François Ozon und die versöhnliche Seite des Todes
Neu im Kino: «Wenn der Herbst naht»
Der schwule Star-Regisseur François Ozon zeigt in «Wenn der Herbst naht» zwei Frauen, die im Kino meist unsichtbar sind – eine ist 70, die andere 80: Die Freundinnen Michelle (Hélène Vincent) und Marie-Claude (Josiane Balasko) waren einst Sexarbeiterinnen.
Monsieur Ozon, stimmt es, dass die Geschichte von «Wenn der Herbst naht» von persönlichen Erfahrungen inspiriert ist? Sagen wir es mal so: eine Erzählung aus meiner Kindheit war der Auslöser für diesen Film. Damals hatte meine Grosstante im Wald Pilze gesammelt und Abendessen für die gesamte Familie gekocht. Am Ende waren alle krank, nur sie nicht, weil sie selbst gar nichts gegessen hatte. Einige Verwandte mussten sogar ins Krankenhaus.
Sie auch? Nein, ich war bei dem Essen nicht dabei. Aber meine Eltern haben mir die Geschichte erzählt. Und obwohl ich wusste, dass das Ganze natürlich ein Versehen war, war ich begeistert. Der Gedanke, dass meine Grosstante um ein Haar meine ganze Familie ermordet hätte, gefiel mir als Kind mit abgründigem Humor und Sinn fürs Perverse sehr. Als ich darüber nachdachte, einen Film über zwei ältere Frauen auf dem Land zu drehen, erschient mir diese Familienanekdote jedenfalls als ein guter Ausgangspunkt.
«Wenn der Herbst naht» ist nicht der erste Ihrer Filme, in dem der Tod eine wichtige Rolle spielt. Würden Sie sagen, dass das Thema Sie sehr beschäftigt? Mal mehr, mal weniger. Ich bin nicht so morbide, dass ich mich Tag ein, Tag aus damit auseinandersetzen würde. Aber immer mal wieder ist der Tod durchaus präsent in meinen Gedanken, was im Übrigen ganz unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Im Fall dieses Films war es mir beispielsweise wichtig, die versöhnliche Seite des Todes zu zeigen. Oder zumindest die Tatsache, dass es mitunter einfacher ist, mit einem Geist zu kommunizieren als mit einer realen Person. Die Mutter-Tochter-Beziehung in «Wenn der Herbst naht» ist ja eine echt toxische, zwischen den beiden ist jede Kommunikation wirklich unmöglich. Selbst in so einem Fall ist es aber möglich, dass man wenigstens im Tod dann doch seinem Gegenüber verzeiht und seinen Frieden findet.
Ihren abgründigen Humor haben Sie selbst schon erwähnt, und es wäre durchaus vorstellbar, die Geschichte von «Wenn der Herbst naht» weniger als dramatischen Thriller und sehr viel komödiantischer zu erzählen. Wie haben Sie den geeigneten Tonfall für den Film gefunden? Zunächst einmal haben für mich die beiden Protagonistinnen Tonfall und Tempo des Films vorgegeben. Ich wollte nicht ins Surreale oder Absurde abheben, sondern so realistisch wie möglich bleiben. Die beiden sind Rentnerinnen, die ein sehr einfaches Leben führen, daran hat sich der Erzählrhythmus orientiert. Die Frage nach dem Ton ist eine, die mich meine Produzenten auch immer fragen, dabei mache ich mir darüber gar nicht so viele Gedanken. Wie witzig ein Film wird oder eben nicht merke ich selbst meistens erst beim Drehen, wenn ich mit den Schauspielerinnen und Schauspielern arbeite. Ein Großteil des Humors in «Wenn der Herbst naht» verdankt sich zum Beispiel dem Schauspieler Pierre Lottin, durch den viele Dialoge plötzlich sehr viel amüsanter wurden als gedacht. Denn als Komödie war die Geschichte nie angelegt, schließlich hatte ich mit „Mein fabelhaftes Verbrechen“ gerade erst eine gedreht.
Ist das für Sie entscheidend? Dass Sie mit jedem Film etwas anderes machen als mit dem davor? Über solche Fragen machen Sie sich vermutlich viel mehr Gedanken als ich. Denn ich folge eigentlich nur meinem Instinkt. Aber sehr häufig ist mein Impuls tatsächlich der, nicht zweimal nacheinander ähnliches zu machen. So wie es auch das Motto von François Truffaut war, jeden neuen Film in Opposition zum vorangegangenen zu machen. Nach einer aufwändigen Produktion habe ich also oft Lust auf ein eher bescheidenes Budget, nach einer überdreht-theatralischen Geschichte auf eine realistische. Ich will mich einfach nicht langweilen.
Sowohl mit Hélène Vincent als auch mit Josiane Balasko hatten Sie bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Haben Sie die Rollen in «Wenn der Herbst naht» für sie geschrieben? Nein, ich schreibe nie für bestimmte Schauspielerinnen. Erst wenn ein Drehbuch fertig ist, denke ich darüber nach, wer in welche Rolle passt. In diesem Fall ging es mir darum, zwei alte Frauen voller Leben und Lust zu zeigen, die keine Angst vor ihrem Alter haben und sich davon nicht einschränken lassen. Da kamen mir Hélène und Josiane schnell in den Sinn, weil ich sie kannte und dank ihrer kleinen Rollen in «Gelobt sei Gott» wusste, was für starke Schauspielerinnen sie sind. Ausserdem reizte mich, dass beide beruflich gesehen aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen. Hélène Vincent ist eine klassische Theaterschauspielerin, die mit Patrice Chéreau und Jean-Pierre Vincent gearbeitet hat. Josiane Balasko dagegen ist vor allem bekannt für sehr populäre Kino-Komödien wie «Die Strandflitzer». Ich war neugierig darauf, wie diese zwei Frauen zusammen vor der Kamera funktionieren.
