«Warum ist so wenig über die türkische Pornoszene bekannt?»
Interview mit Emre Busse, der an der Uni Bremen Post-Pornografie unterrichtet
Der Filmemacher, Kurator, Partyveranstalter und Wissenschaftler Emre Busse schrieb seine Dissertation über Ethnizität, Identität und postkoloniale Perspektiven im Kontext schwuler Pornografie. Seit 2023 unterrichtet er an der Uni Bremen Post-Pornografie – ein im deutschsprachigen akademischen Betrieb seltenes Fach.
Die Forscherin Madita Oeming hat kürzlich das Buch «Porno: Eine unverschämte Analyse» veröffentlicht, um Leser*innen «pornokompetent» zu machen (MANNSCHAFT berichtete). Würdest du sagen, dass du Pornokompetenz hast – und wozu ist diese (aus deiner Sicht) wichtig in unserer aktuellen Gesellschaft? Maditas Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einer Diskussion, die in unserer Gesellschaft schon lange überfällig ist. Pornografie wird im deutschsprachigen Raum oft verdrängt oder sehr emotional diskutiert – aber selten wirklich analysiert oder reflektiert. Genau da setzt das Buch an und versucht, einen sachlicheren, aufgeklärten Umgang zu fördern.
Ich würde über mich schon behaupten, dass ich «Pornokompetenz» habe. Ich finde es wichtig, dass wir lernen, mit pornografischen Inhalten kompetent umzugehen – also zu verstehen, wie sie wirken, was sie zeigen (und was nicht) und welche Vorstellungen von Sexualität sie prägen. Ohne diese Auseinandersetzung bleibt vieles im Verborgenen oder wird falsch eingeordnet. Deshalb sind offene Gespräche, Medienkompetenz und wissenschaftliche Perspektiven so wichtig.
Du unterrichtest an der Uni Bremen Post-Pornografie. Wie kam es zu diesem Lehrauftrag – und wieso gerade Bremen und nicht Berlin, München, Leipzig oder Tübingen? Und was heisst Post-Pornografie? 2023 wurde ich vom Institut für Kunstwissenschaft-Filmwissenschaft-Kunstpädagogik der Uni Bremen eingeladen, im Rahmen der Ringvorlesung «Critical Porn Studies» ein Paper aus meiner Dissertation vorzustellen. Daraus ergab sich dann die Möglichkeit, eigene Seminare anzubieten – was ich gern angenommen habe, da mein Forschungsschwerpunkt auf Pornografie liegt. So konnte ich das Thema aus einer künstlerisch-wissenschaftlichen Perspektive in die Lehre einbringen.
2024 habe ich zusammen mit Annie Sprinkle und Beth Stephens ein Seminar zu Ecosexuality gegeben. Wir haben dabei nicht nur ihre aktuellen Arbeiten behandelt, sondern auch zentrale Stimmen aus der feministischen Theorie und Kunstgeschichte in den Fokus gerückt – und damit den Studierenden in Bremen neue Zugänge eröffnet.
Warum gerade Bremen und nicht Berlin, Leipzig oder Tübingen? Ganz ehrlich: Das müsste man wohl dort vor Ort fragen. Ich finde es jedenfalls sehr schade, dass die Porn Studies hierzulande so ein Nischendasein führen. Hallo! Das Thema ist omnipräsent in unserem Leben, nur reden wir nicht genug darüber. Ich kann nur sagen, dass ich der Uni Bremen sehr dankbar bin, dass sie diesen Diskurs ermöglicht – und ihn auch aktiv mitgestalten will.
Post-Porn bezeichnet eine Bewegung innerhalb der Pornografie, die traditionelle Darstellungen von Sexualität hinterfragt und alternative, oft feministische, queere oder künstlerische Perspektiven einbringt. Ziel ist es, gesellschaftliche Normen über Sexualität, Geschlechterrollen und Körperbilder aufzubrechen. Post-Porn kann provokativ, politisch und experimentell sein – und stellt bewusst die Grenzen des Mainstream-Porns infrage.
