Andy Bell: «Ich halte Nostalgie für eine Illusion»

Der Erasure-Sänger über sein Soloalbum

Andy Bell
Andy Bell hatte seinen Durchbruch 1986 mit dem Erasure-Song «Sometimes« (Bild: Sean Black)

Das Alter ist keine Bremse: Andy Bell zeigt mit «Ten Crowns», dass lebensfroher Synthiepop auch jenseits der 60 noch kraftvoll und tanzbar sein kann.

Die Stimme des Synthiepop-Duos Erasure hat nach einer Phase der experimentellen Dance Music zurückgefunden zu ihrer ursprünglichen Berufung. 

«Ten Crowns» heisst das neue Soloalbum von Andy Bell, es ist ein Genuss für Liebhaber*innen anspruchsvoller und doch in Ohren und Beine gehender Popsongs. Wir sprachen mit dem 61-Jährigen aus London per Video übers Ausgehen im Alter, Debbie Harry und das Ende der Freiwilligkeit beim Yoga. 

Andy, du warst kürzlich auf einer schwulen Kreuzfahrt in der Karibik unterwegs. Hat die Dienstreise Spass gemacht? Oh Gott, ja, immens viel Spass. Die Atmosphäre an Bord ist einzigartig. Die Leute sind partyfreudig, und man erzählte mir, dass bei der Gay Cruise allein am ersten Abend an den Bars mehr Umsatz gemacht wird als bei regulären Kreuzfahrten in der gesamten Woche.

Und nun musst du dich bestimmt erstmal erholen. Ich bin tatsächlich für ein paar Tage daheim in London und geniesse die Frühlingssonne.

«Ten Crowns» ist ein Album, das auf Anhieb beim Hören gute Laune macht. Es klingt ungemein lebensbejahend und extrovertiert.  Ich bin froh, dass die Platte so sonnig, so belebend geworden ist. Ich wollte das so. Das Album ist gemacht für die Stunden, bevor du ausgehst in einen Club. Du bist noch zu Hause, machst dich fertig. Nimmst einen Drink oder so, nach und nach trudeln deine Freunde ein. Das ist die Stimmung für «Ten Crowns».

Mich erinnert die Platte an die frühe Madonna, alles ist tanzbar, und trotzdem noch Pop mit ausgefuchsten Melodien. Halb im radiofreundlichen Pop, halb im Dance – dort sehe ich mich, und dort fühle ich mich am wohlsten.

Welche Musik legst du denn vor dem Ausgehen auf? Wenn ich ehrlich bin, gehen wir nur sehr selten aus. Mein Mann Stephen und ich laden uns oft Freund*innen ein, es gibt was Leckeres zu essen, und wir schauen uns die lustigsten und beklopptesten Youtube-Videos an. So ein bisschen wie Zehnjährige, bloss mit Biohühnchen und Spinat (lacht). 

Bist du aus dem Club-Alter raus? Ich fürchte ja. Es gibt nicht mehr so viele und spannende Clubs wie früher, und die, die da sind, richten sich stark an junge Menschen. Ich stehe dann da, tanze ein bisschen, aber fühle mich nicht wohl.

Von einem Zwanzigjährigen trennen mich inzwischen vierzig Jahre, ich bin dreimal so alt. Aber die Leute, die jetzt siebzig sind oder achtzig, das sind die Leute, mit denen ich Zeit verbringe, altersmässig und überhaupt sind sie näher an mir dran.

Andy Bell hatte seinen Durchbruch 1986 mit dem Erasure-Song «Sometimes»
Andy Bell hatte seinen Durchbruch 1986 mit dem Erasure-Song «Sometimes» (Bild: Sean Black)

Andy Bell

Sein neues Soloalbum «Ten Crowns» hebt die Stimmung ab Sekunde eins: Diese zehn Songs lange Hommage an die tanzbare Popmusik treibt energisch und elektronisch nach vorne – an einen Ort, wo der Spass wohnt und die Eighties viben.

Man muss sich aber erst an diese Erkenntnis gewöhnen, dass man selbst zu den Älteren gehört, oder? Absolut. Das ist ein langsames und allmähliches Einsickern. Womit ich nicht sagen will, dass ich ein alter Mann bin oder mich so fühle. Sicher, die Hüften sind neu, aber sonst bin ich der alte Andy.

