihnen steht und von HIV erzählt.»
Etwa 60 Schüler*innen sassen erwartungsvoll auf dem Boden der Turnhalle. Obwohl er eigentlich geplant hatte, aus seinem Buch zu lesen, klappte er es wieder zu und fing lieber an, zu erzählen. Dann hat er einfach mal eine kurze Frage in die Runde gestellt. «Sofort gingen an die 40 Arme hoch, und alle wollten etwas beitragen», so Gerschwitz schmunzelnd. «Ab da war kein Halten mehr. Ich bin bis zum Schluss mit Fragen bombardiert worden.»
Natürlich waren auch merkwürdige Fragen dabei. Etwa: «Wann sind Sie schwul geworden?» Natürlich habe er auch die ernsthaft und ehrlich beantwortet – denn wer eine Frage habe, offenbare eine Wissenslücke, die man füllen könne. «Da habe ich zum ersten Mal festgestellt, dass die sogenannte ‹Bildungsferne› eigentlich eine ‹Antwortferne› ist.
Die Jugendlichen hätten Fragen, die ihnen weder in der Schule noch zuhause ausreichend beantwortet werden. Und bevor sie sich ihr Wissen auf der Strasse holen, gibt lieber er die Informationen, und nicht nur zum Thema HIV. «Ich gehe ja auch ganz offen und selbstverständlich damit um, dass ich schwul bin. Das nötigt manchem der Jugendlichen Respekt ab, auch wenn es vielleicht nicht ganz ins eigene Weltbild passt.»
Und so tauchte schon bei der ersten Veranstaltung eine Frage eines Schülers auf, die Gerschwitz seitdem begleitet: ob er einen Freund habe. Und wenn er dann antwortet, «Nein, ich wäre noch zu haben, falls du Interesse hast», ist das Gelächter gross, aber leitet zur Überlegung, wie man in Beziehungen damit umgeht, wenn der Partner mit HIV infiziert ist. Oder die Partnerin, denn schliesslich ist HIV ja nicht von der sexuellen Orientierung abhängig. Und damit sei man wieder im Thema.
«Wenn du vor Schulklassen stehst, musst du erst einmal den Reset-Knopf drücken, um dich auf den Horizont deiner Zuhörerschaft einzustellen. Die Lebenserfahrung, die ich habe und vor allem mein Wissen über HIV kann ich ja nicht bei Anderen voraussetzen, erst recht nicht bei Jugendlichen.» Sexuell übertragbare Krankheiten seien zumeist Stoff in der achten Klasse, fährt Gerschwitz fort. Darin aber läge ein Problem. In dem Alter seien Mädchen und Jungen unterschiedlich entwickelt, und beim Thema «Sexualität» kreisten vor allem männliche Schüler noch zwischen Unwissenheit und Faszination, zwischen Phantasie, Realität und angeberischer Selbstdarstellung. «Ein Lehrer hat das mal sehr schön formuliert: ‹In der achten Klasse ist es zu früh, in der zehnten Klasse ist es zu spät – also nehmen wir die Neunten.›» Noch lieber aber seien ihm allerdings die Zehner oder Elfer, da könne man schon von ersten praktischen Erfahrungen ausgehen.
In den ersten Jahren hat Gerschwitz in den Schulen Auszüge aus dem Buch vorgelesen. Im Anschluss konnten die Schüler*innen Fragen stellen. Nach dem langen Zuhören hätten die meisten die Fragen, die sie zwischendurch hatten, aber schon wieder vergessen, oder sie hätten sich nicht mehr getraut. Apropos trauen: Während Haupt- bzw. Mittelschüler*innen völlig schmerzfrei vor der Klasse ihre Fragen stellen, seien Gymnasiast*innen eher zurückhaltend. «Die kommen dann lieber nach der Veranstaltung zu mir, damit niemand mitbekommt, dass sie Rückfragen haben. Offensichtlich befürchten sie, ausgelacht zu werden.»
Deshalb hat er seinen Vortrag umgebaut. «Ich erzähle, anstatt zu lesen. Das ist unterhaltsamer und spannender. Und die Schüler*innen können mich jederzeit mit Fragen oder Kommentaren unterbrechen, auch wenn sie gar nicht zum aktuellen Themenkomplex gehören. Denn offensichtlich spukt dann gerade eine Frage im Kopf herum, die beantwortet werden will.»
Und so drehen sich viele Fragen eher um Sexualität als um HIV, vor allem um (männliche) Homosexualität. Damit kennen sich die wenigsten Schüler*innen aus, und wenn, dann nur durch Vorurteile. Dass «schwul» auf dem Schulhof nach wie vor ein Schimpfwort ist, weiss auch Gerschwitz. Gerade deswegen benutzt er den Begriff regelmässig in seinen Vorträgen. «Wenn die Jugendlichen mitbekommen, dass ich völlig selbstverständlich mit mir, meinem Schwulsein und dem Wort umgehe, kann ich vielleicht in ihrer Denke etwas ändern», hofft er. Schliesslich könne er deutlicher werden als die Lehrkräfte. Die seien ihm oft dankbar, dass er so offen sei.
Während Mädchen ihr Unverständnis über promiskuitives Sexualverhalten äussern – offensichtlich gibt es in dem Alter noch romantische Vorstellungen –, seien Jungs eher an der handfesten Praxis interessiert. «Seit einigen Jahren geht es häufig um meinen ‹body count›. Die Frage beantworte ich natürlich nicht, denn – frei nach dem früheren Bundesinnenminister Thomas de Maiziére – meine Antwort könnte die Jugendlichen verunsichern. Abgesehen davon geht sie das eh nichts an.»
