«Mentalitätswechsel geht nur mit queerer Sichtbarkeit»
In Berlin wurde über die LGBTIQ-Politik der grossen Parteien diskutiert – und gleichzeitig Koalitionsmöglichkeiten ausgelotet
Am Sonntagabend fand im BKA-Theater Berlin der vierte MANNSCHAFT-Talk statt, mit Vertreter*innen der grossen Partien (ausser AfD). Sie diskutierten über die bevorstehende Bundestagswahl und die Wahl eines neues Berliner Abgeordnetenhauses. Es moderierte Kriss Rudolph, einige aggressive Einwürfe kamen aus dem Publikum.
Wer eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung «Die queere Qual der Wahl» zum BKA am Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg kam, staunte nicht schlecht, dass sich am Eingang eine auffallend lange Schlange einmal um den Block gebildet hatte. Mit Männern, die offensichtlich nicht für den berühmten Gemüsedöner vor Ort anstanden. Wollten sie alle zum Politik-Talk? Auch Talk-Gast Helmut Metzner (FDP) war «verwirrt» über solchen Andrang, wie er einem Bekannten sagte, nachdem er sich an der Schlange vorbeigedrängelt hatte und oben im BKA ankam.
Wie sich herausstellte, feiert die Boiler-Sauna im Hinterhof des gleichen Gebäudes ihre Wiedereröffnung nach 10 Monaten Corona-bedingter Schliessung und zugleich 10-jähriges Jubiläum ihres Bestehens. Da in Berlin aufgrund einer Senatsverordnung seit dem Wochenende Saunen wieder öffnen dürfen, war der Andrang enorm.
Beim Talk «Die queere Qual der Wahl» war der Andrang im unmittelbaren Vergleich nicht ganz so enorm, aber doch so, dass der Saal voll war mit Neugierigen, die hören wollten, was Tessa Ganserer von den Grünen in Bayern, Verena David von der CDU in Frankfurt, Helmut Metzner von der FDP, Kevin Kühnert als stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, Berlins Kultursenator Klaus Lederer von der Linken sowie Ed Greve von der «HipHop-Partei» Die Urbane zu sagen haben. Über LGBTIQ-Themen im Bundes- und Landeswahlkampf, über Politikwechsel, ideale Koalitionspartner, Hate Speech gegen Minderheiten in sozialen Medien und die Frage, warum eigentlich die AfD nicht eingeladen war, die CDU aber doch – obwohl in ihrem Wahlprogramm die Begriffe «queer» oder «LGBTIQ» nicht vorkommen. Das Event wurde live bei Facebook übertragen und ist dort weiterhin abrufbar.
«Nicht ins Polemische verfallen» Natürlich sind alle Talk-Gäste aktuell im Wahlkampfmodus und derzeit in vielen Interviews zu erleben. Aber explizit und ausschliesslich über LGBTIQ-Politik sprechen hört man sie selten, ausser eben bei MANNSCHAFT.
Kevin Kühnert sagt diplomatisch, «nur weil Wahlkampf» sei, wolle er «jetzt nicht ins Polemische» verfallen. Er merkt aber unmittelbar danach an, dass es ihn irritiere, dass die CDU in Berlin nur im Regenbogenkiez rund um den Nollendorfplatz mit Regenbogenfarben auf den Wahlplakaten für ihre Kandidat*innen werbe, anderswo in der Stadt aber nicht. Er nennt das «unredlich».
Auch Tessa Ganserer aus Bayern klagt über vergleichbare Aktionen der CSU. Etwa die, dass sich Markus Söder öffentlich hinstelle mit Regenbogenfahne und fordere, beim Fussballspiel gegen Ungarn solle die Allianz Arena in Regenbogenfarben beleuchtet werden, um ein «Zeichen» für Toleranz und gegen Homo- und Transfeindlichkeit zu setzen (MANNSCHAFT berichtete). Für Ganserer sei das das «höchste Mass an Scheintoleranz», denn Söder und die CSU hätte in der Vergangenheit für Viktor Orbán immer wieder den roten Teppich ausgerollt und ihn mehrfach nach Bayern als konservativen Stargast eingeladen. Mit der Regenbogenaktion habe Söder nur vom eigenen «politischen Versagen» ablenken wollen.
Die CSU hat für Orbán immer wieder den roten Teppich ausgerollt
FPD-Mann Metzner ergänzt, das Beste was Armin Laschet in diesem Wahlkampf bisher erreicht habe, sei es gewesen, Söder zu verhindern – und alles, wofür er steht bzw. nicht steht in Bezug auf LGBTIQ.
