Queerer bulgarischer Pop: Ivo Dimchev in Berlin

Der Superstar aus Sofia lud in die Kantine am Berghain – und träumte von Sex mit Putin

Ivo Dimchev (in der Mitte mit blonder Perücke) und Band in der Kantine am Berghain
Ivo Dimchev (in der Mitte mit blonder Perücke) und Band in der Kantine am Berghain (Bild: Privat)

Popmusik aus Bulgarien ist im deutschsprachigen Raum nicht gerade Chartstürmerin. Und queere Popmusik? Die macht mit dem Performance-Künstler Ivo Dimchev international Schlagzeilen. Am Wochenende trat er in Berlin auf.

Sonntagabend, Berlin-Friedrichshain, Schlangestehen vor der Kantine am Berghain, wo sich der «Extrem-Performer» und bulgarische Superstar Ivo Dimchev mit Band angesagt hat. Mit einem neuen Live-Projekt, wie’s in der Ankündigung heisst. Ein Konzert, das neben den bekannten Folk Songs über «Essen, Alkohol und Sex», die Dimchev während der Coronapandemie geschrieben und mit denen er sehr viel Aufmerksamkeit erregt hatte, auch neues Material – inklusive «herzergreifende Balladen auf Englisch».

Der 1976 im bulgarischen Sofia geborene Multi-Künstler – der sich als Choreograf, Visual Artist und Singer-Songwriter beschreibt – hat einen markanten Look. Kahlgeschorener und tätowierter Kopf, kecker Dandy-Oberlippenbart und glamouröse Trash-Outfits. In Berlin trägt er eine blonde Radikalhaarschnittperücke auf dem Kopf, die ihm natürlich irgendwann im Eifer des Gefechts runterrutscht. Was aber nichts macht, denn seine Fans jubeln als genau das passiert und Dimchev die blonden Haare wie ein Pavarotti sein weißes Taschentuch durch die Gegend wirbelt beim Singen.

Versaute Lieder

Seine Fans jubeln auch, als er gleich zu Beginn auf Englisch fragt, ob sie zum Einstieg lieber ein «versautes» Lied hören wollen oder «was mit Liebe». Per Handzeichenabtimmung wird sofort klar, dass die Anwesenden Berghain-Besucher*innen auf «versaut» stehen. Was sich Dimchev und seine vierköpfige Band nicht zweimal sagen lassen müssen.

Es geht los mit dem bekannten Song «Overrated», bei dem Dimchev als Einleitung fragt, ob sein Publikum das Gefühl auch kenne, schon mal «überbewertet» worden zu sein. Er selbst habe das erstmals intensiv empfunden, als er an seinem Geburtstag in New York aufwachte, die New York Times aufschlug und dort ein zweiseitiges Feature über ihn zu finden war. Zur Erinnerung: Seit 2023 ist Dimchev Artist in Residence im legendären La Mama Theater in New York, wo seine jüngsten Bühnenwerke «Hell/Top 40» und «M.E.T.C.H.» in Premiere gingen. (In dem einen geht’s um eine Casting-Show, bei der einige Teilnehmende mit Jesus in die Hölle gehen, während sich andere lieber für Sex mit dem Dalai Lama entscheiden, während das andere eine Soloperformance ist, deren Titel für «Music, Exhibition, Text, Choreography» steht).

Mozart mal anders

Im Lied «Overrated» fragt Dimchev auch gleich, ob Sex und möglicherweise Liebe überbewertet sein könnten. Und liefert die musikalische Antwort in den nächsten Liedern, in denen er sich Mozart aneignet mit einer von dessen Melodien, auf die er immerfort das Wort «Dick» und später «Pussy» singt. Nachdem er vom Publikum erfragt hat, was die deutsche Übersetzung sei, startet er nochmal und sind «Schwanz, Schwanz, Schwanz...» sowie «Muschi, Muschi, Muschi». Mozart klang für mich selten so zeitgenössisch.

Oder Dimchev erklärt, dass für ihn Musik immer auch empowernd sein sollte, weswegen er eine grosse gospelartige Nummer anstimmt, in der besungen wird, dass Frauen ihre Klitoris hoch in den Himmel aufsteigen lassen sollten («Luft vour clits up, up, up»), um endlich frei zu sein von patriarchalen Beschränkungen («Halleluja!»). Das Publikum singt lautstark mit, darunter viele Frauen aus Bulgarien, die neben mir stehen und mit denen ich ins Gespräch komme. Sie scheinen jeden älteren Song Dimchevs zu kennen. Sie erklären mir auch, dass viele der Lieder sich auf bekannte bulgarische Volkslieder beziehen oder auf Musik, die aus alten bulgarischen TV-Programm bekannt ist. Dimchev erzählt auf der Bühne, dass er die Botschaft einiger dieser TV-Lieder aus seiner Kindheit als zu einschränkend empfunden habe, weswegen er ihnen ein «Upgrade» verpassen musste. Was einer radikalen musikalischen LGBTIQ-Befreiung gleichkommt (MANNSCHAFT berichtete über mangelnde LGBTIQ-Rechte in Bulgarien).

Hypnotisierendes Tremolo

Meist singt Dimchev mit sonorem Bariton, den er aber oft, am Ende der Stücke, in schwindelerregende Sopranhöhen treibt, bei denen seine Stimme ein heftig vibrierendes Tremolo annimmt, das fast wie aus einem Science-Fiction-Film klingt – ausserirdisch, sirenhaft, verführerisch, geschlechtsunspezifisch und very queer. Dimechv sendet diese E.T.-Klänge immer wieder in den Saal, als würde er damit das Publikum hypnotisieren wollen. Aber auf seine Fans im Saal wirkt dieser Gesang wie ein Aphrodisiakum.

