«Ooops …»: Wo sind die queeren Figuren im deutschsprachigen Musical?
Interview mit Oliver Edward und Bram Tahamata aus «& Julia», die für LGBTIQ-Repräsentation kämpfen
Obwohl es im englischsprachigen Musical seit den frühen 2000er-Jahren einen Tsunami an Stücken mit LGBTIQ-Themen gibt, kommt davon im deutschsprachigen Raum wenig an. Warum eigentlich?
In vielen Stücken, die originär für Deutschland und Österreich kreiert wurden (und die meist von den immer gleichen Autorenteams gestemmt werden), werden homosexuelle Charaktere gern als Witzfiguren vorgeführt – als die lustig-lüsterne Tunte, vor der man sich im Zweifelsfall besser in Acht nehmen sollte (Herbert in «Tanz der Vampire»). Oder man erlebt die tragische Lesbe in einer Nebenrolle, der man aus ihrem Elend nicht raushelfen kann (Mrs. Danvers in «Rebecca»). Homoerotik wird, wenn überhaupt, eingesetzt um die Tragik einer Geschichte zu intensiveren (z.B. in «Elisabeth», wo der Todesengel mit Kronprinz Rudolph flirtet und ihn in den Selbstmord treibt).
Eine ernsthafte, sogar positive und unkomplizierte Darstellung von LGBTIQ als Teil des Alltags ist weiterhin die grosse Ausnahme. Und: Nicht-binäre Figuren als selbstverständlicher Teil einer Geschichte – wie in vielen Serien bei Netflix oder Amazon Prime längst Standard (MANNSCHAFT berichtete) – sind etwas, was man im deutschsprachigen Musiktheaterbereich mit der Lupe suchen muss. Eine nennenswerte Ausnahme, auf die man dabei stösst, ist «& Juliet» (auf Deutsch «& Julia»). Ein Jukebox-Musical, das Songs des schwedischen Musikproduzenten Max Martin (der mit Titeln für die Backstreet Boys und Britney Spears berühmt wurde) verwendet, um die Geschichte von Shakespeares «Romeo und Julia» neu und pop-artig zu erzählen – feministisch und queer.
In dieser Version wacht Julia wieder auf und entscheidet selbstbestimmt, dass sie sich für einen Traummann-mit-Traumkörper wie Romeo nicht aufopfern will, besonders als sie herausfindet, dass er neben ihr noch diverse andere Affären am Köcheln hatte. Sie verlässt Verona heimlich Richtung Paris, nimmt ihre*n BFF May mit – eine nicht-binäre Figur – und sucht eine zweite Chance im Leben.
In Frankreich treffen Julia und May auf François, ein einfühlsamer Musiker aus reichem Haus. Doch während sich Julia etwas überstützt mit ihm verlobt, um nicht auf der Strasse zu sitzen, outet sich François als schwul/queer – und verliebt sich in May. Was einer von diversen Handlungssträngen ist, die parallel und auf mehreren Zeitebenen laufen. Unterbrochen von Liedern wie «I Kissed a Girl» (hier «I Kissed a Boy») oder «Ooops … I Did It Again».
In Deutschland brachte Stage Entertainment das Erfolgsstück, das bereits in London und New York Furore gemacht hatte, nach Hamburg. Wo «& Julia» mit Oliver Edward als François und Bram Tahamata als May noch bis 2026 zu sehen sein wird.
MANNSCHAFT traf die beiden zum Interview über LGBTIQ im Musical und darüber, warum ausgerechnet «& Julia» solch ein Meilenstein in der hiesigen Musicalszene ist.
Vergleicht man Musicals in Deutschland und Österreich mit denen im anglo-amerikanischen Bereich: Wie beurteilt ihr die unterschiedliche Behandlung von LGBTIQ-Themen? Oliver Edward: Gerade in der hiesigen kommerziellen Musicallandschaft ist «& Julia» ein Meilenstein. Vor allem im Hinblick auf eine queere Repräsentation, die jugendlich und neu ist und bei der es sich nicht nur um Sterben und Krankheit dreht. Deshalb halte ich diese Show für sehr, sehr, sehr wichtig. Und da «& Julia» nächstes Jahr endet, wird das eine grosse Lücke hinterlassen. Es geht im Stück nicht um Traumaaufarbeitung rund um die Aids-Krise oder darum, dass Schwulsein früher kriminalisiert wurde. Es gibt wichtige und tolle Shows, die diese Aspekte aufgreifen. Aber es gibt nur wenige Shows, die eine queere Geschichte aus einer jungen Perspektive erzählen, losgelöst von Krankheiten oder Gefängnis. «& Julia» ist eine vor Lebensfreue vibrierende positive Darstellung verschiedener Formen von LGBTIQ.
