Queer im Nahen Osten: Protokoll des Über­lebens

Ashkan Shabani musste aus dem Iran fliehen

Ein Schnappschuss aus dem queeren Nachtleben Istanbuls (Bild: Ashkan Shabani)
Ein Schnappschuss aus dem queeren Nachtleben Istanbuls (Bild: Ashkan Shabani)

Ashkan Shabani machte sich im Iran einen Namen als Pressefotograf. Als sein Vater seine Homosexualität entdeckte und ihm mit dem Tod drohte, ergriff er die Flucht, die ihn über die Türkei nach Deutschland brachte. Mit seinen Bildern will er die Situation von LGBTIQ-Personen im Nahen Osten sichtbar machen.

Als Pressefotograf war Ashkan Shabani immer unterwegs im Zentrum des Geschehens. Seine Bilder entstanden inmitten von Präsidentschaftswahlen, Naturkatastrophen und Protesten, veröffentlicht wurden sie von internationalen Titeln wie GEO, Handelsblatt, Daily Mirror und Corriere della Sera.

Seitdem der 30-Jährige im November 2023 in Deutschland Asyl erhalten hat, darf er jedoch nicht mehr arbeiten. Bis seine Aufenthaltserlaubnis eintrifft, fotografiert Ashkan wieder nur für sich selbst.

Genau wie vor zehn Jahren, als Ashkan für einen Astronomiekurs in seiner Heimatstadt Rascht im Iran eine Kamera auslieh, um den Nachthimmel abzulichten. Sie wurde zu seiner neuen Begleiterin, die Fotografie zu seiner neuen Leidenschaft. Am liebsten wäre er für die Medien auf Bilderjagd gegangen, doch dafür fehlte ihm der Mut.

Ohne dass ich etwas davon wusste, stellte er ein Portfolio meiner Bilder zusammen und schickte es einer kleinen Zeitung in meiner Stadt

«Der Grund dafür, dass es dann trotzdem geklappt hat, war mein damaliger Freund», sagt er im Videocall. «Ohne dass ich etwas davon wusste, stellte er ein Portfolio meiner Bilder zusammen und schickte es einer kleinen Zeitung in meiner Stadt.» Die Redaktion stellte ihn ein und schickte ihn gleich zu seinem ersten Auftrag: die Eröffnung eines Basars in Rascht.

Ashkan Shabani (Bild: zVg)
Ashkan Shabani (Bild: zVg)

Für Ashkan war es der Beginn einer Karriere als Fotograf und als Journalist. Seine Kamera kam aber nicht nur beruflich zum Einsatz, sondern auch in seinem Privatleben. Sie hielt intime Momente des Zusammenseins mit seinem damaligen Freund fest – nennen wir ihn Eli –, mit dem er acht Jahre zusammen war: Wie sie sich im Schutz der Baumkronen der Hyrkanischen Wälder beim Kaspischen Meer umarmten. Wie sie in einem unbeobachteten Moment der Zweisamkeit Hände hielten. Wie sie mit Freund*innen bei einer inoffiziellen LGBTIQ-Party in der Hauptstadt Teheran tanzten.

1. Aufwachsen in gewalttätiger Familie Im Iran sind gleichgeschlechtliche Handlungen sowohl zwischen Männern als auch zwischen Frauen kriminalisiert und können gemäss Gesetzgebung mit Peitschenhieben, Gefängnis und gar mit dem Tod bestraft werden (MANNSCHAFT berichtete). Zuletzt berichtete die Associated Press im Februar 2022 von zwei Männern, die wegen ihrer Homosexualität am Galgen hingerichtet wurden. Im Jahr zuvor hatte ein Ehrenmord weltweit für Schlagzeilen gesorgt: Ein 20-Jähriger wurde von seinem Halbbruder und zwei Cousins entführt und enthauptet, weil er schwul war.

Auch Ashkan wuchs in einer gewalttätigen Familie auf. «Mein Vater schnitt meine Haut mit scharfen Gegenständen auf, wenn ich nicht hart genug lernte, betete oder gemäss seinen Vorstellungen spielte», sagt er. Narben auf seinem Handrücken zeugen von Schmerzen, die er über sich ergehen lassen musste. «Manchmal zwang er mich dazu, scharfe Chilischoten zu essen oder erhitzte einen Löffel auf der Herdplatte, um mich zu verbrennen.» Die Andersartigkeit machte sich bei Ashkan bereits als Kind bemerkbar. Er spielte nicht mit Spielzeugwaffen oder Autos, interessierte sich auch nicht für Fussball. Stattdessen spielte er lieber Vater-Mutter-Kind mit Mädchen. «Mein Vater vermutete, dass ich anders war . . . vielleicht zu anders.»

