Schwule Zwillinge, getrennt zwischen Dresden und Tunesien
Unsere Reporterin traf Dali im tunesischen Gabès und seinen Zwilling Badr in Dresden
Badr und Dali Rtimi sind eineiige Zwillinge. Sie wachsen in Tunesien auf, arbeiten in derselben NGO, geraten beide ins Visier der Polizei. 2019 beantragt Badr politisches Asyl in Dresden. Dali bleibt zurück.
Gesichter kleben an Fensterscheiben, eingeschlafene Zehen zappeln in Flipflops. Am Fenster ziehen Kakteen und Olivenbäume vorbei. Die Sitze des alten VW-Busses klappern, als er die staubige Strasse entlang rast.
Vor zwei Stunden ist Dali in diesen kleinen Bus gestiegen, in einer grossen Halle am Rand von Tunis. Fünf Stunden später wird er in Gabès, seiner Heimatstadt im Süden von Tunesien, wieder aussteigen. Er wird seiner Mutter in die Arme fallen und seinen Neffen ins Bett bringen.
Er wird in einer Kiste voller Bücher kramen, um ein paar davon mit nach Tunis zu nehmen. E.M. Forster, Bruce Benderson, Raj Rao. Drei Autoren aus drei Ländern, die über ein Thema schreiben: Beziehungen zwischen Männern. Dali wird die Bücher aufs Bett werfen und gedankenverloren darin blättern. Er wird seufzen und sagen, dass er nicht mehr weiss, was er hier überhaupt noch soll.
Die Luft im Bus von Tunis nach Gabès ist schwül. Dali liest. Mit der rechten Hand versucht er die losen Seiten festzuhalten, die sich vom Buchrücken gelöst haben und im Fahrtwind flattern. Mit der linken Hand schiebt er, Zeile um Zeile, sein Lesezeichen weiter. Ein altes Ticket von einem Theaterstück der Regisseurin Essia Jaibi. Unter ihrer Leitung wurde 2022 zum ersten Mal ein queeres Theaterstück in Tunesien aufgeführt.
Vom Traum zum Alptraum Das Buch, das gerade in Dalis Schoss liegt: Eckart Tolles «Jetzt! Die Kraft der Gegenwart», der Weltbestseller eines deutschen Autors, der lehrt, die Gedanken an Vergangenheit und Zukunft loszulassen, um in der Gegenwart anzukommen. Eigentlich kann Dali das gut, im Jetzt sein. Zumindest hat er es immer wieder versucht.
Etwa während der Revolution 2011, als er auf der Avenue Habib Bourguiba, einer der wichtigsten Verkehrsstrassen in Tunis, mit Tausenden anderen für Demokratie und Freiheit demonstrierte. Oder 2014, als er sich der NGO Damj anschloss, um sich für die Rechte der queeren Community einzusetzen. Und schliesslich 2017, als er sich zusammen mit seinem Zwillingsbruder Badr ein Leben in Tunis aufbaute.
In diesen Momenten, da war Dali ganz in der Gegenwart angekommen. Die Vergangenheit schien überwunden, die Zukunft vielversprechend. Doch der Traum von Demokratie verwandelte sich nur zehn Jahre nach der Revolution in einen autokratischen Alptraum.
Präsident Kais Saïed, 2019 gewählt und erst gefeiert, entmachtete zwei Jahre nach Amtsantritt das Parlament und konzentrierte die Macht auf sich selbst. Auch die Organisation Damj muss seither einen grossen Teil ihrer Arbeit im Verborgenen stattfinden lassen, um Mitglieder zu schützen. Und Dalis Zwillingsbruder Badr, zermürbt vom Kampf um Freiheit, entschloss sich 2019, das Land zu verlassen. Die Hoffnung, dass Badr eines Tages wieder zurück nach Tunesien kommt, hat Dali mittlerweile aufgegeben.
Stadt der Hoffnung Dabei sind die beiden doch in Cité El Amal, der Stadt der Hoffnung, nur vier Kilometer weiter südlich von Gabès, geboren. Kurz vor Weihnachten, vor 31 Jahren. Dali um 22:50 Uhr, Badr zehn Minuten später. So steht es in ihrem Geburtspass. Auf dem Deckel des kleinen Büchleins: ein Regenbogensymbol. Aus heutiger Sicht wirkt es auf Dali schon fast komisch, er muss lachen.