Oliver Edward
Oliver Edward wuchs in Wien auf. Nach Abschluss seiner Musicalausbildung in Österreich ging er als Stipendiat nach London. Dort konnte er neben bzw. nach dem Studium in Grossproduktionen wie Disneys «König der Löwen» mitwirken und Erfahrungen in Andrew Lloyd Webbers «Cats» sowie «South Pacific» von Rodgers & Hammerstein sammeln. In Hamburg machte er in «Hamilton» auf sich aufmerksam. Er interessiert sich als queerer Mann sehr für die LGBTIQ-Musicalgeschichte und verfolgt die internationalen Entwicklungen, die an Deutschland und Österreich weitgehend vorbeigehen – mit den entsprechenden Rollen, die er gern spielen würde.
Ich habe 2022 das Buch «Breaking Free» geschrieben, das einen internationalen Blick aufs LGBTIQ-Angebot in Bereich Musical wirft. Doch nur ganz wenige der grossen, kommerziell erfolgreichen Musicals mit queeren Themen/Charakteren schaffen es auf die deutschsprachigen Bühnen. Sind Deutsche und Österreicher allergisch in Bezug auf LGBTIQ-Themen in Musicals? Bram Tahamata: Ich denke es liegt daran, dass die Deutschen ihre «eigenen» Produkte sehr mögen, also Shows, die hier entstanden sind. Tolle Shows mit nicht-binären Charakteren wie «Why Am I So Single?», was kürzlich im West End lief, wird es hier (und in den Niederlanden) nie geben.
Toby Marlow und Lucy Moss, das schottische Autor*innengespann des feministischen Musicalerfolgs «Six» (über die sechs Frauen des englischen König Heinrich VIIII., die ihre Geschichte in einer Art Casting-Konkurreznshow vorstellen) präsentierten 2024 mit «Why Am I So Single?» ein Stück über sich selbst: eine liebeshungrige Musicalautorin und ihr nicht-binäre*r beste*r Freund*in, mit der*dem sie ein Stück schreiben will. Nach dem West-End-Lauf kam von «Why Am I So Single?» ein Cast-Album heraus.
Ich fand «Why Am I So Single?» toll … Bram: Ich glaube, das deutschsprachige Theaterpublikum mag eher «klassische» Musicals. Und die neuen grossen anglo-amerikanischen queeren Musicals sind oft gewagter … deshalb entsprechen sie nicht diesem Ideal. Obwohl ich «& Julia» auch ziemlich gewagt finde. Es ist eine der grössten Herausforderungen, Leute hier dazu zu bringen, es sich anzuschauen. Wenn in Wien eine neue Show entsteht, gehen die Ticketverkäufe schon vor der Bekanntgabe der Besetzung durch die Decke, weil jeder quasi weiss, was ihn*sie erwartet. Selbst wenn die Details der Geschichte noch nicht verraten wurden, wissen die Leute, was ihnen ungefähr gezeigt wird. Es gibt selten den Mut, wirklich «anders» zu sein und ausgetretene Pfade zu verlassen. Und queere Themen gelten in diesem Kontext immer noch als Aussenseiterthemen.
Bram Tahamata
Bram Tahamata drehte in der Vergangenheit zwei TV-Serien in Belgien, bevor er*sie im queeren Musical «Hairspray» nach dem John-Waters-Film debütierte und ein erstes eigenes Album veröffentlichte. Tahamata repräsentiert die «junge queere, trans-asiatische Community» auf der Bühne. Und hofft, dass diese sich selbst in ihm*ihr wiederfinden kann.
