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EU-Kommission will Ungarn 7,5 Milliarden Euro streichen

Premiere bei der Brüsseler Behörde

Ungarn
Viktor Orbán (Foto: Petr David Josek/AP/dpa

Das EU-Parlament hält Viktor Orbáns Ungarn nicht mal mehr für eine vollwertige Demokratie. Und auch die EU-Kommission sieht grosse Mängel im ungarischen Rechtsstaat. Deshalb macht die Behörde nun einen brisanten Vorschlag. Polen will das verhindern.

Von Michel Winde, dpa

Wegen Korruption und anderer Verstösse gegen den Rechtsstaat in Ungarn hat die Europäische Kommission vorgeschlagen, dem Land Zahlungen in Höhe von rund 7,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zu kürzen. Das Geld sei in Ungarn nicht ausreichend vor Missbrauch geschützt, sagte EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn am Sonntag. Es ist das erste Mal, dass die Brüsseler Behörde wegen Mängeln im Rechtsstaat eines EU-Staats einen solchen Schritt macht.

Zugleich würdigte Hahn am Sonntag jedoch, dass Ungarn zuletzt 17 Zusagen gemacht habe, um die Defizite zu beseitigen. Diese gingen in die richtige Richtung, müssten aber auch umgesetzt werden. Nun liegt es an den EU-Staaten, ob sie dem Vorschlag der EU-Kommission folgen. Um die 7,5 Milliarden Euro tatsächlich einzufrieren, müssen mindestens 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen.


Als «haltlos und empörend» bezeichnete die EU-Sprecherin der gewohnt Ungarn-freundlichen FPÖ den Vorstoss der EU-Kommission. «Diese Vorgehensweise gegenüber Ungarn ist hanebüchen und ein Affront gegen ein zahlendes Mitgliedsland der Europäischen Union, die man selbst eigentlich nur mehr als ‚Saustall‘ bezeichnen kann», so Petra Steger.


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Die EU-Kommission wirft Ungarn unter Regierungschef Viktor Orban seit Jahren vor, EU-Standards und -Grundwerte zu untergraben. Die Behörde startete etliche Vertragsverletzungsverfahren und verklagte Ungarn mehrfach vor dem Europäischen Gerichtshof – ohne jedoch ein Umdenken in Budapest zu erreichen.


Der Bericht über den Zustand des Rechtsstaat in den EU-Staaten vom Juli liest sich entsprechend verheerend: Es gebe Unzulänglichkeiten «in Bezug auf Lobbying, Drehtüreffekte sowie Parteien- und Wahlkampffinanzierung»; unabhängige Mechanismen, um Korruption aufzudecken, reichten nicht aus; die Rede ist von einem Umfeld, «in dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden».

Und das ist längst nicht alles. Der Europäische Gerichtshof beschäftigt sich mit dem ungarischen Gesetz gegen «LGBTIQ-Propaganda» (MANNSCHAFT berichtete). Und die Lage wird aus Brüsseler Sicht immer schlechter. Das Europaparlament leitete bereits 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn ein, weil es Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in dem Land bedroht sah. Am Donnerstag sprachen die Abgeordneten Ungarn dann in einem symbolischen Schritt ab, eine vollwertige Demokratie zu sein (MANNSCHAFT berichtete).

Der EU-Rechtsstaatsmechanismus soll diese Entwicklung stoppen. Das Instrument soll dafür sorgen, dass Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien nicht mehr ungestraft bleiben. Dabei ist entscheidend, dass dadurch ein Missbrauch von EU-Geldern droht.

Im April leitete die EU-Kommission ein solches Verfahren gegen Ungarn ein, zum ersten Mal überhaupt. Konkret sollen nun nach dem Vorschlag vom Sonntag 65 Prozent aus drei Programmen zur Förderung benachteiligter Regionen einbehalten werden: rund 7,5 Milliarden Euro.

Finanzieller Druck zeigt offensichtlich seine Wirkung.

Die ungarische Regierung liess sich lange nicht von ihrem Kurs abbringen. Bis Juni ging sie auf die Bedenken der EU-Kommission gar nicht ein. Dann jedoch schickte die Behörde ein Schreiben nach Ungarn, in dem sie darlegte, wie viel Geld das Land verlieren könnte. Was folgte, war eine ungekannte Gesprächsbereitschaft der Regierung. «Finanzieller Druck zeigt offensichtlich seine Wirkung», sagte Hahn.

Polen will diese Kürzungen jedoch verhindern. Dort beklagt man den Plan, einem Mitgliedsstaat «auf absolut unzulässige Weise» Mittel vorzuenthalten. Die Regierung in Warschau wolle sich «mit aller Kraft» dagegen wehren.

Konkret hat Budapest in den vergangenen Wochen unter anderem angekündigt, eine neue Behörde für den Kampf gegen Korruption einzurichten. Auch der Umgang mit EU-Mitteln soll transparenter gemacht und strenger überwacht werden. Der Anteil öffentlicher Ausschreibungen mit nur einem Bieter soll reduziert und die Zusammenarbeit mit der EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf gestärkt werden.

Diese Massnahmen seien ein Paradigmenwechsel, sagte Hahn. Zugleich verwies er darauf, dass es sich bislang nur um Versprechen handele und wichtige Details noch festgelegt werden müssten. Ungarn will die EU-Kommission bis zum 19. November über die Umsetzung der Massnahmen informieren. Die ersten Gesetz will Budapest bereits in dieser Woche ins Parlament einbringen.

Es ist fatal, dass Viktor Orbán mit ein paar Scheinreformen diese Sanktionen vor Jahresende noch abwenden kann.

Ungarische Anti-Korruptions-Aktivist*innen warnen jedoch davor, dass die Orbán-Regierung Brüssel hinters Licht führen könnte. Und auch aus dem Europaparlament kommen mahnende Stimmen. «Es ist fatal, dass Viktor Orbán mit ein paar Scheinreformen diese Sanktionen vor Jahresende noch abwenden kann», sagte etwa der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund. Moritz Körner (FDP) sprach davon, dass die Länder sich nicht «mit schnell beschlossenen Papiertigern» abspeisen lassen dürften. «Orbán hat das Recht auf einen Vertrauensvorschuss verloren.»

Wenn Ungarn jedoch alle Zusagen umsetzt, dürfte die EU-Kommission empfehlen, die Mittel doch nicht zu kürzen. Hahn sagte am Sonntag bereits, dass die Umsetzung der ungarischen Zusagen eine Weile brauche. Deshalb werde man den Rat darum bitten, die Frist für eine Entscheidung von einem Monat auf die maximal vorgesehenen drei Monate auszuweiten.

Sollte Ungarn die Reformen tatsächlich umsetzen, könnten sie zudem ein anderes Problem für Orban lösen. Denn derzeit blockiert die EU-Kommission auch noch mehrere Milliarden an Corona-Hilfen. Es ist das einzige Land, das sich bislang nicht auf einen Plan für die Verwendung des Geldes mit der EU-Kommission einigen konnte. Auch hier könnte es dann Bewegung geben.


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