Zwar schauen auch im deutschsprachigen Raum viele Menschen täglich Pornos, die online so einfach verfügbar sind wie nie zuvor. Trotzdem machen akademische Kreise – in den Kulturwissenschaften – hier einen grossen Bogen ums Thema. Anders ist es in den USA, wo Leute wie Linda Williams seit Jahrzehnten an renommierten Unis wie Stanford Porn Studies unterrichten. Wieso hinkt der deutschsprachige Wissenschaftsbetrieb hier so hinterher – und woher kommt die Berührungsangst, speziell wenn es um queere Themen im Zusammenhang mit Pornografie geht? Auch in Deutschland gab und gibt es Wissenschaftler*innen, die sich mit Pornografie beschäftigen – teils schon parallel zu Linda Williams in den USA. Aber ihre Arbeiten blieben oft Einzelerscheinungen: ein Aufsatz hier, eine Nischenpublikation da. Es hat sich einfach kein dauerhafter, sichtbarer akademischer Diskurs entwickelt. Bis heute wird Pornografie im deutschsprachigen Raum häufig mit einer Mischung aus moralischer Unsicherheit, Berührungsangst und intellektueller Überheblichkeit behandelt.
Dabei geht es bei Pornografie nicht nur um Sexualität oder Lust – sondern auch um Fragen von Macht, Normen, gesellschaftlichen Fantasien, medialer Darstellung und kultureller Produktion. Warum also ein Genre ignorieren, das so viele Schnittstellen zu spannenden Disziplinen bietet – von Film und Fotografie über Soziologie, Psychoanalyse und Ästhetik bis hin zur Medien- und Repräsentationsforschung?
Und wir reden hier nicht über ein Randphänomen: Die Pornoindustrie ist ein globaler Milliardenmarkt mit enormem kulturellem Einfluss. Sie aus Angst vor Tabubrüchen akademisch auszuklammern, ist nicht nur altmodisch, sondern auch unehrlich. Besonders deutlich wird das, wenn queere Perspektiven ins Spiel kommen – da zeigt sich oft, wie stark konservative Reflexe in der Wissenschaft noch wirken.
«Die Pornoindustrie ist ein globaler Milliardenmarkt mit enormem kulturellem Einfluss. Sie aus Angst vor Tabubrüchen akademisch auszuklammern, ist nicht nur altmodisch, sondern auch unehrlich»
Emre Busse, Pornoforscher
Wenn der deutschsprachige Wissenschaftsbetrieb den Anschluss an internationale Debatten nicht komplett verlieren will, muss sich dringend etwas bewegen. Porn Studies sind kein Nischenthema – sie gehören mitten rein in die Analyse zeitgenössischer Kultur.
Ist es schwieriger dieses Gebiet zu erforschen und zu unterrichten, wenn man ein Mann ist, statt eine Frau? Und welchen Einfluss hat die eigene sexuelle Orientierung auf die Berufschancen bei Porn Studies? Ich glaube, es ist generell nicht leicht, sich akademisch ausschliesslich mit Pornografie zu beschäftigen – unabhängig von Geschlechtsidentität oder biologischem Geschlecht. Die grössten Hürden sind strukturell und in den gewachsenen Traditionen der Hochschullandschaft verankert. Natürlich ist dabei auch wichtig zu sagen: Frauen erleben in der Wissenschaft weiterhin viele Formen von Ungleichbehandlung. Aber für mich geht es nicht um einen Konkurrenzvergleich zwischen Geschlechtern.
Was mich freut, ist jede Entwicklung hin zu mehr Offenheit und Vielfalt in der Forschung – besonders bei so sensiblen Themen wie Pornografie. Denn hier ist die moralische Aufladung immer noch gross, auch im akademischen Raum. Es passiert schnell, dass Leute versuchen, einem Etiketten anzuhängen – sei es in Bezug auf Geschlecht, sexuelle Orientierung oder persönliche Haltung – und damit die Arbeit zu diskreditieren oder zu reduzieren.
Ich halte solche Zuschreibungen für unproduktiv. Entscheidend ist, mit welchem Engagement und welcher Sorgfalt man forscht und lehrt – und das gilt in meinem Bereich genauso wie in jedem anderen wissenschaftlichen Feld.
