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Rechtsstaatlichkeit: Kuschelt EU mit Polen und Ungarn?

Kritiker*innen warnen davor, dass die Akzeptanz der Europäischen Union weiter sinkt

LGBTIQ
Foto: Pixabay

EU-Länder, die gegen die Rechtsstaatlichkeit verstossen, sollten künftig Mittel gekürzt werden. Eine entsprechende Initiative der Kommission soll nun aber abgeschwächt werden. Das sind gute Nachrichten für Polen und Ungarn.

Im Streit um die geplante Bestrafung von Verstössen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU hat die deutsche Ratspräsidentschaft mit einem Kompromissvorschlag im Europaparlament für Empörung gesorgt. Europäische Abgeordnete bezeichneten den Vorschlag als Zeichen von «Feigheit und Prinzipienlosigkeit» und als «Unverschämtheit».

Dass die Bundesregierung auf Kuschelkurs zu Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und zum Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński geht, kritisierte etwa der Abgeordnete Moritz Körner (FDP). Man sehe nicht mehr viel von Rechtsstaatsmechanismus, so Körner.

Dabei sind die europäischen Grundwerte in Ungarn in Gefahr, warnte Tessa Ganserer (Grüne) in ihrem MANNSCHAFT-Gastbeitrag. Die Rechte von trans Menschen etwa sollen weiter eingeschränkt werden.


Doch nun gehe Deutschland noch weiter auf Ungarn zu und lasse sich sogar erpressen, kommentierte der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. Die Abgeordneten würden vor die Wahl gestellt, entweder zuzustimmen und dafür zu sorgen, dass es durch das Corona-Aufbauprogramm europäische Solidarität gebe – oder aber für den Rechtsstaat einzutreten. «Aber man kann das eine nicht für das andere opfern»., sagte Freund. Der Vorschlag sei «im Grunde eine Unverschämtheit.».

Kritik kam auch von der Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley. «Ich erfahre bei all meinen Reisen durch Deutschland und auch andere Länder, dass die Bürgerinnen und Bürger sagen, wir sehen das nicht ein, dass unser Geld in Länder fliesst, wo alle wissen, da stopfen sich die Regierenden selber das Geld in die Taschen, wie zum Beispiel Victor Orban und seine Kumpels. Da werden freie Medien beschnitten, da wird die Justiz gegeisselt – das können wir doch nicht mit unseren Geldern finanzieren. Und ich finde, diese Menschen haben Recht.»

Aus Kreisen der deutschen Ratspräsidentschaft wurde die Kritik zurückgewiesen. Man setze nur um, was die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel im Juli entschieden hätten. Gegen Polen und Ungarn hatte die Kommission Rechtsstaatsverfahren eingeleitet.


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Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft im Juli in ihrer Antrittsrede im Europaparlament angekündigt: «Ich will deutlich machen, und ich hab ja nicht umsonst ausführlich über die Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte gesprochen, dass diese in Europa und auch für die deutsche Ratspräsidentschaft absolute Priorität geniessen.»

Nun sieht aber der Kompromissvorschlag unter anderem vor, den Geltungsbereich für den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus im Vergleich zum Ursprungskonzept, das vielen schon nicht weit gegangen war, deutlich einzuschränken. Kürzungen von EU-Finanzhilfen wären nur nach der Feststellung möglich, dass Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit direkte Auswirkungen auf den Umgang mit Geld der EU haben.

Dabei hatte erst kürzlich Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europäischen Parlament, gefordert, das «Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen müsse ausgeweitet und verschärft» werden. Die Kommission und Rat dürften der offenen Verfolgung von LGBTIQ-Personen nicht länger tatenlos zuschauen (MANNSCHAFT berichtete).

Immerhin: Im Juli hatte die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, kündigte am Dienstagnachmittag an, dass sechs polnische Gemeinden, die Resolutionen zu «LGBT-freien Zonen» verabschiedet haben, keine europäischen Mittel für Städtepartnerschaften erhalten. Für Homophobie und Verstösse gegen EU-Werte soll es kein Geld geben (MANNSCHAFT berichtete).