Ich betete zu Gott, flehte ihn an, dass er mich anders machen sollte

Ashkan fühlte sich alleine – glaubte, dass er sich als Einziger auf der Welt mit diesen Gefühlen herumschlagen musste. «Meine Familie verprügelte mich ständig, um mein Wesen vor anderen Familienmitgliedern zu verstecken», sagt er. «Ich betete zu Gott, flehte ihn an, dass er mich anders machen sollte.»

2. Das Internet als Ende der Einsamkeit Als Jugendlicher besuchte Ashkan Internetcafés. Als er statt mit persischen mit englischen Begriffen für die «Ursache» seines Andersseins suchte, tat sich ihm eine neue Welt auf. «Ich lernte die Bedeutung des Worts ‹gay› und erfuhr, dass es ganz viele Menschen da draussen gab, die genauso waren wie ich. Nicht allein zu sein war eine Offenbarung!», erinnert er sich, das Leuchten seiner Augen ist selbst im verpixelten Bild des Videocalls erkennbar.

Der damals 16-Jährige tauschte sich mit Gleichgesinnten über die Messenger-Chats von Yahoo! und Facebook aus. Die Plattformen gewährten einen Schutz durch Anonymität, dementsprechend dauerte es lange, bis ein Vertrauensverhältnis zu anderen Usern aufgebaut werden konnte.

Selbst für einen Kuss mussten Ashkanund sein ehemaliger Freund im Iran geheime Plätze finden (Bild: Ashkan Shabani)
Selbst für einen Kuss mussten Ashkanund sein ehemaliger Freund im Iran geheime Plätze finden (Bild: Ashkan Shabani)

«Den Dating-Apps vertraut man nicht. Profile sind schnell erstellt und es kursierten Geschichten von Beamten, die ein Treffen arrangieren und dich verhaften, sobald du auftauchst», sagt Ashkan. Mit einem Freund, den er bei Yahoo! kennen lernte, chattete er erst ein Jahr, bevor sie sich trafen. Dieser lud ihn schliesslich in eine Telegram-Gruppe ein, in welcher der nun 18-jährige Ashkan dann den vier Jahre älteren Eli kennen lernte.

Mit Eli baute Ashkan über die nächsten Jahre eine Beziehung auf. Die beiden trafen sich im Geheimen, draussen oder bei Freund*innen oder Community-Events, die versteckt stattfanden. Gleichzeitig trieb Ashkan seine Karriere als Fotograf weiter voran, arbeitete als Freelancer für Agenturen oder Medien wie Al Jazeera und bewarb sich für Stipendien im Ausland. Sein Doppelleben nahm jedoch ein jähes Ende, als sein Vater ihn Händchen haltend mit Eli im Park sah. «Meine Eltern sagten mir, ich sei krank und nicht länger ihr Sohn. Sie stellten mich vor die Wahl: Entweder mache ich eine Elektroschocktherapie oder ich verlasse sofort ihr Haus», sagt er. «Also ging ich.»

Sie stellten mich vor die Wahl: Entweder mache ich eine Elektroschocktherapie oder ich verlasse sofort ihr Haus

Zu seinem damaligen Freund konnte er nicht. Ashkan wurde zum Nomaden, zog von Stadt zu Stadt, schlief auf Parkbänken und auf öffentlichen Plätzen. Doch sein Vater schien ihn jedes Mal aufzuspüren und schickte ihm Drohnachrichten. Gemeinsam mit seinen Onkeln würde er ihn finden, vergewaltigen und töten. «Er schrieb mir immer, in welcher Stadt ich mich befand und das genügte, um bei mir eine Panikattacke auszulösen. Wie er es geschafft hat, mich immer zu tracken, weiss ich nicht genau», sagt Ashkan.

Als Inhaber mehrerer Firmen im Iran arbeite er eng mit der Regierung zusammen und habe vermutlich seine Beziehungen spielen lassen. «Ich glaube, mein Vater konnte meine Telefonnummer und die Bewegungen auf meinem Bankkonto nachverfolgen und wusste vielleicht auch, wenn ich meinen Personalausweis verwendete, um etwa Bustickets zu kaufen. Er wusste immer, in welcher Stadt ich mich gerade befand, aber nicht wo genau.»