Ausserdem spielt auch Ludivine Sagnier mit, mit der Sie bereits vor 25 Jahren zusammengearbeitet haben … Damals haben wir in recht kurzer drei Filme zusammen gedreht, «Tropfen auf heisse Steine», «8 Frauen» und «Swimming Pool». Das war für uns beide der Beginn unserer Karrieren. Jetzt war es an der Zeit, dass wir uns endlich einmal wieder zusammentun. Als Regisseur hat es für mich etwas sehr Berührendes, Schauspielerinnen und Schauspieler durch verschiedene Stadien ihres Lebens zu begleiten. Ludivine konnte sich trotzdem einen Kommentar nicht verkneifen, als ich ihr nun das Drehbuch schickte. Dass ich sie ausgerechnet eine Frau spielen lasse, die man eigentlich hasst, fand sie nicht so charmant.
Apropos uncharmant: Wollen wir noch kurz über das Alter sprechen? Sie werden in diesem Jahr 58 Jahre alt, also noch eine Weile entfernt vom Alter Ihrer Protagonistinnen. Aber denken Sie manchmal schon an den Herbst des Lebens? Finden Sie ich müsste? So weit bin ich noch nicht, sorry. Aber ich will doch hoffen, dass ich dann auch noch Lust am Leben und an der Arbeit habe. Ich halte mich auf jeden Fall an dem Gedanken fest, dass nicht alles im Leben vorbei ist, nur weil man ein bestimmtes Alter erreicht. Dafür sind ja auch die Pilze im Film ein ganzes gutes Symbol: Auch im Herbst wächst noch etwas. Wenn auch mit der Schwierigkeit, dass sie entweder köstlich oder gefährlich sein können.
Vor vielen Jahren haben Sie mit „Angel“ einmal einen englischsprachigen Film gedreht. Aber nach Hollywood zu gehen, hat Sie nie gereizt?
Nicht wirklich. Es gab durchaus Angebote, aber ich habe immer abgelehnt. Vor allem, weil in Hollywood der Produzent das letzte Wort hat und über die finale Schnittfassung entscheiden darf. Da ist man als Regisseur bloß ein Angestellter und nicht wie in Frankreich der Herr über den Film. Ich genieße die künstlerische Freiheit, die ich zuhause habe. Und die Arbeit an echten Blockbustern hat mich ohnehin nie interessiert.
Aber vielleicht die Arbeit mit der einen oder anderen tollen Hollywood-Schauspielerin?
Die kommen inzwischen ja unter Umständen auch nach Frankreich, wie „The Substance“ gezeigt hat. Ausserdem sind alle Hollywood-Stars, mit denen ich gerne mal gedreht hätte, ohnehin schon lange tot.
Sie sprechen von künstlerischer Freiheit und kleinen Budgets, die Sie nicht schrecken. Aber auch Ihre Art von Kino ist vermutlich in der Finanzierung kein Selbstläufer, nicht einmal in Frankreich?
Ob man das Geld für einen Film zusammenkommt, steht und fällt in Frankreich meistens mit dem Drehbuch. Und glauben Sie mir, viele Produzenten sind eher schlicht gestrickt. Deswegen zeige ich meistens zunächst eine Skriptfassung, die den Plot und die Figuren allzu überdeutlich erklärt. Erst später, manchmal auch erst im Schnitt nehme ich dann vieles wieder raus, weil ich ein Fan des Subtilen und Ungesagten bin und meinem Publikum mehr zutraue als meinen Geldgebern. Insgesamt ist es heutzutage ein bisschen leichter für mich, meine Filme auf die Beine zu stellen, denn die Leute vertrauen mir inzwischen und eine Arbeit wie «Wenn der Herbst naht» kostet auch nicht allzu viel. Aber früher musste ich bei einigen Filmen sehr kämpfen.
Bei welchem am meisten? Ich glaube, «Unter dem Sand» war am schwersten zu finanzieren. Da ging es zwar nicht um ein hohes Budget. Aber niemand wollte einen Film mit Charlotte Rampling in der Hauptrolle produzieren. Viel zu alt, hiess es immer. Dabei war sie damals nur etwas über 50 Jahre alt!
Welche Ihrer vielen Filme haben in all den Jahren eigentlich beim Publikum den bleibendsten Eindruck hinterlassen? Wenn ich danach gehe, worauf ich am häufigsten angesprochen werde, dann steht auf jeden Fall «8 Frauen» recht weit oben. Gerade junge Frauen scheinen den häufig gesehen zu haben. Auch heute noch. Und auch bei «Gelobt sei Gott» war und ist die Resonanz sehr gross. Der Film war in Frankreich ein echter Erfolg, und das Thema Missbrauch in der Kirche ist eines, das weiterhin grosse Wellen schlägt. Nicht zuletzt, weil davon so erschreckend viele Menschen betroffen sind.
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