Laura Kipnis hat in ihrem Buch «Bound and Gagged: Pornography and the Politics of Fantasy in America» 1996 darauf hingewiesen, dass in Pornos oft Themen behandelt würden, die eine Gesellschaft bewegen, über die sie aber ungern spricht. Daher ist die Analyse von Porno auch eine Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen. Was für Entwicklungen interessieren dich – und was hast du bei deiner Forschung Neues/Interessantes (für dich) entdeckt? In meiner Dissertation habe ich mich besonders mit der Frage beschäftigt, wie Ethnizität in Pornos dargestellt wird – oft über stereotype Bilder, koloniale Erzählmuster und unausgesprochene gesellschaftliche Unsicherheiten, die in der Lust ihren Ausdruck finden. Was mich dabei besonders interessiert hat: Diese Darstellungen sind nicht immer nur eindeutig rassistisch oder kolonial. Sie können auch als komplexe Aushandlungen von kulturellen Unterschieden gelesen werden – manchmal sogar als Orte, an denen bestehende Strukturen hinterfragt oder aufgebrochen werden.
Pornografie wird damit zu einem Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse – aber auch zu einem Raum, in dem Fantasien Dinge verhandeln, die in anderen Kontexten kaum besprechbar sind. Das kann irritierend sein, aber genau das macht es auch so spannend: Pornos zwingen uns, genauer hinzusehen – und Fantasien nicht nur moralisch oder oberflächlich zu beurteilen, sondern als Teil grösserer kultureller Dynamiken zu verstehen.
Was sind die zentralen Ergebnisse deiner Forschung? Meine Dissertation schliesst eine Forschungslücke im Bereich der Darstellung von Ethnizität in schwuler Pornografie. Bislang konzentrierte sich die akademische Diskussion in Europa vor allem auf französische Produktionen. Die französische Wissenschaft erwies sich dabei als besonders sensibel gegenüber kolonialen und orientalistischen Narrativen und bemühte sich, diese Filme stärker in wissenschaftliche Debatten und Archive einzubeziehen.
Allerdings fehlte bislang eine systematische Auseinandersetzung mit Beispielen aus Deutschland, der Türkei sowie mit frühen Produktionen aus Osteuropa. In meiner Arbeit habe ich aufgezeigt, wie eng diese geopolitischen Räume miteinander verflochten sind – und dass sie gemeinsam betrachtet werden müssen, wenn wir über transnationale Pornografie sprechen: sei es im Hinblick auf Ästhetik, Rezeption oder Fragen der Archivierung.
Ein zentrales Ergebnis meiner Forschung war, dass ich durch persönliche Kontakte Vertrauen zu einigen Pornoproduktionsfirmen aus Deutschland der 1990er- und frühen 2000er Jahre aufbauen konnte. Viele dieser Filme hatten bislang keinerlei Archivstatus – weder in der Kulturindustrie noch im wissenschaftlichen Diskurs. Mit meiner Forschung habe ich einen Raum geschaffen, in dem dieses bereits existierende, aber bislang unsichtbare Archiv sichtbar werden konnte.
Darüber hinaus greife ich einen Gedanken auf, den Tim Dean in «Porn Archives» formuliert: Können wir heute überhaupt noch von einem stabilen Pornoarchiv sprechen? Viele pornografische Inhalte existieren nur so lange, wie sie von privaten Account-Inhaber*innen online gehalten werden. Genau deshalb ist es so wichtig, diese Inhalte zu analysieren, zu dokumentieren und zu archivieren – bevor sie spurlos verschwinden.
Lange wurde die schwule Pornowelt von den Erzeugnissen von US-Studios dominiert, die das Bild von Pornos in der Community dominierten. Inzwischen hat Reality Porn und Only Fans viel verändert (MANNSCHAFT berichtete). Wie wirkt sich das – aus deiner Sicht – auf Ethnizitäts- und Identitätsdebatten aus? Gibt es heute mehr Repräsentation jenseits von überwiegend weissen, muskulösen, jugendlichen cis Männern? Ja, das stimmt absolut. Plattformen wie OnlyFans, JustForFans oder Clips4Sale haben dazu geführt, dass heute eine deutlich vielfältigere Gruppe von Performer*innen sichtbar ist und auch finanziell mitverdienen kann. Die lange dominierende Darstellung von weissen, cis-geschlechtlichen, muskulösen Männern – wie sie vor allem von US-Studios geprägt wurde – wird dadurch zunehmend aufgebrochen.