3. Am Abgrund Es war in dieser turbulenten Zeit im Frühjahr 2020, dass der 26-jährige Ashkan ein mit 18’000 US-Dollar dotiertes Stipendium der renommierten VII Photo Agency erhielt – mit der Möglichkeit, in Paris mit Ed Kashi Fotografie zu studieren. Nur: Die Welt schlitterte gerade in eine Pandemie, das Mentoring des renommierten Fotografen wurde in den virtuellen Raum verlegt.

Ashkans Hoffnung, in einem sicheren Land im Westen unterzukommen, zerbrach. Da er auf der Strasse lebte, war es für ihn nicht möglich, regelmässig bei den Onlinevorlesungen seines neuen Fotografiestudiums teilzunehmen. Kashi stellte ihn zur Rede, schimpfte, dass eine andere Person dieses Stipendium hätte bekommen können. «Als ich meine Situation erklärte, waren seine Frau und er sehr verständnisvoll», sagt er.

An einem schlimmen Tag erhielt Ashkan Videos von seiner Mutter, in denen sie seine Kindheitsfotos verbrannte und ihm sagte, dass er nicht mehr ihr Sohn sei und sie sich seinen Tod wünschte. «Ich fragte mich, was der Sinn des Ganzen sei», erinnert er sich. «Ich wollte kein Leben führen, in dem ich ständig auf der Hut sein musste. Eine Familie, die mich nicht wollte. Ein Freund, zu dem ich nicht ziehen konnte.» Ashkan stand auf einer Brücke und war bereit zu springen.

 Doch dann erhielt er einen Anruf von Ed Kashi, nur wenige Minuten nachdem Ashkan ihm seine Abschiedsnachricht geschickt hatte. «Wir weinten und redeten viel», erinnert sich Ashkan. «Er stimmte mich um, indem er mir einen Ausweg aufzeigte. Ich könnte in die Türkei gehen und dort ein neues Leben aufbauen.»

Kashi brachte Ashkan in Kontakt mit LGBTIQ-Organisationen, um ihn bei seiner Ausreise zu unterstützen, wie Kashi selbst gegenüber MANNSCHAFT bestätigte. «Leben wir als freie Menschen in der Türkei», sagte Ashkan zu Eli und die beiden schmiedeten Pläne für einen Neuanfang. Ashkan flog als Erster nach Istanbul und bereitete alles vor. Für die Einreise benötigte er kein Visum, doch er musste sein gesamtes Geld zusammenkratzen. «Der Flug war unglaublich teuer. Für das Ticket musste ich eine meiner Kameras verkaufen», sagt er.

4. Wieder allein In Istanbul angekommen, mietete Ashkan eine Wohnung und kaufte alles in zweifacher Ausführung – für ihn und Eli. Doch auf einmal war sein Freund von allen Plattformen verschwunden. Nach über acht Jahren Beziehung ghostete er ihn.

Ich glaube, er wollte das Land nicht verlassen und wieder von vorne beginnen

Eine Erklärung dafür hat Ashkan bis heute nicht, dafür einige Vermutungen. «Seine Situation war viel besser als meine. Er war bei seiner Familie geoutet. Sie waren sehr offen, hatten kein Problem damit und kannten mich sogar», sagt er. «Ich glaube, er wollte das Land nicht verlassen und wieder von vorne beginnen. Er war 30 Jahre alt und hatte hart für seinen Job, sein Haus und sein Auto gearbeitet. Hinzu kommt, dass seine Familie finanziell von ihm abhängig war.»

Die Türkei ging in den Lockdown und Ashkan fühlte sich allein. Die Pandemie-Massnahmen machten es schwierig, neue Menschen kennen zu lernen und als Pressefotograf zu arbeiten. Hinzu kam, dass Istanbul zwar um einiges liberaler war als der Iran, er aber immer noch Diskriminierung erfuhr. «Ich wohnte in einem konservativen Stadtteil, wo ich ständig angefeindet wurde», sagt er. «Menschen starrten, beschimpften mich oder schoben mich zur Seite, wenn ich den Bus besteigen wollte. Die Diskriminierung erlebte ich primär durch meine Nationalität, verstärkt durch meine Sexualität.»