Die EU-Kommission hatte eigentlich vorgeschlagen, Strafen schon dann zu ermöglichen, wenn ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Grundvoraussetzungen für eine wirtschaftliche Haushaltsführung oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen droht. Dem Kompromisspapier zufolge sollen zudem die Abstimmungshürden für den Beschluss von Strafmassnahmen erhöht werden.

So ist vorgesehen, dass über jede Sanktion vor dem Inkrafttreten abgestimmt werden muss und eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist. Qualifizierte Mehrheit bedeutet in der Regel, dass mindestens 15 EU-Staaten zustimmen müssen, die zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union ausmachen.

Fühlt sich ein Land ungerecht behandelt, kann es seine Sicht der Dinge bei einem EU-Gipfel vorbringen. Mit einer einstimmigen Entscheidung könnten die Gruppe der Staats- und Regierungschefs das Sanktionsverfahren dann stoppen.

Ohne Einigung auf den Rechtsstaatsmechanismus droht eine Blockade des langfristigen EU-Haushalts und des europäischen Corona-Konjunkturprogramms. Länder wie Polen und Ungarn haben nach Angaben aus EU-Kreisen durchblicken lassen, dass sie Beschlüssen nur zustimmen wollen, wenn der Mechanismus so konstruiert wird, dass er für sie ungefährlich ist. Sie fürchten, dass die Regelung vor allem gegen sie angewandt wird.

Die Niederlande aber wollen nur dann grünes Licht für die Fördermilliarden geben, wenn es strengere Rechtsstaatsregeln gibt. Auch das Europaparlament droht, von seinem Vetorecht Gebrauch zu machen, wenn das neue Instrument zu sehr abgeschwächt wird.

Aus Kreisen der Ratspräsidentschaft wurde hingegen zu Kompromissbereitschaft aufgerufen. «Wichtig ist, dass sich alle Seiten daran erinnern, was beim Europäischen Rat beschlossen wurde und nicht erneut für das streiten, was bereits damals nicht durchsetzbar war», hiess es. EU-Diplomat*innen verwiesen darauf, dass Ungarn und Polen aber vermutlich trotz der Abschwächung Probleme mit dem Mechanismus haben dürften.

Appell an Ursula von der Leyen: Klare Worte zu Polen!

Andere Verfahren haben sich bisher als wirkungslos erwiesen haben. So laufen gegen Polen bereits sogenannte Artikel-7-Verfahren der EU, die theoretisch sogar mit einem Entzug von EU-Stimmrechten enden könnten. Sie sind aber wegen grosser Abstimmungshürden blockiert. Folge ist, dass Warschau und Budapest bislang kaum etwas unternommen haben, um aus Sicht anderer EU-Staaten gefährliche Entwicklungen im Bereich der Justiz und der Meinungsfreiheit zu stoppen. Zudem sind in Ungarn auch Minderheitenrechte und die Situation von Migranten ein Thema.

Mit einem offenen Brief haben unterdessen 50 Botschafter*innen und Vertreter*innen internationaler Organisationen in Polen zur Achtung von LGBTIQ-Menschenrechten gemahnt. Neben dem deutschen Botschafter Arndt Freytag von Loringhoven unterzeichneten den Brief unter anderem auch die Botschafter der USA, Indiens, Italiens und Japans.

In dem am Sonntagabend veröffentlichten Schreiben heisst es: «Wir bekräftigen die jedem Individuum innewohnende Würde, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt.» Die Achtung dieser Grundrechte verpflichte die Regierungen «alle Bürger vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie Chancengleichheit haben».

Um schutzbedürftige Gemeinschaften vor Misshandlung und Hassreden zu schützen, müsse an einem „Umfeld der Nichtdiskriminierung, Toleranz und gegenseitigen Akzeptanz“ gearbeitet werden, heisst es weiter.

Amnesty International hat zudem eine Petition für die Rechte der Menschen in Ungarn und Polen gestartet. Dort stehe die Rechtsstaatlichkeit seit Jahren unter Beschuss.


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