Spannend ist dabei vor allem, dass lokale Darsteller*innen immer mehr ihre eigenen Persönlichkeiten, Ästhetiken und kulturellen Hintergründe in den globalen digitalen Raum einbringen. Das sorgt nicht nur für mehr Repräsentation, sondern verändert auch unser Bild davon, wie Pornos aussehen und was sie zeigen dürfen.
Im Gegensatz zur klassischen Studio-Pornografie – mit ihren durchinszenierten Geschichten, perfektionierten Bildern und oft sehr einheitlichen Körperidealen – geht es auf heutigen Plattformen viel mehr um Identität, Intimität und Selbstinszenierung. Man kann sogar sagen, dass gerade zwei Ästhetiken nebeneinander existieren: auf der einen Seite die alte, filmisch geprägte Tradition, auf der anderen Seite eine neue, persönliche und oft viel rohere Art von Pornografie.
Genau mit diesen Entwicklungen beschäftige ich mich gerade auch in einem Buchbeitrag. Besonders interessant finde ich ausserdem, dass durch die gestiegene Sichtbarkeit lokaler Performer*innen auch Fragen nach Zensur und rechtlicher Lage wichtiger werden. In vielen Ländern entstehen dadurch neue «moralische Paniken», strengere Regelungen oder sogar strafrechtliche Konsequenzen. Digitale Plattformen verbreiten also nicht nur Lust und Begehren weltweit – sie machen auch die damit verbundenen kulturellen und rechtlichen Spannungen sichtbarer.
Du bist in Istanbul aufgewachsen. Über die Pornoszene der Türkei – speziell eine schwule – ist hierzulande wenig bekannt. Wie waren/sind die Entwicklungen dort? Und was ist dort anders als bei zeitgleichen Filmen von US-Studios? Ich finde es ehrlich gesagt schwer nachvollziehbar, warum in Deutschland so wenig über die türkische Pornoszene bekannt ist – vor allem über die schwule. Immerhin kamen die ersten Gastarbeiter*innen aus der Türkei schon 1965 nach Deutschland und sind seitdem ein fester Bestandteil der Gesellschaft und der diasporischen Kulturen. Dieses mangelnde Wissen hat, aus meiner Sicht, viel damit zu tun, dass sich Deutschland oft schwertut, sich wirklich als offene, vielfältige Gesellschaft zu begreifen.
«Dieses mangelnde Wissen hat viel damit zu tun, dass sich Deutschland oft schwertut, sich wirklich als offene, vielfältige Gesellschaft zu begreifen»
Emre Busse, Pornoforscher
Aus meiner eigenen Perspektive lässt sich Folgendes sagen: Der physische Vertrieb von Pornofilmen ist in der Türkei illegal. Dadurch wurde die türkische Pornoszene lange Zeit vor allem von ausländischen Produzent*innen oder von Menschen aus der türkischen Diaspora in Europa geprägt. Viele Filme wurden zwar in der Türkei gedreht, konnten dort aber nicht zirkulieren – erst das Internet hat es ermöglicht, dass ein breiteres Publikum diese Inhalte sehen und selbst produzieren konnte.
Gerade diese frühen Produktionen, die von aussen kamen, waren häufig stark von orientalistischen Klischees durchzogen – was auch den Vergleich zu vielen US-amerikanischen Mainstream-Filmen nahelegt. Wobei man natürlich sagen muss: Auch in den USA gibt es sehr diverse, queere und alternative Pornokulturen.
In der Türkei selbst beobachten wir heute eine spannende Entwicklung: Eine neue Generation von Performer*innen nutzt Plattformen wie OnlyFans, um unabhängig Inhalte zu produzieren. Viele dieser Akteur*innen bewegen sich dabei in einer Doppelrolle – als Pornodarsteller*innen und gleichzeitig, oft ungewollt, auch als politische Figuren. In einem zunehmend autoritären Staat trifft die Repression vor allem cis-heterosexuelle Frauen, die mit rechtlichen Konsequenzen, öffentlicher Stigmatisierung und moralischem Druck zu kämpfen haben – befeuert durch einen stark konservativ-sunnitischen Islam (MANNSCHAFT berichtete).
Damit schliesst sich auch der Kreis zu einer früheren Frage: Genau hier zeigt sich, warum Porn Studies so wichtig sind. Wenn selbst in Ländern wie Schweden über ein Verbot von Plattformen wie OnlyFans diskutiert wird, zeigt das, dass moralische Panik um Sexualität und Sexarbeit kein rein autoritäres Phänomen ist. Ein transnationaler Blick in den Porn Studies hilft uns, diese komplexen Verflechtungen von Zensur, Moral und Widerstand besser zu verstehen.