In der Türkei erlebt Ashkan erstmals, wie die queere Community im öffentlichen Raum sichtbar wird (Bild: Ashkan Shabani)
In der Türkei erlebt Ashkan erstmals, wie die queere Community im öffentlichen Raum sichtbar wird (Bild: Ashkan Shabani)

In der Türkei gab es zwar keine Todesstrafe mehr auf homosexuelle Handlungen, doch viel sicherer fühlte sich Ashkan nicht. Die Behörden lösten gewaltsam die Pride auf, die er zum ersten Mal erlebte und als Fotograf dokumentierte, und verprügelten ihn zusammen mit den Teilnehmenden und den anderen anwesenden Journalist*innen.

Sie zwangen mich ins Auto und fuhren mich in den Kern des Brandes, wo sie mich stehen liessen

Als er im Sommer 2021 die Waldbrände in der Türkei fotografierte, wurde er von der Polizei angehalten und kontrolliert. Sie beschlagnahmte seine Kamera und durchsuchte sein Handy, mit dem sie anhand von Bildern auf seine Sexualität schloss. «Dann begann die Schikane und ein Beamter erniedrigte mich mit Berührungen», sagt er. «Sie zwangen mich ins Auto und fuhren mich in den Kern des Brandes, wo sie mich stehen liessen.»

5. Neustart in Deutschland Im November 2023 flog Ashkan nach Deutschland, um bei einer Lesung in einer Universität teilzunehmen. Er blieb und beantragte Asyl, unter anderem aus Angst, in der Türkei womöglich zurück in den Iran deportiert zu werden. Die Kamera blieb seine treue Begleiterin. Er fotografierte den Wartebereich seiner Asylunterkunft, sein Zimmer, seinen Koffer, der seine ganzen Habseligkeiten enthielt.

Doch auch hier erlebte er Schikane – dieses Mal eines Wachmannes, der ihn sexuell belästigte. Ashkan meldete den Vorfall, doch der Wachmann hörte nicht auf. Als er die Belästigung erneut meldete, wurde Ashkan in eine andere Unterkunft versetzt. «Soviel ich weiss, ist der Wachmann dort immer noch tätig», sagt er. «Für queere Menschen sind Asylunterkünfte in Deutschland nicht sicher.»

MIt seiner Kamera hielt Ashkan das Asylverfahren in Deutschland fest (Bild: Ashkan Shabani)
MIt seiner Kamera hielt Ashkan das Asylverfahren in Deutschland fest (Bild: Ashkan Shabani)

Seit sein Asylantrag gutgeheissen wurde, lebt Ashkan in einem Zimmer in Hamburg. Er wartet sehnlichst auf den Brief mit seiner Aufenthaltserlaubnis, die den Startschuss für sein neues Leben werden soll. Damit kann er offiziell Wohnsitz nehmen, ein Bankkonto eröffnen und wieder arbeiten. Auf Ashkans Arm sind die Wörter «Frauen, Leben, Freiheit», tätowiert – der Slogan, der im Iran zur Kampfansage der Frauenproteste 2022 geworden war.

«Viele Männer unterstützten die Frauen und das war ein bedeutendes Zeichen für mich», sagt er. «Die iranische Gesellschaft kam zusammen, um sich gegen die Regierung zu stellen.» Unter dem Titel «Queer, Life, Freedom» veröffentlichte Ashkan die Bilder seiner Reise aus dem Iran über die Türkei nach Deutschland. Er hofft, trotz aller Umstände eines Tages in seine Heimat zurückkehren zu können, ohne verfolgt zu werden.

Ich werde meine Eltern vielleicht nicht mehr lieben können, will aber verstehen, warum sie so handeln

Kontakt mit seiner Familie hat Ashkan nicht. Er wäre jedoch bereit, mit ihnen an einen Tisch zu sitzen. «Viele queere Menschen schirmen sich in ihrer Bubble ab, um Rassismus oder Homophobie aus dem Weg zu gehen. Wie kann ich verstehen, wo dieser Hass herkommt, wenn ich mich ihm nicht stelle?», sagt er. «Ich werde meine Eltern vielleicht nicht mehr lieben können, will aber verstehen, warum sie so handeln. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit bei nur einem Prozent läge, würde ich versuchen wollen sie aufzuklären. Vielleicht ändern sie ihre Einstellung, vielleicht aber auch nicht.»

Mehr über Ashkan und seine Arbeit findest du auf ashkanshabani.com

Die queere Regisseurin mit indigenen Wurzeln spricht über ihren Werdegang und über die Entwicklung der Hollywood-Industrie, die bis vor zehn Jahren noch behauptete, Native Americans hätten vom Filmemachen keine Ahnung und könnten weder schreiben noch spielen (MANNSCHAFT+).

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