«Ich sage nicht Darkroom, ich sage: verdunkelter Herrenraum»
Die 100. Tour durch Berlins Regenbogenkiez zeigt auf, wo die aktuelle Probleme liegen
Kurz nach der Pandemie kamen immer weniger Gäste in den Kiez rund um die Motzstrasse. Also taten sich mehrere Queers zusammen und entwickelten eine besondere Kieztour.
Inzwischen ist die Tour etabliert und führt jede Woche kreuz und quer durch die Geschichte und durch die verschiedenen Strassen. Eine Begleitung.
Jurassica Parka steht am Mahnmal für homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus am Nollendorfplatz in Berlin. Die Drag Queen zeigt auf den Schriftzug, der an die Opfer erinnert. «Hier hat jemand mit roter Sprühfarbe HIV Dresden draufgeschmiert», sagt Parka und ergänzt: «natürlich weiss bis heute niemand, was damit gemeint war.» Aber für viele im Kiez sei das ein Beweis gewesen, dass die Einschläge der Gewalt inzwischen immer näher kommen.
Das wird immer wieder deutlich werden bei dieser Tour durch den Regenbogenkiez. Es ist die 100. Ausgabe dieser geführten Tour durch Drag Queens. Die Drag Queen Margot Schlönzke hat sie zusammen mit verschiedenen Unternehmen aus dem Kiez entworfen. «Wir wollen vor allem Brücken bauen», sagt Margot vor Beginn der Jubiläums-Tour. «Immerhin gibt es seit 140 Jahren queeres Leben hier im Kiez und davon kann man doch auch einmal mit Stolz berichten.»
Die Tour findet jeweils am Donnerstagabend statt, maximal mit 25 Teilnehmenden, sie kostet 35 Euro und dauert rund vier Stunden. Unter den Gästen sind nicht nur Mitglieder der queeren Community, manche wollen einfach ihren Kiez endlich näher kennen lernen und einmal einen Darkroom von innen sehen. In Vorträgen vor und in verschiedenen Geschäften geht es um queere Geschichte, um Sex-Arbeit, um Verfolgung, um tödliche Krankheiten, aber auch immer wieder um die ganz grosse Liebe – und den Kampf, diese offen leben zu dürfen.
Doch die Tour ist auch ein bisschen Barhopping und so bekommen schon in der ersten Bar alle einen Begrüssungs-Drink. Die «Heile Welt» ist seit 25 Jahren eine der bekanntesten Bars im Kiez. Wer mit dem Kellner spricht, erfährt, dass auch er inzwischen angegriffen wurde. «Erst vor vier Wochen fuhr hier jemand mit dem Auto durch und warf mit Eiern nach uns», sagt Kellner Bernd. Im Frühjahr habe jemand die Scheibe eingeworfen und aller zwei bis drei Tage, kommen die Anrufe, bei denen eine anonyme Stimme fragt: «Stimmt es, dass ihr der Schwuchtelladen seid?»
Dieses Gefühl, dass die Angriffe mehr werden, lässt sich auch durch Zahlen bestätigen: Laut der Opferberatungsstelle Maneo haben die queerfeindlichen Übergriffe sich laut Polizeistatistik berlinweit seit dem Jahr 2019 verdoppelt. Im Jahr 2024 gab es demnach 738 Vorfälle, ein Anstieg um acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten der Vorfälle ereignen sich im Stadtteil Schöneberg, zu dem auch der Regenbogenkiez gehört.
«Wir sind auf jeden Fall sexpositiv!»
Margot Schlönzke
Oliver, ein Mitarbeiter des Fetisch-Fachgeschäfts «Butcherei Lindinger», berichtet von Spucke-Resten, die er regelmässig von der Scheibe wischen müsse. Für die Kieztour aber bleibt er bei gut gelaunten Themen und erklärt den Unterschied zwischen dem Leder vom Schaf und vom Perlrochen – und wie das Massschneidern mit diesem Material funktioniert. Oliver sieht sein Geschäft als «High Fashion Retail» und viele der Gäste wissen nach dem Besuch bei ihm auch, warum das so ist.
Von dort läuft die Gruppe zum Wohnhaus des britischen Schriftstellers Christopher Isherwood, der bis 1933 in der Nollendorfstrasse 17 wohnte. Seine Bücher bildeten die Grundlage für das Musical «Cabaret». Isherwood beschrieb ein Berlin, dass lebendig und verletzlich gleichzeitig war. Auch heute ist das Wohnhaus ein Pilgerort für Literatur-Fans. Geschichten wie seine sind wichtig, um zu verstehen, wie gleichzeitig der Paragraf 175 Homosexualität unter Strafe stellte – und trotzdem in Schöneberg so viele Schwulenbars entstanden.
Nach einem Stop beim Wurststand auf der Motzstrasse («Toms Wurst») stehen die Tourgäste schliesslich umringt von Büchern in der Buchhandlung Prinz Eisenherz. Die Inhaberin berichtet davon, dass sie in diesem Herbstprogramm rund 100 queere Bücher weniger angekauft hat. «Die Verlage sind häufig sehr sensibel für politische Veränderungen», sagt sie, «besonders Bücher über queere Familien könnten wir viel mehr anbieten, aber es gibt zu wenige.»
Und so ist die 100. Kieztour durch Schöneberg auch ein Besuch in einer Gegend, die weiss, dass ihre Rechte keine Garantie sind. Davon erzählt auch Ufuk Erol gleich gegenüber der Buchhandlung. Im Juni dieses Jahres sass der Chef des Cafés «Romeo & Romeo» abends zusammen mit Freunden noch spät vor seinem Café, als ein Mann schliesslich böse wurde, er rief unter anderem «Hurensohn» und warf schliesslich eine Flasche nach ihm. Ufuk Erol konnte sich gerade noch wegdrehen, so dass die Flasche ihn nur am Hinterkopf traf. Aber das Gefühl der Unsicherheit bleibt.
Der Bezirk Schöneberg hat seit Juli entlang der Motzstrasse in Berlin Regenbogenflaggen aufgehängt. Für Margot Schlönzke auch ein Bekenntnis für ihre Arbeit – denn das ist es ja, was sie mit ihren Touren wollen: Ein gemeinsame Geschichte erzählen, über Orte und über Menschen, auf die wir stolz sein können. Auch über die Orte, die es nicht mehr gibt: Die Saunen, die geschlossen haben, oder beliebte Bars, die Corona nicht überlebt haben.
Und am Ende der Tour gibt es immer ein fröhliches Highlight für die Gäste, nämlich, wenn sie zwei Darkroom-Clubs besuchen dürfen. «Wir sind auf jeden Fall sexpositiv», sagt Margot. Aber in ihrer Sprache bleibt sie immer anständig: «Ich sage nicht Darkrooms, ich spreche von verdunkelten Herrenräumen in denen rhythmische Bewegungen stattfinden, ganz ähnlich wie die halbdokumentarischen Filme der FSK18-Unterhaltungsbranche, die hier auf Bildschirmen zu sehen sind.»
Mehr: Jesse Tyler Ferguson über die Erfolgsserie «Modern Family»: «Die lauteste Kritik kam von Queers» (MANNSCHAFT berichtete)
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