Was ein Stichwort für Ed Greve ist, um auf die «demokratisch legitimierte Queerfeindlichkeit» einzugehen: Laut Greve sei es «zynisch bis verlogen» zu behaupten, wir würden in Deutschland eine gesamtgesellschaftliche Debatte über mehr Akzeptanz von LGBTIQ führen, wenn in Schulbüchern und Rahmenlehrplänen teils das absolute Gegenteil festgeschrieben sei.
Klaus Lederer stimmt ihm zu und erwähnt, dass im Land Berlin nach einem eigenen Aktionsplan Schulbücher bewusst nach Queerfeindlichkeit gescannt würden. Denn man müsse Homo- und Transphobie sowie die generelle Ablehnung von «Minderheiten» früh bekämpfen. Wenn es zu schlagzeilenmachenden Vorfällen gekommen sei, über die sich die Innenministerkonferenz austausche, sei es zu spät.
Von der Schule bis zur Altenpflege Alle waren sich einig, dass ein Mentalitätswechsel vonnöten sei. Und dass man dafür einen «langen Atem» brauche: «Das geht in der Schule los und geht bis zur Altenpflege», sagt Tessa Ganserer. Erreichen könne man einen entsprechenden Mentalitätswechsel nur über «queere Sichtbarkeit», über Vorbilder, die eine empowernde Funktion haben.
Wir sollten in einer Gesellschaft ankommen, wo diese Angst irgendwann wegfällt
Die 44-Jährige sagt, dass die Angst vorm Coming-out als trans Frau für sie das «allerschlimmste» war, was ihr im Leben passiert sei. Das sei eine Erfahrung, die alle LGBTIQ eine. Wichtig war für sie zu merken, dass sie nicht alleine ist, dass es andere wie sie gibt, dass sie Teil einer Community ist, die sich gegenseitig stützt. «Wir sollten in einer Gesellschaft ankommen, wo diese Angst irgendwann wegfällt.»
Dafür ist Erziehung nötig. Und dafür müssen die entsprechenden Institutionen eingreifen, um in der Mitte der Gesellschaft etwas zu bewirken. Dafür müsse man auch «strukturelle Machtverhältnisse» benennen, so Klaus Lederer. Sonst würde sich nichts ändern. «Wir haben hier in Deutschland teils behördliche Praktiken [im Umgang mit LGBTIQ, Anm.], die erschütternd sind», so der Linken-Politiker. Behörden, die ein Gewaltmonopol hätten, sollten überprüft werden, um «Machtgefälle» abzubauen.
Ed Greve mahnt als trans Mann die fehlende Debatte über institutionelle Gewalt an, etwa im Zusammenhang mit dem Transsexuellengesetz (TSG). Aber um in Institutionen und generell in der Politik etwas zu bewegen, «muss man Mehrheiten sammeln», sagt Verena David von der CDU. «Und das ist sehr, sehr schwierig.»
Zeit für einen echte Regierungswechsel Für ihre eigene Partei sehe die 45-Jährige eine Chance auf Veränderung durch die neuen und jüngeren Kollegen – und durch Ursula von der Leyen in Brüssel. Aber ein entsprechender «Transformationsprozess» bei den Christdemokraten könne, laut Klaus Lederer, noch 20 bis 30 Jahre dauern. Wolle man wirklich so lange warten oder lieber gleich etwas ändern. Für Tessa Ganserer ist die Sache klar: «Es ist höchste Zeit, dass wir die CDU/CSU in die Opposition schieben, es ist Zeit für einen echten Regierungswechsel.»
Bevor die Talkrunde über Koalitionsmöglichkeiten spricht, die einen Regierungswechsel ermöglichen könnten, wird über einige zentrale Probleme debattiert, mit denen LGBTIQ konfrontiert sind: Hass und Hetze. Laut Ganserer – die gerade einen Prozess gewonnen hat gegen jemanden, der sie transphob beleidigt hatte – habe das Phänomen Hate Speech «System»: es treffe vor allem Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und Queers. Das Ziel sei: «Einschüchterung und Mundtotmachen», so Ganserer. «Es ist uferlos, was da passiert. Und dagegen müssen wir uns als Gesellschaft wehren», so die Grünen-Politikerin.
Es ist uferlos, was da passiert. Und dagegen müssen wir uns als Gesellschaft wehren
Auch Verena David – nach eigener Aussage eine der «wenigen lesbischen geouteten Frauen in der CDU» – setzt sich dafür ein, dass Beleidigungen sofort angezeigt werden, Beleidigungen, die sie in Frankfurt auch immer wieder erleben muss. Allerdings müsse man es Menschen leichter machen, Hasskriminalität anzuzeigen. Und Vertrauen in die Polizei als LGBTIQ-Partner*in stärken. Denn, wie Greve mahnt: «Zur Polizei zu gehen muss man sich erstmal trauen.» Speziell wenn Menschen keine vertrauensweckenden Erfahrungen mit Behörden und Polizei gemacht hätten, unternehmen sie diesen Schritt nicht.