In klassischen Broadway-Musicals gibt es – zunehmend – schwule, lesbische, bi, trans und nicht-binäre bzw. queere Charaktere, von «A Chorus Line» in den 1970ern über «Victor/Victoria», «Cabaret» bis hin zu «A Strange Loop» (MANNSCHAFT berichtete). Aber in den neuen Originalshows aus Österreich werden LGBTIQ-Charaktere meist lächerlich behandelt. Denken wir an den schwulen argentinischen Fussballspieler in «I Am from Austria»: Sein Coming-out findet 30 Sekunden vor dem Schlussvorhang statt, dann ist alles vorbei und nichts weiter passiert. Und diese Show wurde von schwulen Männern in Österreich erschaffen. Wovor haben sie Angst? Oliver: Ich habe in Österreich noch nie eine Original-Show gesehen, aber die Unterhaltungsindustrie hat eine lange Tradition, queere Charaktere als Witz zu behandeln. Es ist möglich, dass der deutschsprachige Raum nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer eher risikoscheuen Gesellschaft geworden ist. Ich habe das Gefühl, dass es immer noch viele Produktionen gibt, die darauf aus sind, das Risiko möglichst gering zu halten - vor allem im kommerziellen Bereich. «Nicht über den Tellerrand hinausschauen» scheint manchmal das Motto zu sein. Doch risikoarm zu bleiben, lässt selten Raum, über die Grenzen hinauszuwachsen, die man sich selbst gesetzt hat.
Ist es nicht interessant, dass die grossen LGBTIQ-Erfolge am Broadway und im West End von Produzent*innen stammen, die bereit waren, grosse Risiken einzugehen? Das gilt auch für ein Jukebox-Musical wie «& Julia». Es ist super konstruiert. Die Geschichte macht Spass. Es ist modern und klassisch zugleich, mit all den Shakespeare-Elementen. Warum fällt deutschen Musical-Schöpfer*innen nichts Vergleichbares ein? Bram: Deutsche und Österreicher haben einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund, was Unterhaltungstheater und Musicals angeht. Viele sagen, sie hätten «Das Phantom der Oper» vor 20 oder 40 Jahren gesehen und denken, das sei Musical. Und das sollte auch für alle Zeiten so bleiben. Sie haben die vielen kulturellen Veränderungen, die es international im Musicalbereich gegeben hat, nicht wahrgenommen.
Während das Musical «Romeo und Julia – Liebe ist alles» von Peter Plate und Ulf Leo Sommer die (unglückliche!) schwule Liebesgeschichte zwischen Mercutio und Romeo nur sehr am Rande erzählt, so, als würden sich die Autoren fast dafür schämen und ihr nicht mehr Platz einräumen wollen, steht bei der dramaturgisch bedeutend gewitzter konstruierten Fassung der Geschichte in «& Julia» das Thema queere Liebe im Zentrum des Stücks. Und wird auch musikalisch umfangreicher berücksichtigt. Auch der Pop-Art-Inszenierungsansatz von «& Julia» steht im krassen Kontrast zu der vergleichsweise biederen Optik des Plate/Sommer-Musicals, das in den Dialogen die alte deutsche Übersetzung von Wieland (aus dem Jahr 1766) verwendet, während bei «& Julia» sehr genau auf eine moderne Sprache und einen modernen Umgang mit Themen wie Frauenrechten, LGBTIQ-Rechten und Gleichberechtigung geachtet wird. Ohne dabei Shakespeares Vorlage zu «verraten».
Oliver: Ich habe oft das Gefühl, dass dem deutschen Publikum nicht genug Zeit gegeben wird, weil Shows so schnell kommen und gehen und oft ohne ausreichende Werbung. Aber wir müssen auch bedenken, dass es etwas anders ist, wenn eine Show hier floppt, als wenn das bei «Why Am I So Single?» in London passiert. Die Shows werden dort einfach abgesetzt, und das war’s. Schluss. Aus. Hier hingegen haben wir Jahresverträge. Ich habe zwei Freunde, die in der Originalbesetzung von «New York, New York» am Broadway waren.
An einem Sonntag kam der Produzent in die Garderobe und sagte: «Tut mir leid, nächsten Sonntag ist eure letzte Show.» Und dann war’s vorbei. Sie hatten nichts Neues in Aussicht, mussten aber ihre Miete weiterzahlen. Deshalb muss ich manchmal sagen, dass das deutsche System mehr Sicherheit bietet und man sein Leben hier besser planen kann. Aber es gibt weniger Innovation.
Wenn «& Julia» gefloppt wäre, hätte Stage niemals einfach gesagt «Nächsten Sonntag ist eure letzte Show». Und dann bekommt man kein Geld mehr. Ich denke aber auch, dass die Unterhaltungsindustrie eine gewisse Verantwortung hat, das Publikum zu fordern und neugierig auf Neues zu machen.