Gabès, am Abend nach der Ankunft mit dem Bus: Zusammen mit seiner Mutter, seinem Neffen und einer Cousine sitzt Dali im Kinderzimmer auf dem Bett und blättert durch alte Fotoalben. Die Geburtspässe der anderen Geschwister sehen aus wie neu. Die von Badr und Dali hingegen sind abgenutzt; die Ecken stumpf, die Seiten eingerissen.
Das liegt daran, dass die Mutter sie immer wieder aufschlagen musste. Ständig hätten die Zwillinge nachgefragt, erzählt sie, hätten alles wissen wollen: über ihre Herkunft, über ihre Gesundheit, über ihre Verbindung zueinander. Das kleine Büchlein: eine Mischung aus Geburtsurkunde, Impfpass und Notizbuch für die Mutter.
Im Bett gegenüber schnarcht Dalis Nichte leise vor sich hin. Neben ihm zupft sein Neffe an einem Stück Baguette. Krümel fallen auf die Bettdecke und landen auf einem alten Foto der Zwillinge. Beide tragen ein Pokémon-Shirt.
«Das bin ich», sagt Dali zu seiner Cousine. «Sicher?», fragt diese zurück. «Ja, ganz bestimmt», sagt Dali. «Gib mal her», sagt seine Mutter, nimmt ihm das Album aus der Hand und setzt ihre Brille auf. «Nein, das ist Badr.» «Bist du dir sicher?», fragt Dali. «Ganz sicher, dein Gesicht ist schmaler. Und du hast diesen Leberfleck am Arm.»
Dali lacht und hebt den rechten Arm. Und tatsächlich, unter seinem Ellenbogen ist ein hellbrauner Fleck, etwas grösser als die Kuppe eines Daumens.
Die Mutter der Zwillinge ist die Einzige, die beide wirklich auseinanderhalten kann. Selbst Familienmitglieder und langjährige Freunde kommen manchmal durcheinander.
Ihre Vorliebe für Flanellhemden, ihre buschigen, über der Nase zusammengewachsenen Augenbrauen, der Klang ihrer Stimmen. Selbst die Betonung der Silben ist identisch, ganz egal ob sie Arabisch, Englisch oder Französisch sprechen.
Dalis Neffe wälzt sich unruhig zwischen Fotoalben und Baguette-Krümeln. Dali zieht ihm den Schlafanzug an, schiebt ihm ein Kissen unter den kleinen Kopf und deckt ihn zu. Er ist jetzt vier Jahre alt, seinen Onkel Badr, der in Deutschland lebt, hat er nie kennengelernt.
«Ich versuche stark zu sein, aber es ist verdammt schwer.»
Badr (in Dresden)
Trennungen In Dresden ist es schon dunkel, die Temperatur längst unter null Grad gefallen. Badr steht auf einem Parkplatz in einer viel zu dünnen Jacke und raucht. Er schaut nach oben. Winzige Schneeflocken landen auf seinen buschigen Augenbrauen, schmelzen und laufen ihm über die Wangen. Er blinzelt und sagt: «Ich versuche stark zu sein, aber es ist verdammt schwer.»
Als beide acht oder neun Jahre alt waren, wurden sie zum ersten Mal getrennt, erinnert sich Badr. Zum ersten Mal schliefen sie nicht im selben Zimmer, sondern übernachteten bei unterschiedlichen Tanten in unterschiedlichen Städten. «Ich hab die ganze Nacht geheult und geschrien, dass ich zu Dali will», sagt Badr.
Danach hielten sie noch fester zusammen. In der Schule organisierten sie Treffen mit den Parallelklassen und versuchten eine Vereinigung zu gründen, die die Interessen aller Schüler*innen in ihrer Region vertrat. Während der Revolution 2011 fuhren sie immer wieder die fünf Stunden mit dem Bus von Gabès nach Tunis, um vor dem Regierungsgebäude zu demonstrieren.
Irgendwo dazwischen lernten sie mehr über sich selbst, aber auch übereinander. Beiden war eigentlich schon seit ihrer Jugend klar, dass sie schwul sind. Beide sagen, sie hätten gespürt, dass es ihrem Zwilling genauso geht. Ihr Coming-Out hatten sie aber erst Jahre später. Ihnen hätten die Worte gefehlt, um das, was sie fühlen, zu beschreiben. Die tunesische Sprache hatte lange Zeit nur abwertende Begriffe für Homosexualität.
«Ich möchte, dass die beiden glücklich sind. Sie sollen ihr Leben so leben, wie sie es für richtig halten.»