Und meine Party zum Sechzigsten vergangenes Jahr, die war echt geil. Stephan hat alles organisiert, es war ein rauschendes Fest in unserem Feriendomizil auf Mallorca. Mein Mann hat mich mit diesem Fest rundum verwöhnt. Aber das macht er eigentlich immer (lacht). 

«Meine Party zum Sechzigsten vergangenes Jahr, die war echt geil. Stephan hat alles organisiert, es war ein rauschendes Fest in unserem Feriendomizil auf Mallorca.»

Andy Bell

Du hast ein Haus auf Mallorca? Schon lange. Seit 1991, vielleicht 1992, besitze ich dieses Haus. Das war noch, bevor alle Deutschen und Briten nach Mallorca zogen und die Preise durch die Decke gingen. Das Einzige, was bei meinem Geburtstag nicht mitgespielt hat, war das Wetter. Es hat drei Tage ununterbrochen geregnet, und das Ende Mai. Wir mussten alles komplett nach drinnen verlegen. 

Ist es ein Einschnitt, sechzig zu werden? Schon, ja. Mittlerweile bin ich sogar 61, aber da ist der Unterschied nur minimal. 

Woran merkst du dein Alter? An meinen Knochen. Ich bin ein lausiger Sportler und habe meistens keine Lust, das Sofa zu verlassen. Seit einiger Zeit zwingt mich mein Mann immerhin, ihn zum Yoga zu begleiten. Meistens bin ich so nett und raffe mich auf. Und ich spüre tatsächlich, dass mir die Bewegung guttut. 

«Seit einiger Zeit zwingt mich mein Mann immerhin, ihn zum Yoga zu begleiten. Meistens bin ich so nett und raffe mich auf. Und ich spüre tatsächlich, dass mir die Bewegung guttut.»

Andy Bell

Inwieweit hat der runde Geburtstag dein Album beeinflusst oder inspiriert? Auf der einen Seite nicht so sehr, denn mein Produzent Dave Aude und ich, wir arbeiten schon seit zwölf Jahren, freilich mit vielen und langen Pausen, an diesen Songs. Aber ich denke, der Sechzigste hat dem ganzen Unterfangen einen Schub gegeben, so ein «Jetzt komm mal in den Quark, Andy»-Gefühl. Jedenfalls ging es auf einmal sehr schnell. Wir haben in Daves Haus in Los Angeles angefangen, dann zog er nach Nashville, also haben wir es dort fertiggestellt. 

Du bist seit vierzig Jahren beruflich als Musiker tätig. Ist der Job eigentlich noch aufregend? Du musst dir die Aufregung schon selbst suchen. Ich finde es zum Beispiel phantastisch, dass ich so viele treue Fans habe. Aber seit einigen Jahren existieren so viele Werkzeuge im Internet, und mit jedem einzelnen bist du in der Lage, neue Leute für deine Musik zu begeistern.

Ich sage also nicht «Pfui, Social Media, so ein Mist», sondern stürze mich rein ins digitale Abenteuer. Es gibt kaum etwas Schöneres, als wenn Teenager aus irgendwelchen Ecken der Erde plötzlich über Social Media mit dir Kontakt aufnehmen, und dir sagen, dass sie deine Songs cool finden.

Wie aktiv bist du online? Etwas aktiver als mir guttut. Ich bin ein Doom-Scroller, ich tendiere dazu, mich auf schlechte und negative Nachrichten zu stürzen, oft stundenlang am Stück. Was mich selbst ein wenig irritiert, denn ich bin selbst ein Tel der Medienbranche und sollte wissen, wie diese Mechanismen funktionieren.

«Ich denke nicht, dass es die Vergangenheit verdient hat, sie durch die rosarote Brille zu betrachten.»

Andy Bell

Zählst du dich zu jenen Sechzigjährigen, die den sorglosen 70er- und 80er-Jahren nachweinen? Nein. Ich halte Nostalgie für eine Illusion. Ich denke nicht, dass es die Vergangenheit verdient hat, sie durch die rosarote Brille zu betrachten. Sieh mal, vor vierzig Jahren starben Männer wie ich an Aids, ich hatte Angst um mein Leben. Klar, ich war jung, aber ich möchte niemals mehr in diese Zeit zurück. Ich bin froh, dass ich die Achtziger überlebt habe. Aber scheinbar ist alles golden, wenn es nur lange genug her ist. Auf Netflix spielt gefühlt jede dritte Serie in den 80ies, und wollen sie nicht sogar wieder zum Mond? Herrschaften, wir waren dort, vor 56 Jahren. 