«Ekelhafte Meinungen» Lederer erinnert daran, dass in unserer Gesellschaft «eine ekelhafte Meinung nicht per se strafrechtlich relevant» sei. Es gäbe «einen gesellschaftlichen Raum – einen gesellschaftlichen Humus – um sich auf Kosten anderer zu profilieren». Statt nur über vermeintliches Gender-Gaga zu streiten, sollten die Debatten «viel breiter» geführt werden, so Lederer. Und diese Auseinandersetzung müsse in der Mitte der Gesellschaft geführt werden.
Dazu gehöre laut FDP-Mann Metzner auch, dass die entsprechenden Themen «bei jeder politischen Gelegenheit zur Sprache gebracht» werden müssen, «nicht nur in Sonntags-Talks, sondern an jedem Wochentag», so der 52-Jährige. Und zwar auch von der Bundeskanzlerin und dem Innenminister, nicht zu vergessen vom Aussenministerium, wenn es um Gespräche mit Polen, Ungarn, den Taliban etc. geht.
Das Motto von Aussenminister Heiko Maas (SPD) «Tue Gutes und rede nicht darüber» bei der Unterstützung von LGBTIQ weltweit, auf das SPD-Kollege Kühnert verweist, sei nicht zielführend, findet Ed Greve: «Man muss über Sachen reden.» Denn wie solle man sonst überprüfen können, ob wirklich Gutes getan werde? Und nur wenn man über Dinge rede, könne man auch diskutieren über all das, was «nicht passiert».
«Da hätte man auch Alice Weidel einladen können» Aus dem Publikum meldete sich Alfonso Pantisano vom LSVD-Bundesvorstand und kritisierte, dass die AfD nicht eingeladen worden sei, weil sie – laut Moderator Kriss Rudolph – für Anti-Queerpolitik stehe, gleichzeitig aber eine Vertreterin der CDU auf dem Podium sässe, wo doch ihre Partei die entsprechenden Themen nicht im Wahlprogramm habe. «Da hätte man auch Alice Weidel einladen können», so Pantisano.
Das führt zu heftigen Diskussionen, bei denen Verena David auf den «ziemlich schwierigen Kampf» eingeht, den sie seit 15 Jahren mit ihrer eigenen Partei führe, um Wandel in der CDU herbeizuführen. Sie «glaube» aber an diese Dinge und wolle den Kampf nicht aufgeben. Vielleicht wagen es ja irgendwann mehr lesbische Frauen in der CDU sich zu outen und diesen Kampf lauter und sichtbarer mitzugestalten?
Was zur Abschlussfrage führt, wer eigentlich künftig mit wem koalieren möchte. Kevin Kühnert von der SPD sagt bezüglich der Bundestagswahl: «Wenn’s reicht Rot-Grün!» Nicht nur wegen der Queerpolitik, sondern weil es «quer durchs Gemüsebeet» passen würde. Als Berliner, der auf Landesebene gesehen habe, wie ein rot-rot-grüner Senat funktioniere, könne sich der 32-Jährige nach dem 26. September aber auch ein «Bündnis der drei Parteien links der Mitte» vorstellen. Ein Bündnis, dass am vergangenen Wochenende auch Kanzlerkandidat Olaf Scholz nicht mehr ausschliesst.
Nicht nur wegen der Queerpolitik, sondern weil es «quer durchs Gemüsebeet» passen würde
Pappkameraden Ein Knackpunkt dabei war ja auf Bundesebene die Haltung der Linken zur NATO. Klaus Lederer, der sich seinerseits Hoffnungen macht, in Berlin Regierender Bürgermeister zu werden, weil in der Hauptstadt eine Linken-Mehrheit durchaus denkbar scheint (MANNSCHAFT berichtete), sagt, er verstehe nicht, wieso «auf diesem Pappkameraden» NATO so herumgeritten werde. Auch er plädiere für Rot-Rot-Grün im Bund.
Lederers Konkurrentin ums Amt des Regierenden Bürgermeisters ist bekanntlich Franziska Giffey, bei der viele warnen, dass eine Stimme für sie bedeute, dass man die CDU als Koalitionspartner*in wähle. Lederers Antwort, wie dieses Szenario verhindert werden könne: «Kevin regelt das!»
Der vollständige zweistündige MANNSCHAFT-Talk ist online abrufbar.
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