Mutter von Badr und Dali
Erst als Badr und Dali bei der NGO Damj arbeiteten, lernten sie neue, positive Begriffe und identifizierten sich von da an als queer. Heute wissen sogar ihre Eltern darüber Bescheid. Das ist selten in der tunesischen Gesellschaft. Die Mutter von Badr und Dali sagt: «Ich möchte, dass die beiden glücklich sind. Sie sollen ihr Leben so leben, wie sie es für richtig halten.» Das Wichtigste sei die Sicherheit ihrer Söhne, und um diese fürchte sie manchmal, besonders in Tunesien.
Ihre erste längere Trennung erlebten die Zwillinge nach dem Abitur. Badr studierte in Tunis Gebäude- und Energietechnik, Dali in Sousse Logistik und Transportwesen. Auch wenn sie nicht am selben Ort lebten, blieben sie sich immer nah. Beide engagierten sich für die Rechte queerer Menschen. Beide teilten die Hoffnung auf Veränderung, die Hoffnung auf ein gerechtes demokratisches Tunesien.
Doch bei den Demonstrationen, an denen sie teilnahmen, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Demonstranten wurden geschlagen, es wurden Hunde auf sie losgelassen und Tränengas eingesetzt, sagt Badr. Einmal landete er im Krankenhaus und musste über dem Auge genäht werden.
Im Visier der Polizei Als sich die Zwillinge später auch öffentlich für die Rechte der queeren Community aussprachen, gerieten sie weiter ins Visier der Polizei. Badr fing an, sich nicht mehr sicher zu fühlen.
Bis heute sind veraltete Gesetze in Kraft, wie der Paragraf 230, der gleichgeschlechtlichen Sex kriminalisiert und mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Von der Staatsanwaltschaft angeordnete Analuntersuchungen zur Feststellung, ob zwei Männer Geschlechtsverkehr hatten, sollten im Jahr 2017 abgeschafft werden (MANNSCHAFT berichtete). Trotzdem gibt es seither immer wieder Berichte von Betroffenen, die aus Angst vor Konsequenzen einer Untersuchung zustimmen.
In den Monaten, bevor er sich zur Flucht entschloss, rief Badr jedes Mal einen Freund an, wenn er die Wohnung verliess. Um Zeugen zu haben, falls etwas passieren sollte, um wenigstens ein bisschen Sicherheit zu spüren.
Eines Abends lief er von einer Bar zurück nach Hause. Ein Mann fragte ihn nach Zigaretten. Badr hielt ihm die Schachtel hin.
«Wohnst du hier?», fragte der Mann. «Warum willst du das wissen?», erwiderte Badr. «Bist du sicher, dass nichts falsch mit dir ist?», fragte der Mann. «Nichts ist falsch mit mir», sagte Badr.
Als der Mann in seine Tasche griff, rannte Badr los. Über zwei Kilometer verfolgte ihn der Fremde durch die Altstadt, während Badrs Freund am Telefon mithörte und hoffte, dass er es rechtzeitig zu ihm schaffen würde. Kurz vor der Wohnung gelang es Badr, den Mann abzuhängen. Ohne Dali an seiner Seite hätte Badr diese Zeit nicht überstanden.
Dali, der ältere von beiden, der grosse Bruder, fühlte sich verantwortlich. Er wollte Badr beschützen, tröstete ihn und fing ihn auf, wenn er von seinen Ängsten überwältigt wurde. Trotzdem. Irgendwann traute sich Badr kaum mehr vor die Haustür, er litt an Depressionen und versuchte sich das Leben zu nehmen.
An diesem Punkt erkannten beide Brüder, dass es nur einen Ausweg gab: Badr muss Tunesien verlassen.
Der Letzte im Flieger Dezember 2019. Tunis-Carthage International Airport. Wieder trennen sich die Wege der Zwillinge. Diesmal vielleicht für immer. Ihr letzter gemeinsamer Moment: Als sie nach Mitternacht in der Abflughalle stehen und reden. Als sie Witze machen und lachen. Als alles wie immer scheint und zugleich komplett anders ist.
Irgendwann schaut Badr auf die Uhr. «Scheisse, nur noch 20 Minuten». Er rennt zur Tür Richtung Sicherheitskontrolle.
«Sie sind zu spät», sagt der Polizist am Eingang. «Bitte lassen Sie mich durch. Bitte tun sie mir das nicht an», sagt Badr. «Gehen Sie, aber beeilen Sie sich», sagt der Polizeibeamte.
Badr umarmt Dali, dann rennt er los. An der Sicherheitskontrolle schmeisst er Schuhe und Rucksack in einen Kasten, sprintet mit offenen Schnürsenkeln weiter zum Flieger. Er ist der Letzte, der einsteigt. Dali schaut ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwindet.