Wie bewertest du als schwuler Mann die Entwicklungen um Sichtbarkeit und Rechte der LGBTIQ-Community? Ich bin beeindruckt, wie ungezwungen und fluide die junge Generation mit ihrer Sexualität umgeht. Viele haben nicht mehr das Bedürfnis, sich zu definieren oder festzulegen.

Die Politik bekommt es mit der Angst zu tun, in Grossbritannien versuchen sie gerade, mit transfeindlichen neuen Gesetzen den gesellschaftlichen Fortschritt einzudämmen, in den USA ist es noch schlimmer. Aber ich bleibe zuversichtlich. Wir gehen zwei Schritte zurück, und dann wieder drei nach vorne. Langfristig sehen die Dinge gut aus.

Wenn du heute nochmal 17 oder 18 wärst, würdest du deine Sexualität anders ausleben als damals? Ich bin mir nicht sicher, denn wenn es eine Welt gibt, die nicht für mich geschaffen wurde, dann ist es die Welt des Onlinedatings. Heute bin ich eh verheiratet, aber selbst in der Jugend fand ich es schwer, Leute anzusprechen, ganz klassisch zu cruisen. Dieser kurze Augenkontakt und dann die Entscheidung, ob man sich heiss findet, ach, ich fand das immer stressig. Aber online jemanden klarmachen und sich dann irgendwo treffen? Puh, echt nicht.

Warst du in der Bar meist derjenige, der angesprochen wurde? Nein, ich glaube, das ist kein einziges Mal passiert. Ich war immer der, der die Initiative ergreifen musste. Dabei war ich ein eher schüchterner Kerl. Etwas leichter wurde es, als ich mit Erasure erfolgreich wurde. Da stieg das Interesse an meiner Person. Aber nun wusste ich nicht mehr, sind diese Jungs jetzt an mir, an Andy, interessiert oder an dem Popstar? Ich denke, bekannt zu sein, hat mir geholfen, meine Schüchternheit bis zu einem gewissen Grad abzulegen. Das war wie ein Trainingslager. Plötzlich kamen mehr und mehr Menschen von sich aus auf mich zu.

Du singst auf deinem Album eine Nummer mit der Weltmeisterin in puncto Selbstvertrauen, Blondie-Frontfrau Debbie Harry, zusammen, «Heart’s A Liar» heisst sie. Wie kam es dazu? Debbie ist meine Göttin und eines meiner grossen Idole. Wir kennen uns, seit wir beide in den Neunzigern Songs zum Aids-Benefiz-Album Red, Hot and Blue beigesteuert haben. Später tourten wir zusammen mit Cyndi Lauper. Debbie ist eine sehr gute Bekannte und genau die richtige Person, die du fragen möchtest, ob sie in einem Song über die vielfältigen Irrwege in der Liebe mitmachen möchte (lacht). 

In der epischen Ballade «Dawn Of Heavens Gate» zitierst du «Diamonds Are Forever» aus dem gleichnamigen James-Bond-Song von Shirley Bassey. Ist dein Lied eine Bewerbung bei den Bond-Leuten? (Lacht) Ein Lebenstraum ist das nicht von mir, aber es wäre schon angenehm, wenn sie fragen würden. In dem Lied geht es darum, dass dein Herz für immer schlägt, wenn es von einem Diamanten angetrieben wird. Ein kleiner Tagtraum von der Unendlichkeit des Lebens.

Unendlichkeit ist ein gutes Stichwort für Erasure. Wie geht es mit Vince Clarke und dir weiter?  Vince hat nach dem Tod seiner Frau eine Auszeit genommen, wir sind jedoch wieder am Schreiben und nicht mehr weit davon entfernt, fertig zu sein. Wir peilen an, zu unserem vierzigsten Jubiläum im nächsten Jahr neue Musik fertigzuhaben. Und ich bin auch ganz optimistisch, dass uns das gelingen wird.  

Sie hat gerade den Lauf ihres Lebens. Die letztjährige Single «Padam Padam» katapultierte Kylie Minogue zurück in höchste Chartregionen. Plötzlich ist die australische Popveteranin wieder cool und angesagt. Wir treffen sie in London (MANNSCHAFT-Interview).

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