«Der Fremde» von François Ozon: Sexy, schräg und philosophisch

Der schwule Starregisseur verfilmt Albert Camus neu – in Schwarzweiss!

Szene aus «Der Fremde» von François Ozon
Benjamin Voisin in «Der Fremde» von François Ozon (Bild: Foz / Gaumont / France 2 Cinema / Carole Bethuel)

Mit «Der Fremde» verfilmt François Ozon Albert Camus’ Klassiker aus dem Jahr 1942 neu. Das Buch ist ein Schlüsselwerk des Existenzialismus beziehungsweise der Philosophie des Absurden. Wir sprachen mit dem Regisseur darüber, was ihn an der Geschichte gereizt hat.

Monsieur Ozon, erinnern Sie sich noch an das erste Mal, als Sie Albert Camus‘ «Der Fremde» gelesen haben? So konkret nicht, aber ich war auf jeden Fall noch Teenager. Als Schüler in Frankreich kommt man an dem Buch bis heute nicht vorbei. Und für viele war und ist es quasi der Roman, mit dem sie das Lesen für sich entdecken. Vermutlich würden viele Menschen in Frankreich sagen, dass es sich bei «Der Fremde» um ihr Lieblingsbuch handelt. Von meiner ersten Lektüre ist mir vor allem der erste Satz im Gedächtnis geblieben: «Heute ist Mama gestorben.» Den fand ich damals revolutionär. Und ich erinnere mich noch gut an die Szene am Strand, die erschien mir unglaublich mysteriös.

Filmemacher François Ozon
Filmemacher François Ozon (Bild: Christoph Soeder/dpa)

Waren es diese Erinnerungen, die Sie dazu brachten, den Roman nun neu zu verfilmen? In gewisser Weise ja. Ich habe ihn dann selbstverständlich noch einmal gelesen und war erstaunt, dass ich ihn immer noch so kraftvoll, rätselhaft und wunderschön geschrieben fand wie damals. Und er liess mich mit vielen Fragen zurück, was ich als ideale Voraussetzung für eine Verfilmung empfand. Gleichzeitig habe ich lange gezögert, eben gerade weil «Der Fremde» eines der drei meistgelesenen französischen Bücher auf der ganzen Welt ist. Ich wusste: wenn ich dieses Meisterwerk auf die Leinwand bringe, werden die Leute mit gezückten Messern auf mich warten!

Vor einigen Veränderungen sind Sie trotzdem nicht zurückgeschreckt. Der Araber, den Meursault umbringt, bleibt nicht namenlos, und Frauenfiguren, die etwas zu sagen haben, kommen in Ihrem Film nun auch vor. Warum war Ihnen das wichtig? Weil mir beim erneuten Lesen so deutlich ins Auge sprang, wie sehr sich unser Blick auf die Welt verändert hat. Man kann im Jahr 2025 nicht mehr exakt so erzählen, als wären wir immer noch 1942. Zumal daas Algerien unter französischer Kolonialherrschaft eine Welt ist, die es nicht mehr gibt.

Bei der Lektüre heute war es ein anderer Satz, der sich mir einbrannte: «Ich habe einen Araber getötet.» Der hat heute in seiner Anonymität etwas Schockierendes, auch wenn ich damit nicht sagen will, dass Camus unbedingt ein Rassist war. Wie übrigens auch Meursault nicht, anders als sein Nachbar Sintès. Camus nutzte Archetypen, um ein System zu beschreiben, und die Welt, in der er gross geworden war. Aber heutzutage wäre es mir mit meinem Wissens- und Erkenntnisstand unmöglich, diese Geschichte auf die gleiche Weise zu erzählen und die arabisch-stämmige Bevölkerung Algeriens letztlich unsichtbar zu machen. Es brauchte Kontext, um aus heutiger Sicht diese Welt zu verstehen. Was nicht heisst, dass man der Geschichte das Existenzialistische nehmen muss.