Was sagen eigentlich deine Eltern und Freunde dazu, dass du Pornografie erforschst und unterrichtest? Meine Eltern, meine Familie und auch meine Freund*innen reagieren nicht mit der «Moral Panic», wie sie oft in der Gesellschaft oder in Institutionen zu beobachten ist. Sie sehen, wie viel Arbeit, Überlegung und Engagement ich in meine Forschung stecke, und versuchen, mich zu unterstützen – so, wie es Menschen tun, die einem nahe stehen und sehen, dass man in einem künstlerischen oder akademischen Bereich mit Leidenschaft arbeitet.
Am meisten bedeutet mir ihre Bereitschaft, zu verstehen, worum es in meiner Arbeit geht – auch wenn das Thema unkonventionell oder missverstanden ist – und mir zur Seite zu stehen, wenn ich mit Vorurteilen oder unfairer Behandlung konfrontiert werde. Diese Form der emotionalen und intellektuellen Unterstützung ist für mich von unschätzbarem Wert.
Pornos wird oft vorgeworfen, sexistisch und objektifizierend zu sein. Lässt sich das vermeiden? Oder was schlägst du vor, was sich ändern sollte? Diese Themen sollten nicht vermieden werden – genauso wenig, wie wir sexistische oder problematische Narrative in anderen Medien nicht einfach ignorieren können. Es geht nicht darum, Pornografie zu zensieren, sondern darum, einen offenen, kritischen Diskurs zu ermöglichen. Genau darin liegt die Stärke einer demokratischen Gesellschaft: dass wir auch über Unangenehmes sprechen können, um ein tieferes Verständnis zu entwickeln – anstatt Themen zu tabuisieren.
Vermeidung führt oft zu seltsamen Verzerrungen. Ein Beispiel ist der Begriff «ethische Pornografie», der in letzter Zeit häufiger auftaucht. Was soll das eigentlich genau bedeuten? Kaum jemand kann das klar beantworten – und trotzdem wird der Begriff schnell zu einem moralischen Label. Sprechen wir von ethischen Horrorfilmen oder ethischen Musicals? Eher nicht. Bei Pornografie aber fühlen wir uns offenbar gezwungen, entweder moralisch Stellung zu beziehen oder das Genre zu «entschärfen». Das zeigt vor allem, wie gross das Unbehagen gegenüber dem Medium ist – und wie wenig darüber wirklich gesprochen wird.
Was wir brauchen, ist ein fundierter, offener Dialog – frei von Panikmache oder konservativen Reflexen. Ich begrüsse jede Diskussion, die sich ausserhalb solcher Reaktionsmuster bewegt. Denn das ist der erste notwendige Schritt, um Pornografie nicht nur als gesellschaftliches Problem, sondern als kulturelles Phänomen ernst zu nehmen.
Hast du selbst einen Lieblingsporno? Auf jeden Fall – ich habe definitiv ein paar Favoriten! Viele davon sind tatsächlich die mit schlechtem Schauspiel, weil ich dabei einfach lachen muss. Natürlich weiss jeder, dass der Pizzalieferant nicht wirklich ein Pizzalieferant ist ... aber genau das liebe ich! Diese übertriebene, klischeehafte Inszenierung hat einen ganz eigenen Charme. Ich finde, gerade diese Mischung aus Absurdität und Selbstironie macht Pornografie als Genre so interessant. Lachen ist für mich das Vorspiel beim Pornoschauen. Wenn ich lachen kann, kann ich auch sexuelle Lust empfinden.
Wenn du Pornografie als Thema erforschst, verspürst du dann manchmal selbst Lust, einen zu drehen oder dabei zu sein? Ja, ich mache selbst Pornos – und genau deshalb nehme ich in der akademischen Welt eine doppelte Position ein. Ich beschäftige mich nicht nur theoretisch mit dem Thema, sondern bringe auch verkörpertes Wissen mit – als Performer und Filmemacher. Das gibt mir eine Perspektive, die über die klassische Rolle der wissenschaftlichen Beobachtung hinausgeht. Wenn ich vor der Kamera stehen will, dann tue ich das. Das ist für mich keine schwierige Entscheidung, sondern Teil meiner Praxis, meiner politischen Haltung und meines Beitrags zum Diskurs.
