Bald zu wenig HIV-Praxen: Studie warnt vor «erheblichen Engpässen!»

In Deutschland fehlen in den kommenden Jahren Fachpersonen

Halbwissen und Falschinformationen über HIV halten sich besonders hartnäckig (Bild: stock.adobe.com)
Bald knapp: Praxen für HIV-Patienten

Laut einem aktuellen Gutachten in Deutschland könnte es in den kommenden Jahren zu «erheblichen Versorgungsengpässen» bei der HIV-Versorgung in Deutschland kommen.

So könnten bis zum Jahr 2035 rund 130 spezialisierte HIV-Ärzt:innen fehlen, um den steigenden Bedarf zu decken. Dies entspräche dann etwa einem Viertel der benötigten Gesamtzahl an ärztlichen HIV-Spezialist*innen. Besonders in ländlichen Regionen drohen massive Zugangsprobleme.

Die Untersuchung wurde von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärzt*innen für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä), der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS) und der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) in Auftrag gegeben und vom IGES Institut in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung durchgeführt. Datengrundlage waren vertragsärztliche Abrechnungsdaten zur ambulanten HIV-Versorgung sowie Krankenhausberichte sowie eine bundesweite Online-Befragung von Menschen mit HIV.

Deutschland verfügt derzeit über ein leistungsfähiges Versorgungssystem mit spezialisierten HIV-Schwerpunktpraxen und Klinikambulanzen. Knapp 80 Prozent der Menschen mit einer HIV-Diagnose werden erfolgreich von Vertragsärzt:innen behandelt, die auf das HI-Virus spezialisiert sind. Doch das System stösst an seine Grenzen: Zwischen 2014 und 2023 stieg die Zahl der Patient:innen mit spezialisierter Versorgung um 38 Prozent – von 49'500 auf 68'500 jährlich.

Dieser Trend werde laut der Studie anhalten: Bleibt die Zahl der jährlichen Neudiagnosen etwa gleich, wird es im Jahr 2035 ca. 96'500 Patient*innen geben. Die Zahl der beanspruchten HIV-Leistungen könnte sich in den nächsten zehn Jahren um 44 Prozent erhöhen – und hier ist die Behandlung altersbedingter Begleiterkrankungen wie Stoffwechselstörungen und Depressionen noch nicht mit eingerechnet. Ausserdem wird in den USA gerade die Forschung nur eingeschränkt finanziert (MANNSCHAFT berichtete).

Dem gegenüber steht eine seit Jahren stagnierende Zahl der HIV-Schwerpunktpraxen: Zwar ist auch in den nächsten Jahren insgesamt von einem Zuwachs an HIV-Behandler*innen auszugehen. Doch der Trend zur Bildung grösserer Praxen oder sogenannter Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) spricht für eine Verdichtung der Versorgungsstrukturen besonders in den Ballungsräumen, die besonders für Patienten in ländlichen Regionen problematisch wird. Parallel dazu wächst die Gruppe älterer Menschen mit HIV, oft mit komplexem Behandlungsbedarf.

Besonders herausfordernd: Schon heute nehmen viele Betroffene gerade in ländlichen Regionen weite Wege zur nächsten Schwerpunktpraxis oder HIV-Ambulanz auf sich – eine Hürde, die mit zunehmendem Alter wächst. «Dieses Gutachten erreicht uns zur richtigen Zeit», sagt dagnä-Vorstandsmitglied Markus Bickel. «Wir wussten, dass wir mit den etablierten Strukturen einen sehr grossen Teil der Menschen mit HIV erreichen und auch effizient versorgen.» Jetzt gehe es darum, mit diesem Gutachten als Grundlage «die Versorgung zukunftsfest zu machen». Auch in der EU sind die Zahlen alles andere als ermutigend (MANNSCHAFT berichtete).

DAIG-Vorstandsmitglied Hannah Linke beobachte eine sinkende Anzahl von Expert*innen, die ausreichend Erfahrungen in der stationären und ambulanten Versorgung von HIV-Erkrankungen und Aids haben. «Umso wichtiger ist es, die notwendige Expertise für hoch-spezialisierte HIV-Behandlungen, etwa die stationäre Betreuung von Schwangeren und Kindern mit HIV, über die ärztliche Weiterbildung weiterzugeben und für die Zukunft sicherzustellen.»

«Als zentrales Ergebnis des Gutachtens zeigt sich, dass der Zugang zur spezialisierten Versorgung besonders für ältere Menschen mit HIV eine der grössten Herausforderungen für die Zukunft darstellt», sagt die DAS-Vorstandsvorsitzende Anne von Fallois. «Es wird zu wenige Schwerpunktpraxen für immer mehr und immer ältere Patienten geben.» Auch in Zukunft sollten alle die bestmögliche Versorgung finden – unabhängig von Region, Alter, Geschlecht oder sonstigen Faktoren. Ausserdem: «Wir brauchen weiterhin psychosoziale Unterstützungsangebote, wie sie etwa die Aids-Hilfen anbieten.»

Das Gutachten, das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde, zeigt: Ohne Gegenmassnahmen droht ein struktureller Kollaps der HIV-Versorgung in Teilen Deutschlands. Um das zu verhindern, sollten bereits jetzt für mehr Nachwuchs gesorgt werden. Es müssen gezielt Anreize für eine Teilnahme an der HIV-Versorgung geschaffen werden. Ärztinnen und Ärzte, die sich qualifizieren oder beteiligen möchten, sollten organisatorisch, fachlich und finanziell unterstützt werden. In strukturschwachen Regionen könnten ergänzend Transporthilfen zur Versorgungssicherung beitragen.

Die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) muss auch bislang unterversorgten Zielgruppen zugänglich gemacht werden; die extrabudgetäre Vergütung von PrEP-Leistungen sollte dafür verstetigt werden. Geriatrische und psychosoziale Versorgung ausbauen: Mit der Alterung der Patient:innen mit HIV steigen die Anforderungen an geriatrische und psychosoziale Unterstützung. Notwendig sind bessere Vernetzungen zwischen HIV-Praxen und geriatrischen Einrichtungen, Schulungen in der Pflege und stärkere Einbindung psychosozialer Fachkräfte – auch über digitale Angebote.

Früher zielte die HIV-Therapie hauptsächlich darauf ab, das Virus zu unterdrücken. Mit den Fortschritten in der medizinischen Versorgung hat sich der Fokus vom reinen Überleben hin zum gesunden Leben und Älterwerden mit HIV verschoben (MANNSCHAFT berichtete).

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