Später wird er in sein Tagebuch schreiben: Ich bin sauer auf dich, ich will nicht mehr mit dir reden. Zweimal hast du mich schon verlassen. Das erste Mal, als du zu viele Medikamente genommen hast, und das zweite Mal, als du gegangen bist. Mein geliebter Bruder, ich liebe dich und ich will dich nicht verurteilen . . . Ich weiss, wenn wir wieder miteinander reden, dann werden wir uns wieder verstehen.
«Ich mache immer noch dasselbe wie in Tunesien. Nur ist da nicht mehr ständig diese Angst in meinem Kopf.»
Badr
Ohne Angst im Kopf In Dresden hat Badr seine Zigarette aufgeraucht; er lässt sein Feuerzeug in der Tasche verschwinden und geht nach drinnen ins Büro, wo er sich auf einen Stuhl plumpsen lässt. Er arbeitet beim CSD Dresden und unterstützt queere Geflüchtete, die in Deutschland ankommen. Damals war er es, der hier einen sicheren Ort gesucht hat. Heute hilft er anderen dabei, ihn zu finden.
«Ich mache immer noch dasselbe wie in Tunesien», sagt Badr. «Nur ist da nicht mehr ständig diese Angst in meinem Kopf.»
Als Badr ging, entschied sich Dali, zu bleiben. Er wollte weitermachen, für sie beide kämpfen. Doch er ahnte nicht, wie viel Kraft ihn die Trennung von seinem Bruder kosten würde.
In der Haut des Bruders Während Badr Tunesien verlässt, um seine Ängste hinter sich zu lassen, fangen sie bei Dali gerade erst an. Er zieht sich zurück, schreibt in sein Tagebuch: Soll ich lauter werden oder aufhören zu sprechen? Ich bin gefangen in einem Teufelskreis, nichts hat mehr Sinn . . . Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich alles verloren habe.
Wenig später ergänzt er: Ich treffe niemanden mehr, ich will mit niemandem mehr reden, weil ich alle Hoffnung verloren habe . . . Was ist mit mir passiert? Wie bin ich so geworden? Bin das ich?
Das rotkarierte Flanellhemd, das Badr immer getragen hat, trägt jetzt Dali. Er fängt an im selben Café zu arbeiten, in dem Badr gearbeitet hat, bevor er Tunesien verlassen hat.
«Als ich herkam, um mir einen Kaffee zu bestellen, dachte ich, Badr ist zurück», erzählt ein Freund der Zwillinge. Für die Freunde sei es schwer gewesen, Badr zu sehen, ohne Badr wirklich zu sehen. Doch Dali schien es besser zu gehen, wenn er in Badrs Haut schlüpfen konnte.
Es war, als würde Dali in die Fussstapfen seines Bruders treten wollen, als würde er versuchen die Lücke zu füllen, die Badr hinterlassen hat. Als würde er versuchen, beide Zwillinge gleichzeitig zu sein – Badr und Dali, Dali und Badr.
Die zweite Haut, die Dali sich angeeignet hat, sie erlaubt ihm, sich an den Verlust seines Bruders zu gewöhnen. Mit der Zeit geht es ihm besser, er schreibt seine Gefühle auf und versucht so, sie zu verarbeiten.
Die rückwärtslaufende Uhr Am 13. Juli 2021 schreibt Dali in sein Tagebuch: Ich habe überlebt . . . und es ist das erste Mal, dass ich mich entscheide, richtig zu leben.
Er möchte herausfinden, wer er ohne seinen Bruder ist. Lange hat er sich gewünscht, dass Badr zurückkommt, hat überlegt, ob auch er nach Deutschland gehen soll – und sich dagegen entschieden. Hier in Tunesien hat er eine Mission, hier kann er etwas verändern. Dali hat wieder Hoffnung.
Doch diese Hoffnung, sie stirbt nur zwölf Tage später, als am 25. Juli 2021 Präsident Kais Saïed den Regierungschef entlässt und das Parlament auffordert, seine Arbeit einzustellen.
Auf der Avenue Habib Bourguiba, derselben Strasse, auf der Dali zehn Jahre zuvor gemeinsam mit seinem Bruder für Demokratie demonstriert hat, bricht er in Tränen aus.
Ein paar Monate später übernimmt Präsident Saïed auch die Kontrolle über die Justiz. Die Uhr in Tunesien scheint rückwärts zu laufen. Saïed regiert zunehmend autoritär und schränkt die damals erkämpften Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter ein. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2024 wurde er wiedergewählt. Im Vorfeld waren mehrere Oppositionspolitiker verhaftet worden.