Bram: Und wenn man etwas Neues ausprobiert, mag man es vielleicht sogar, vielleicht hasst man es auch, aber vielleicht ist man danach völlig besessen und hat ein neues Lieblingsmusical. Ich denke auch, dass die Unterhaltungsindustrie, insbesondere die grossen Produktionsfirmen, dafür verantwortlich sind, dass die Leute Musicals nicht nur mit «König der Löwen» assoziieren. Verstehst du, was ich meine? Ich habe das Gefühl, wenn man Leuten erzählt, dass man im Musical-Business arbeitet, sagen sie: «Oh, ich habe ‹König der Löwen› vor 17 Jahren gesehen.» Und ich sage dann: «Okay … und das war’s für dich?»
Wie sind eure Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Publikum, wenn es um eure Charaktere in «& Julia» geht? Bram: Meine Erfahrungen sind eigentlich sehr gut. Ich hatte aber grosse Angst vor der Rolle.
Warum? Bram: Weil ich mit anderen Kolleg*innen gesprochen habe, die diese Rolle schon gespielt haben, sie erzählten Geschichten über lautes Gelächter bei «I’m Not a Girl», sie sagten, dass Leute bei bestimmten Liedern den Zuschauerraum verliessen oder dass es zu sehr merkwürdigem Verhalten während der Vorstellung kam. Aber ehrlich gesagt, so etwas ist hier in Hamburg nicht passiert. Im Gegenteil, es war sehr positiv und toll.
Bekommst du direktes Feedback? Bram: Ja, am Bühneneingang haben mich schon oft Leute angesprochen. Einige junge Zuschauer*innen sagten zu mir: «Ich nehme meine Eltern mit, damit sie dich sehen und ich ihnen dann erklären kann, wer ich bin.» Ein kleines Mädchen zeigte ein Foto von mir in der Schule und sagte: «Das ist einfach ein Mensch, egal ob Junge oder Mädchen.» Und wir sprechen hier von einer Zehnjährigen! Aber auch ältere Leute kommen und sprechen mich an. Ich ging letzten Winter auf den Weihnachtsmarkt und war überrascht, als mich ein älteres Paar ansprach, das die Show gesehen hatte und die meine Grosseltern hätten sein können. Sie meinten, es sei so schön, eine solche Darstellung mit einem so wunderbaren Menschen auf der Bühne zu erleben. Sie sagten, das sei sehr wichtig.
Oliver: Ich finde auch, die Reaktionen des Publikums waren bisher grossartig. Wir werden total verwöhnt – mit Geschenken, Briefen, Nachrichten in den sozialen Medien, Zeichnungen, Süssigkeiten, Schokolade und T-Shirts. Jemand hat buchstäblich eine ganze Kiste mit handgemachten Geschenken für uns zusammengestellt.
«Ich geniesse es, dass nach der Vorstellung immer wieder Leute am Bühneneingang auf uns zukommen und uns erzählen, was ihnen die Show bedeutet»
Oliver Edward, Musicaldarstellender
Ich geniesse es ebenfalls, dass nach der Vorstellung immer wieder Leute am Bühneneingang auf uns zukommen und uns erzählen, was ihnen die Show bedeutet, was sie daraus mitgenommen haben für ihr eigenes Leben. Und ich glaube, weil unsere Figuren so eng mit dem Thema Queerness verknüpft sind, hatten viele eine starke Sehnsucht, «& Julia» live auf der Bühne zu sehen – ohne dass eine von unseren Figuren stirbt, verhaftet wird oder eine Konversionstherapie machen muss. Deshalb ist «& Julia» so, so, so wichtig.
Bram: Meine Mutter sass im Publikum und erzählte mir von den Reaktionen der Leute um sie herum. Sie sagte, die Leute hätten geweint, aber auf eine positive Weise. Es geht nicht nur um die «I’m Not a Girl»-Szene. Es geht nicht nur darum, dass meine Figur herausfindet, wer sie ist … sondern darum, dass May ein Mensch ist, der mit seinen Gefühlen ringt. Ich glaube, das ist nicht nur eine nicht-binäre Sache. Ich denke, das ist etwas Ur-Menschliches, mit dem sich viele identifizieren können.