«Bei der Lektüre heute war es ein anderer Satz, der sich mir einbrannte: ‹Ich habe einen Araber getötet›»

François Ozon, Filmregisseur

Interessanterweise haben Sie die Struktur der Vorlage beibehalten … Stimmt, genau wie bei Camus ist auch im Film nun die Geschichte in zwei Teile geteilt. Einfacher, oder sagen wir: bekömmlicher für heutige Sehgewohnheiten wäre es vermutlich gewesen, dem Publikum eine griffigere Struktur zu präsentieren, die mehr erklärt. Man hätte mit dem Prozess beginnen und dann mit Rückblenden arbeiten können. Aber dann wäre «Der Fremde» zu einem Netflix-Film verkommen. Auf so etwas hatte ich absolut keine Lust.

Ich liebe die Radikalität, mit der der zweigeteilte Roman erzählt ist. Das wollte ich unbedingt beibehalten, sowohl den sehr sinnlichen ersten als auch den deutlich komplexeren, philosophischen zweiten Teil. Dass so etwas heutzutage letztlich ein Risiko ist und weite Teile des Publikums gerne alles erklärt und mundgerecht serviert bekommen, war mir klar. Doch zur Stärke von Camus‘ Text gehört genau das eben zwingend dazu.

Dass man vielleicht nicht alles versteht oder begreift, muss kein Nachteil sein? Zumindest sehe ich das so. Camus hat ja bewusst nicht erklärt, warum Meursault den Mord begeht und stattdessen die Absurdität betont. Und auch ich kann selbst nach wiederholter Lektüre nicht sagen, dass ich Meursault als Figur wirklich verstehe. Dazu ist er zu abstrakt, nicht psychologisch gezeichnet. Die Geschichte funktioniert eigentlich nur auf diese Weise. Rational und zu 100 Prozent realistisch kann man sie nicht umsetzen.

Aus heutiger Sicht könnte man allerdings fragen, ob und wenn ja, was «Der Fremde» vielleicht über Männlichkeit zu sagen hat. Haben Sie darüber nachgedacht? Tatsächlich fiel mir im Rahmen der Adaption auf, dass eigentlich alle Männer, die in dieser Geschichte vorkommen, das sind, was man heute als toxisch bezeichnen würde. Meursault, der keinen Zugriff auf seine Emotionen hat und nicht einmal weinen kann, als seine Mutter stirbt. Salamano, der seinen Hund misshandelt. Sintès, der seine Geliebte schlägt. Wirklich mitfühlen kann und will man mit diesen Männern nicht, heute noch weniger als vielleicht früher. Auch deswegen habe ich den Raum für die Frauen in der Geschichte vergrössert. Djemlia zum Beispiel existiert im Roman praktisch gar nicht, und Marie ist wirklich nur eine kleine Nebenfigur. Mir war es wichtig, dass sie genauso sehr als echte Personen funktionieren wie die Männer. Und womöglich die Situation – sowohl des Meursaults als auch die zwischen Algerien und Frankreich – besser durchblickt haben als letztere.

Warum die Entscheidung für einen Film in Schwarzweiss? Das stand für mich von Anfang an fest. Ähnlich wie bei «Frantz» vor einigen Jahren wollte ich die Vergangenheit ästhetisch auf eine Weise wiederaufleben lassen, die kohärent ist mit unserem Bild, das wir von ihr haben. Indem ich auf Schwarzweiss-Bilder setze, die an alle Aufnahmen erinnern, die wir aus jener Zeit haben. Das Abtauchen in eine uns fremde, in Vergessenheit geratene Welt wird meiner Ansicht nach durch die Schönheit der beinahe stilisierten Schwarzweissbilder erleichtert. Farbe hätte in diesem Kontext wie ein Störfaktor gewirkt und vom philosophischen Kern des Buchs abgelenkt, glaube ich. Abgesehen davon war dies die finanziell praktikablere Lösung. Das Algier der 1940er auch noch in Farbe wiederaufleben zu lassen, hätte mein bescheidenes Budget definitiv gesprengt.