Willkürliche Festnahmen In der Dresdner Neustadt sitzt Badr auf einer Couch. Er wirkt angekommen, in sich ruhend. Doch wenn er über Dali spricht, dann mischt sich Nervosität in seine sonst eher ruhige Stimme. «Ein Teil von mir ist immer in Tunis», sagt er. Auch wenn sich Badr in Dresden ein Leben aufgebaut hat, so klafft da diese Lücke.
Wenn er sein Handy öffnet und die Posts sieht, die Freunde auf Social Media teilen, dann fühlt er sich isoliert und hilflos. Schon mehrfach habe er über Facebook von der Festnahme seines Bruders erfahren. Die Meldungen seien dann vier, fünf Stunden alt gewesen. Er habe versucht, Freunde zu erreichen, um herauszufinden, was genau passiert wäre, doch niemand sei ans Telefon gegangen. Erst Tage später hätte er endlich mit Dali sprechen können.
Die Festnahmen sind willkürlich, juristisch unbegründet. Meistens darf Dali nach Eintreffen seines Anwalts wieder gehen.
Dennoch ist er inzwischen ständig auf der Hut, dauerhaft im Alarmzustand – wie fast alle queeren Menschen in Tunesien. Jedes auffällige Kleidungsstück, jede Bewegung könnte Aufsehen erregen, könnte als zu feminin wahrgenommen werden, könnte dafür sorgen, dass man belästigt wird, missbraucht oder verhaftet. Dieses ständige Versteckspiel, es erschöpft.
Gehen oder bleiben In einem Café in Gabès trinkt Dali Espresso und raucht seine dritte Zigarette. Sonnenstrahlen knallen auf den Asphalt, Staub wirbelt durch die Luft.
Das Licht blendet ihn, er blinzelt und schaut nach vorn auf die Strasse. Hier hat Badr während der Revolution 2011 eine Rede gehalten. Hier fand 2017 die erste öffentliche LGBTIQ-Kundgebung im Süden Tunesiens statt. Hier wurde der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Damj von der Polizei verhaftet.
Tunesien sei schon immer chaotisch gewesen, sagt Dali. Vor allem während der Revolution. «Aber damals war es ein herrliches Chaos», sagt er. Doch seit jenem 25. Juli 2021, als Präsident Kais Saïed anfing, die Hoffnung auf Demokratie Stück für Stück zu ersticken, sei es ein Chaos, vor dem er sich fürchte. Seitdem überlegt er, ob es auch für ihn besser wäre zu gehen.
Lange habe er darüber nachgedacht, was das bedeuten würde. Seine beiden Schwestern leben in Katar, auch die anderen beiden Brüder kommen nicht oft nach Gabès. Wer kümmert sich um die Eltern, wenn Dali weg ist?
Nach Deutschland zu gehen, das kann er sich nicht vorstellen. Aber vielleicht nach Frankreich oder Belgien. Dort könnte er sich sein eigenes Leben aufbauen und trotzdem nah bei Badr sein. Noch einmal studieren, Kunst und Musik, vielleicht Schauspiel. «Zu spielen, ein anderer zu sein, das kann ich gut», sagt er und lacht.
Draussen leuchten die Sterne «Tunis, Sousse, Sfax» schreien die Männer vor den VW-Bussen. «Tunis», sagt Dali, drückt einem von ihnen sein Busticket in die Hand und wirft seine Tasche auf den Sitz. Es ist schon dunkel in Gabès, Wind weht benutzte Taschentücher und leere Kekspackungen durch die Strassen.
Bis der Bus nach Tunis losfährt, wird es noch zwei Stunden dauern. Der Fahrer startet erst dann den Motor, wenn alle zehn Sitzplätze belegt sind. Als es endlich losgeht, ist es stockdunkel. Der Fahrer hat das Fenster einen Spalt weit offengelassen, kühle Luft strömt hinein. Trotzdem riecht es nach zu vielen Menschen, die schon zu lange sitzen. Draussen leuchten die Sterne, drinnen glüht Dalis Zigarette. Er hat den Kopf nach vorne gelehnt und hört Musik. Fünf Stunden lang ist er fast ganz still.
Zurück in Tunis nimmt er ein Taxi nach Downtown. Als es in eine Seitenstrasse der Avenue Habib Bourguiba einbiegt, schaut Dali nach draussen. «Ich kann es kaum erwarten, das alles hier zu vermissen», sagt er und steigt aus.
*Transparenzhinweis: Die Recherche wurde durch ein Stipendium des Goethe-Instituts unterstützt.
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