In der Londoner Besetzung, die ich gesehen habe, war François ein eher übergewichtiger Typ. Nicht der typische schlanke durchtrainierte junge Musicaldarsteller. Er sah auch nicht aus wie der stereotype blondiete Schwule in Shows wie «Tanz der Vampire» oder «Ich war noch niemals in New York». Fühlst du dich auch ein bisschen «anders» als der typische Hauptdarsteller in einem Mainstream-Musical? Oliver: Ich habe das Gefühl, dass es keine Grenzen gibt, was das Aussehen von François und May angeht. Das Schöne ist, wenn ich auf den Casting-Prozess zurückblicke, dass jeder diese Rollen hätte spielen können. Es gibt keinen bestimmten Typ, keinen bestimmten Look, nach dem gesucht wurde. Die Rollen stehen allen offen … es gibt keine Grenzen.
Tauscht ihr manchmal die Rollen? Oliver: Das ist leider keine Option. Obwohl ich denke, wir wären dazu bereit. Aber was die Lizenzen usw. angeht, geht es um viel mehr, als nur zu sagen: «Oh, lass uns heute mal tauschen.»
Darf ich kurz nachhaken: Wenn ihr beide «Why Am I so Single?» so grossartig findet, warum bringt ihr das Stück nicht selbst nach Deutschland oder Österreich? Oliver: Dann müssten wir uns um Lizenzen kümmern, einen Veranstaltungsort, Tickets, Casting, Musiker*innen, Licht- und Tontechnik. Das ist etwas ganz anderes, als einfach nur aufzutreten. Manche Leute machen das, also selbst zu produzieren. Ich finde es auf jeden Fall interessant. Ich glaube, ich werde mich damit irgendwann mal näher beschäftigen.
Als «passiver» Künstler, der für Shows vorspricht, kann man nur für die Shows vorsprechen, die es bereits gibt. Wenn nichts zu dir passt, warum schreibst du dann nicht deine eigene Show … wie der Autor von «A Strange Loop». Er schrieb es für sich selbst, als übergewichtiger schwarzer schwuler Mann. Das könnte man auch mit einer nicht-binären Figur machen. Bram: Da stimme ich dir vollkommen zu. Es ist lustig, denn ich habe in den letzten Wochen mit vielen anderen Mays darüber gesprochen. Wir müssen uns in der Musical-Landschaft zurechtfinden und unsere eigenen Türen finden – oder selbst neue erschaffen. Wenn man eine authentische Figur spielen will, ist die oft nicht so leicht zu finden. Es gibt sie. Ich sage nicht, dass es sie nicht gibt. Aber es ist schwieriger, sie zu finden. Und vielleicht ist es an der Zeit, selbst Stücke zu schreiben.
Mehrere LGBTIQ-Künstler*innen, die unzufrieden waren mit dem Angebot von queeren Rollen, haben selbst Stücke geschrieben und zur Aufführung gebracht, teils mit grossem Erfolg. Michael R. Jackson beispielsweise schrieb «A Strange Loop» für einen übergewichtigen schwarzen schwulen Mann aus strengreligiöser Familie, der sich mit seinen Schuldgefühlen, seinen Eltern und der Tatsache auseinandersetzen muss, dass ihn im krassen New Yorker Dating-Leben niemand attraktiv findet, weil er nicht einem typischen Schwulenszene-Schönheitsideal entspricht. «A Strange Loop» wurde 2020 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet und gewann Tony Awards u.a. als «Best Musical», die höchste Ehrbekundung, die der Broadway zu vergeben hat. Das Stück lief am Off-Broadway, am Broadway und in London am Barbican Centre. Eine deutschsprachige Aufführung ist – nicht in Sicht.
Fürs Buch «Breaking Free» haben wir mit jemandem gesprochen, der für die Really Useful Company in London arbeitet. Er sagte, dass soziale Medien heutzutage ein wichtiger Aspekt für Produzent*innen sind. Sie müssen bedenken, dass ihre Casting-Entscheidungen in den sozialen Medien nach hinten losgehen und möglicherweise den kommerziellen Erfolg einer Produktion zerstören können. Wegen Identitätspolitik und Menschen, die meinen, bestimmte Darsteller*innen dürften bestimmte Rollen nicht übernehmen. Habt ihr solche Reaktionen auch schon erlebt? Oliver: Ehrlich gesagt besteht immer die Möglichkeit eines Shitstorms, denn wir leben im Jahr 2025.