Die Lieder wechseln zwischen den Sprachen. Manches ist auf Bulgarisch, aber gerade mit seinen Pandemie-Lieder (wie z.B. «Vodka») hat Dimchev auch in Russland und der Türkei viele Menschen erreicht, und so singt er sie entsprechend auch in Berlin. Und fragt zwischendurch, ob er einen Witz erzählen solle. (Natürlich soll er, findet das Publikum.) Also stellt er die Frage in den Raum, mit wem seine Fans lieber Sex hätten: mit Joe Biden, Wladimir Putin oder dem Dalai Lama (der es ihm offensichtlich angetan hat).

Während die Mehrzahl der Anwesenden für den Dalai Lama stimmt, erklärt Dimchev, er habe ja ein Faible für «old skinny men» wie Biden. Trotzdem würde er Putin wählen. Warum? Weil es für diesen der letzte Sex seines Lebens wäre, Dimchev würde danach die Herrschaft übernehmen und durchsetzen, dass künftig alle Homosexuellen in Russland bei Gazprom 50 Prozent Rabatt bekämen, Bisexuelle 25 Prozent und eingeschworene Heteros nur noch fünf Prozent. (Um sich an die neue Situation anzupassen, könnten sie dann ja bi werden, wegen der Einsparmöglichkeiten.)

Parodie und Pathos

Von seinem eigenen tatsächlichen Sexleben gibt der 49-Jährige an dem Abend wenig preis, allerdings stellt er eine neue Ballade (auf Englisch) vor, in der er davon singt, dass mit ihm im Alter niemand mehr Sex haben wolle und er nunmehr dafür bezahlen müssen, um jede Nacht an knackige junge Männer ranzukommen. Ob ihn das stören würde, fragt er in «Pay for Love» und antwortet: Nein, so sei halt das Leben.

Wie viele andere Songs changiert dieser zwischen Parodie und Pathos, er nötigt das Publikum, sich die gleichen Fragen selbst zu stellen. Und eigene Antworten zu finden.

Unterstützt wird Dimchev auf der kleinen Bühne der Kantine am Berghain von einer äusserst attraktiven Jungmännerband, die auch als Background-Singer dabei ist. Besonders auffallend attraktiv (und musikalisch aktiv) ist sein Trompeter/Keyboarder, der die Gesangsmelodien mit spannenden Kontrapunkten begleitet. Als sei er eifersüchtig auf diese visuell erfrischende Erscheinung zu seiner Rechten, verlangt Dimchev irgendwann, dass der Spot auf seinen vollbärtigen Kollegen bitte gedimmt werden soll und er, Dimchev selbst, gefälligst mehr Licht bekommt. Schliesslich sei er hier der Star! (Sein Trompeter nimmt’s gelassen.)

Wilder Ritt

Das Programm ist ein wilder Ritt durch alles von Folklore, Pop über Kabarett bis Oper. Immer randvoll mit Botschaften sexueller Befreiung, Sex lustvoll zelebrierend, ohne peinlich zu werden, Denn dafür ist Dimchevs Bühnenerscheinung (und sind seine Moderationen) viel zu selbstironisch-souverän.

Man kann ihn schon als Phänomen bezeichnen. Das in der deutschsprachigen LGBTIQ-Welt mehr Aufmerksamkeit verdienen würde, die er mit seinen Kunstprojekten in den USA (in der Zeit vor Trump) schon bekommen hat. Auf Präsident Trump geht Dimchev übrigens während der Berlin-Konzerts nicht ein (MANNSCHAFT berichtete über dessen neueste Anti-Queer-Gesetze), auch nicht auf politische Entwicklungen in Bulgarien. Die er nur, indirekt, in manchen Vorstrophen aufgreift.

Ivo Dimchev in full swing in der Kantine am Berghain in Berlin
Ivo Dimchev in full swing in der Kantine am Berghain in Berlin (Bild: Privat)

Zum Anfassen und Nachfragen

Nach einer frenetisch gefeierten Zugabe entlässt er seine Fans in die Berliner Nacht (wo nebenan beim Berghain-Haupteingang noch ein paar verloren wirkende Seelen in der Schlange stehen und jemand laut «No photos» schreit). Nach dem Konzert sitzen Dimchevs Musiker im Vorraum vorm Kamin und reden lange mit Fans. Ganz privat. Ganz nahbar. (Auch der Trompeter.) Das ist Queerpop aus Bulgarien zum Anfassen und zum Nachfragen.

In eine Auswahl seiner Songs kann man als Best-of auf seiner Homepage reinhören. Sie sind over the top, queer und fantastisch. Eine ständige musikalische Selbstbehauptung, die gerade in politisch turbulenten Zeiten wie diesen, gut tun kann mit ihrer «I will survive»-Attitüde. Auch ist es wichtig, das Thema Altern – in diesem Fall als offen schwuler Mann – zu thematisieren, was ja bekanntlich in der Popwelt auch nicht allzu oft geschieht. Insofern: Bravo, Ivo!

Weitere Auftritte in naher Zukunft

Dimechv tritt mit seiner Band demnächst im März in Belgrad, Hamburg und Sofia auf. Im Mai kann man ihn auch in der Schweiz erleben bei den Stanser Musiktagen, danach ist er als Teil des Johann-Strauss-Jahres in Wien bei der Wiener Festwochen mit «The Strauss Technique» dabei. Was sicher spannender ist, als das biedere Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker und mehr zu Strauss Sohn passt, dessen versaute Korrespondenz die Klassikwelt vorzugsweise ignoriert, weil angeblich «eines Meisters unwürdig». Man darf gespannt sein, was Dimechev daraus macht

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