In diesem Jahr wurde ich mit dem Preis für den besten Kurzfilm sowohl beim PornFilmFestival Berlin als auch beim Film and Arts Festival Zürich ausgezeichnet. Ab September gehen meine Filme auf eine Tour durch 40 Städte in den USA. All das zeigt, dass ich eine besondere Perspektive einbringe – nicht nur als jemand, der analysiert, sondern auch als jemand, der gestaltet, ausprobiert und lebt, was er erforscht.
Verfolgst du die Karrieren/Lebensläufe von Pornodarsteller*innen nach Ende ihrer Karriere.u.a. in der Türkei? Können sie «einfach so» wieder in den Alltag zurück oder bleiben sie für immer «markiert»? (Und wie geht die Gesellschaft in der Türkei damit heute um, im Vergleich zu Deutschland oder den USA?) Das ist leider erst heute – durch die Digitalisierung der Pornografie und die sozialen Medien – überhaupt möglich geworden: die Lebensläufe oder Karrieren von Darsteller*innen nach dem Ende ihrer Tätigkeit nachzuverfolgen. Früher waren die meisten Performer in der Türkei Amateure, die nur ein- oder zweimal in Produktionen auftraten – oft anonym oder unter Pseudonymen. Es gab kaum Sichtbarkeit, keine Archivierung und erst recht keine öffentliche Anerkennung.
«Früher waren die meisten Performer in der Türkei Amateure, die nur ein- oder zweimal in Produktionen auftraten – oft anonym oder unter Pseudonymen»
Emre Busse, Pornoforscher
Im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder den USA, wo es zumindest eine öffentliche Debatte über Entstigmatisierung und Rechte von Sexarbeiter*innen gibt, ist die Situation in der Türkei deutlich restriktiver. Dennoch sehe ich in digitalen Plattformen und community-geführten Archiven eine neue Chance: Sie können helfen, Sichtbarkeit und Kontinuität zu schaffen – nicht nur während, sondern auch nach der aktiven Zeit im Porno.
Was war für dich das Spannendste an deiner Lehrtätigkeit in Bremen? Überraschendes Feedback von Studierenden? Kolleg*innen? Eltern von Studierenden? Am spannendsten an meiner Lehrtätigkeit in Bremen finde ich, wie offen die Studierenden mit dem Thema umgehen. Viele teilen schon zu Beginn ihre persönlichen Sichtweisen oder Unsicherheiten im Umgang mit Pornografie – und am Ende des Seminars sagen sie oft, wie spannend und bereichernd es war, das Thema aus ganz unterschiedlichen Perspektiven kennenzulernen.
Einige Studierende begleiten meine Seminare schon von Anfang an und möchten nun selbst eine akademische Laufbahn einschlagen – mit Schwerpunkten wie Porn Studies, Feminismus und kritische Medienforschung. Das ist für mich ein grosses Geschenk.
Auch meine Kolleg*innen sind sehr offen und unterstützend – sowohl was die Inhalte als auch die Zusammenarbeit betrifft. Insgesamt ist meine Lehrerfahrung in Bremen durchweg positiv. Es ist ein Ort, an dem Neugier, Reflexion und wissenschaftlicher Anspruch zusammenkommen.
Was planst du als nächstes … ein weiteres Buch, eine Ausstellung, eine Doku? Aktuell arbeite ich an zwei neuen Filmen. Zum einen habe ich gemeinsam mit anderen eine Oper über Analfissuren geschrieben, bei der ich nun die letzte Inszenierungsphase übernehme. Zum anderen habe ich meine eigene Version von «Don Quixote» gedreht – interpretiert durch die Linse der Pornowelt.
Neben diesen filmischen Projekten schreibe ich an einem Buchkapitel für einen Sammelband zum Thema Männlichkeiten. Ausserdem befinde ich mich in der Vorbereitungsphase für eine Postdoc-Stelle. Meine Arbeit bewegt sich derzeit zwischen Film, wissenschaftlichem Schreiben und Performance – genau diese interdisziplinäre Praxis möchte ich auch weiterhin verfolgen und ausbauen.
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