Als «Wicked» kürzlich ins Kino kam, veröffentlichte ein deutschsprachiges LGBTIQ-Magazin einen Artikel über die queeren Aspekte des Films, weil Cynthia Erivo und Ariana Grande selbst immer wieder darüber sprachen, der Regisseur des Films ebenfalls, der Autor der Buchvorlage, Komponist Stephen Schwartz … und Jonathan Bailey. Alle. Als dieser Artikel auf der Seite einer deutschen Facebook-Fangruppe für Musicals gepostet wurde, waren viele Leute wütend und sagten: «Wie könnt ihr uns die Show verderben, indem ihr diese queeren Aspekte betont? Jetzt können wir uns das Stück nicht mehr ansehen, weil ihr es beschmutzt habt, ihr habt uns die Show verdorben.» Habt ihr auch solche Erfahrung gemacht? Oliver: Ich persönlich habe so etwas nicht erlebt, bin mir aber sehr bewusst, dass es jederzeit passieren kann. Wenn es Veränderungen gibt, wird es immer Menschen geben, die sie ablehnen. Es gab immer Gründe, warum Frauen nicht wählen sollten. Es gab immer Gründe, warum Schwarze nicht im selben Bus sitzen sollten. Homosexuelle sollten zum Beispiel nicht heiraten. Egal, was sich ändert, es wird immer eine Gruppe von Menschen geben, die das ablehnt.
«Weil es so extrem negativ war, fühlte es sich riesengross an. Ich musste lernen, damit umzugehen»
Bram Tahamata, Musicaldarstellender
Bram: Ich habe vor ein paar Jahren eine Fernsehserie gemacht, und dann erschienen die ersten Folgen online. Ich spielte eine queere Figur. Jemand sagte: «Ja, wir haben die erste Folge gesehen, bis diese Figur auftrat, danach haben wir nicht weitergeschaut.» Das war unhöflich. Aber sobald etwas öffentlich ist, denken die Leute, sie könnten darüber sagen, wie sie wollen, ohne sich Gedanken zu machen, ob sie damit jemandes Gefühle verletzen. Die Leute schrieben Briefe an die Produktionsfirma und forderten, mich aus der Serie zu streichen. Es war nur eine kleine Gruppe, die so reagierte. Aber weil es so extrem negativ war, fühlte es sich riesengross an. Ich musste lernen, damit umzugehen. So etwas ist mir schon öfter passiert. Heute kann ich damit leben.
Oliver: Für Menschen, die für Repräsentation kämpfen, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder man verzichtet darauf, sich öffentlich sichtbar zu machen, dann haben die anderen nichts zu meckern, oder man stellt sich ins Rampenlicht und macht sich angreifbar. Es gibt buchstäblich nur diese beiden Möglichkeiten. Mir ist es viel lieber, wenn über ein kontroverses Thema bzw. eine kontroverse Figur öffentlich gesprochen wird, die Leute ihre negativen Meinungen kundtun – und dann hoffentlich andere Leute mit Argumenten zurückschlagen. Sonst gibt’s keine Veränderung zum Besseren.
Pride & CSDs: Alle Termine in Deutschland, Österreich und der Schweiz – von Augsburg bis Zürich: Hier findest du deinen aktuellen Pride-Kalender 2025!
Das könnte dich auch interessieren
Ungarn
Pride-Verbot: 20 EU-Länder erhöhen den Druck auf Ungarn
20 EU-Staaten stellen sich klar gegen Ungarns Pride-Verbot. Auch Deutschland verschärft den Ton Richtung Budapest – und bringt einen möglichen Entzug der Stimmrechte ins Spiel.
Von Newsdesk/©DPA
News
Österreich
Pride
Deutschland
Feiern
«Pride ist kein Partyhut»: Regenbogenparade deutlich politischer
Die Regenbogenparade wird in diesem Jahr am 14. Juni durch die Stadt führen. Das Motto lautet: «Unite in Pride».
Von Newsdesk Staff
Politik
Österreich
Pride
Pride
Neuer CSD-Rekord in Österreich
Regenbogenparaden abgehalten - so viel wie nie zuvor. Den erfolgreichen Auftakt der CSD-Saison bildete die Pride in St. Pölten.
Von Christian Höller
Österreich