Andere Fragen beantwortet er mit einem Augenzwinkern. So habe er auf die Frage eines Achtklässlers, ob Analverkehr schmerzhaft sei, nur entgegnet, dass es bei jedem anders sei – und man es im Zweifelsfall selbst ausprobieren müsse (das sagt unser Dr. Gay zu der Frage). Daraufhin sei ihm die Lehrerin nach der Veranstaltung vor Begeisterung fast um den Hals gefallen.
Eine andere Lehrerin schrieb ihm nach seinem Auftritt von der ausgesprochen positiven Resonanz ihrer Klasse. Nur sie selbst müsse sich entschuldigen, denn sie habe der Klasse erzählt, dass da jemand mit einem ganz schweren Schicksal käme und man zu ihm sehr nett sein müsse. Da habe sie aber noch nicht wissen können, dass da ‹so einer› wie er auftauche. Gerschwitz: «Wir haben dann abends bei einem Bier herzlich darüber gelacht.»
Von sächsischen Gesundheitsämtern am häufigsten gebucht Viele erwachsene Besucher*innen seiner Lesungen attestieren Gerschwitz Mut, so offen mit dem Thema HIV umzugehen. Auch in den Schulen hört er das gelegentlich. Das habe aber mit Mut nichts zu tun, erklärt er. Es gehe darum, etwas zu vermitteln, die Situation für Menschen mit HIV zu erleichtern. «Nach all den Erfolgen im medizinischen Bereich und der Wirksamkeit der Therapie müssen wir an die gesellschaftlichen dicken Bretter ‘ran. Wenn ich immer in meiner Bubble bleibe, ändert sich nichts. Also gehe ich raus – auch dahin, wo es wehtut.» Auch wenn Gerschwitz seine Dienste bundesweit anbietet, wird er von sächsischen Gesundheitsämtern am häufigsten gebucht. «Da grummelt es schon ein wenig im Bauch, wenn du weisst, jetzt kommst du in eine Hochburg von AfD-Wählern», gibt er freimütig zu.
Fragen mit rechtsextremem Hintergrund Bislang hat er persönlich noch keine Anfeindungen erlebt. «Aber wenn auf die Frage, wie viele Menschen in Deutschland mit HIV leben, als Antwort ‹1488› kommt, und Du weisst, dass sowohl die ‹14› als auch die ‹88› einen rechtsextremen Hintergrund haben, dann wird dir schon ein wenig anders», muss er einräumen.
»Ich habe den Schüler direkt darauf angesprochen, aber ausser Ausflüchten kam nichts. Daraufhin bin ich in die Offensive gegangen und habe ihm erklärt, dass er doch wenigstens die Eier in der Hose haben solle, zu seiner Überzeugung zu stehen. Da wurde es schlagartig ruhig im Klassenraum. Und rate mal, wer rot geworden ist. Ich war es jedenfalls nicht.»
«Viele HIV-positive Menschen reden öffentlich nicht über ihre Infektion. Aber wenn man sie aus Furcht vor Diskriminierung und Ausgrenzung verschweigt, ist es nicht okay.»
Matthias Gerschwitz
Auf Konfrontation legt es Gerschwitz nicht an. Aber wenn ihm jemand dumm kommt, dann reagiert er entsprechend. «Ich habe das Glück, mit einer grossen Portion Selbstsicherheit ausgestattet worden zu sein», erklärt er. «Ich lasse mir nicht alles gefallen, sondern verteidige klar und deutlich meine Position.»
Das mag man mutig finden. «Viele HIV-positive Menschen reden öffentlich nicht über ihre Infektion … und jede*r muss das für sich selbst entscheiden. Wenn HIV wegen der wirksamen Therapie kein Thema ist, ist das okay. Aber wenn man die Infektion aus Furcht vor Diskriminierung und Ausgrenzung verschweigt, ist es nicht okay. Leider sind die Ängste ja berechtigt, wie man immer wieder feststellen muss. Und so lange es diese Ängste gibt, müssen wir die Ursachen dafür angehen. Durch Aufklärung, Information, Prävention.»
Doch die Arbeit werde immer schwieriger, es fehle an der finanziellen Ausstattung der Aids-Hilfen und Gesundheitsämter. Im letzten Jahr standen die Aids-Hilfen in Nordrhein-Westfalen fast vor dem Aus, weil über ein Drittel der Mittel gekürzt werden sollten. Gerade im ländlichen Raum, wo Aids-Hilfen personell extrem knapp besetzt sind, wären damit viele Projekte dem Cut zum Opfer gefallen. Manche Organisationen können zum Glück auf Sponsoren zählen, die Präventionsmassnahmen à la Gerschwitz finanziell unterstützen. Gesundheitsämter können das allerdings nicht. In Sachsen wurden aktuell die Mittel der Landkreise drastisch gekürzt; auch die vier Aids-Hilfen im südöstlichen Bundesland stehen vor schier unlösbaren Problemen. Die Argumentation sei fast immer dieselbe: Wenn um die 95% aller HIV-Infizierten unter der Nachweisgrenze sind, bestehe ja kaum noch Ansteckungsgefahr.
Folgen von Sparmassnahmen Doch wohin Sparmassnahmen am falschen Ort führen können, werden wir bald erleben können, glaubt der Autor: Die Schliessung von USAID durch die Trump-Administration werde in den ärmeren Ländern potenziell zu Millionen Aids-Toten führen, was wiederum auch für HIV-infizierte Menschen Fluchtanreize schaffe (MANNSCHAFT berichtete).
Eines sollte aber klar sein, meint Gerschwitz: Die Behandlung einer HIV-Infektion ist auf lange Sicht teurer als die Prävention und damit die Vermeidung von Infektionen. Und wo könnte man besser damit beginnen als in Schulen?
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