Der stilisierte Look des Films geht auch mit einem gewissen Sex-Appeal einher, den «Der Fremde» in Ihrer Version verströmt. Ist das ein Mittel, vielleicht gerade auch ein jüngeres Publikum für den Stoff zu begeistern? Eigentlich glaube ich, dass Camus‘ Geschichte bis heute stark genug ist, um auch ein jüngeres Publikum zu erreichen. Das, was Sie Sex-Appeal nennen, ist einfach mein Ausdruck der Sinnlichkeit, die ich in der Vorlage entdeckt habe. Diese Schönheit ist Teil der Geschichte, und gerade in der Verfilmung von grosser Relevanz. Eben weil man mit jemandem wie Meursault nicht begeistert mitfiebern kann, muss man die Faszination der Zuschauerinnen und Zuschauer auf andere Weise wecken. Das hat schon in den Sechziger Jahren für Alain Delon bei vielen seiner Figuren funktioniert. Und ich hatte zum Glück mit Benjamin Voisin nun einen Hauptdarsteller, der diesbezüglich mithalten kann.

Mit Voisin haben Sie hier zum zweiten Mal gedreht, mit Rebecca Marder ebenfalls. Sind die beiden auf dem Weg, Ihre neuen Lieblingsschauspieler*innen zu werden? Ich schaue einfach immer von Film zu Film, wer für welche Rolle passt, und schreibe nie schon von vornherein für bestimmte Personen. Aber wenn ich mit jemandem gerne zusammengearbeitet habe, dann ist es mir auch eine Freude, das zu wiederholen – und vielleicht mal ganz andere Seiten an ihnen zu zeigen.

Dürfen wir daraus im Umkehrschluss folgern, dass die Zusammenarbeit wenig erfreulich mit den Schauspiele*rinnen war, die nur in einem Ihrer Filme mit von der Partie waren? Oh, was für eine verwegene Frage. Als würde ich da jetzt Namen nennen. Sagen wir es so: bei vielen von denen, mit denen ich erst einmal kollaboriert habe, ist die Wiederholung bislang nur an zeitlichen Problemen gescheitert!

Pierre Lottin als Mersaults Nachbar Raymond Sintè in «Der Fremde»
Pierre Lottin als Mersaults Nachbar Raymond Sintè in «Der Fremde» (Bild: Foz / Gaumont / France 2 Cinema / Carole Bethuel)

Ebenfalls schon zum zweiten Mal in einem Ihrer Filme taucht die Band The Cure auf. In «Sommer 85» kam der Song «In Between Days» zum Einsatz, in «Der Fremde» nun «Killing an Arab» … Als Teenager war ich ein riesiger Fan von The Cure, und «Killing an Arab» in diesem Fall für den Abspann zu verwenden, las einfach auf der Hand. Als ich bei «Sommer 85» Kontakt zu Robert Smith aufnahm, scheiterte die Sache mit den Songrechten fast. Dieses Mal war unsere Kommunikation deutlich reibungsloser.

Was war denn beim ersten Mal das Problem? Er störte sich daran, dass mein Film ursprünglich 1984 spielen sollte, als ich selbst 16 Jahre alt war. Denn «In Between Days» war in Europa erst 1985 erschienen. Nur für ihn und den Song änderte ich also letztlich meinen Filmtitel. Bei «Killing an Arab» war er nun sofort happy, dass ich das Lied haben wollte. Denn es ist ja von Camus‘ Roman inspiriert, aber Robert hatte immer das Gefühl, dass viel zu wenige seiner Hörer*innen darum wissen und auch deswegen der Song gerade in den USA in einen ganz falschen, nämlich rechten Kontext gerückt wird. Es war ihm eine Ehre, dass The Cure und Camus hier nun endlich in einem Atemzug genannt werden.

Apropos Ehre: Bevor Sie mit dem Dreh zu «Der Fremde» begannen, trafen Sie sich mit Camus‘ Tochter Catherine. War das vor allem eine Respektsbekundung? Nicht nur, denn sie ist auch seine Nachlassverwalterin und sehr streng, wenn es darum geht, wer was mit seinem Werk anstellt. Sie hat diesbezüglich hohe Ansprüche und grosse Sorge, dass seine Ideen und Visionen verraten werden. Ich war sehr erleichtert und auch ein wenig stolz, als sie meiner Adaption ihren Segen gab. Auch mit dem fertigen Film war sie dann sehr zufrieden, was mich besonders glücklich gemacht hat.

Filmstart: Diese Woche in Deutschland und Österreich, in der Deutschschweiz erst am 19. Februar 2026.

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