Wenn das Smartphone dein Leben übernimmt

Zwischen Scroll-Zwang und Selbstkontrolle: Wie Samuel den Weg aus der Abhängigkeit fand

Mann mit Smartphone
(Bild: Unsplash, Jonas Leupe)

Samuel checkte sein Handy ständig – ohne echten Grund. Grindr, Games, Social Media: alles wurde zum Automatismus. Wie aus Gewohnheit problematisches Verhalten wurde und was ihm geholfen hat, das zu ändern.

Wenn Samuel Portmann sein Smartphone in die Hand nahm, tat er dies nicht, um etwas nachzulesen oder um eine Nachricht zu versenden. Auch nicht, um sich abzulenken. Sein Griff zum Handy war zu einem reinen Automatismus geworden. 

Der Moment der Erkenntnis kam, als der Projektleiter bei einer grossen Firma am Computer eine E-Mail verfasste. «Es war eine lapidare Nachricht und ich hatte wahrscheinlich schlicht keine Lust, sie zu schreiben», erinnert er sich. Stattdessen griff er zum Smartphone, das stets neben seiner Tastatur lag, und scrollte für ein paar Sekunden in seinem Instagram-Feed, bevor er es wieder weglegte.

«Mir wurde schlagartig bewusst, dass das eine instinktive Handlung war. Ich hatte gar keinen wirklichen Grund, aufs Smartphone zu schauen.»

Samuel Portmann

«Ich ertappte mich dabei und fragte mich, weshalb ich das gerade tat. Mir wurde schlagartig bewusst, dass das eine instinktive Handlung war. Ich hatte gar keinen wirklichen Grund, aufs Smartphone zu schauen.» Die Aktion bestätigte eine Vermutung, die Samuel schon lange hatte: «Ich bin süchtig nach meinem Handy.»

Um eines vorwegzunehmen: Anders als etwa die Computerspielabhängigkeit ist eine Smartphone-Sucht bislang nicht offiziell anerkannt. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang eher von einem «problematischen Nutzungsverhalten».

Samuel kenne ich aus meinem erweiterten Bekanntenkreis. Wir kommen auf das Thema zu sprechen, als ich ihm von meinem geplanten Artikel zur Smartphone-Nutzung erzähle. Der 36-Jährige ist bereit, mir von seiner persönlichen Reise rund um das Thema zu berichten – unter der Bedingung, dass sein echter Name geändert wird. Es sei ein wichtiges Thema, betont er, doch er fürchte Konsequenzen beim Arbeitgeber. Seine Smartphone-Nutzung hatte nämlich deutliche Auswirkungen auf seine Leistung am Arbeitsplatz. Ich willige ein, schliesslich habe ich mich in vielen seiner Erzählungen wiedererkannt und bin überzeugt, dass es auch anderen so gehen wird.

Gratis Games mit tückischen Tricks Wie bei vielen Millennials stand auch bei Samuel das Nokia 3210 am Anfang seiner Erfahrung mit Mobiltelefonen – ein «Erbstück» seines älteren Bruders, der sich ein neueres Modell zugelegt hatte. Für den damals 15-jährigen Samuel war das erste Handy ein Schritt in Richtung Freiheit: Kommunikation mit seinen Freund*innen via SMS zu jeder Uhrzeit. Schon damals war er vom Spiel «Snake» begeistert. Heute lacht er darüber: «Das war direkt harmlos im Vergleich zu später.»

«Ich fühlte mich wie ein kleines Kind im Spielzeugladen und verbrachte Stunden mit Scrollen und Chatten auf Grindr»

Samuel Portmann

In den folgenden Jahren wechselte Samuel mehrfach das Modell, bis er in den frühen 2010er-Jahren schliesslich sein erstes Smartphone kaufte. Den Download von Grindr bezeichnet er als «Revolution». Statt sich am Computer auf Datingportalen einzuloggen oder auf die nächste Gay-Party zu warten, genügte nun ein Griff zum Handy, um andere Männer kennenzulernen. «Ich fühlte mich wie ein kleines Kind im Spielzeugladen und verbrachte Stunden mit Scrollen und Chatten auf Grindr», erinnert er sich. Doch auch dieses Verhalten tut Samuel im Nachhinein als nicht problematisch ab.

Rückblickend veränderte sich seine Smartphone-Nutzung erst Jahre später während der Pandemie. Aus Langeweile lädt er Spiele aufs Handy. Sie sind kostenlos, sagt er sich, es wäre also nicht schlimm, falls sie ihm nicht zusagen würden. Es sind verschiedene Spiele, die er über Monate und Jahre hinweg spielt, die im Prinzip jedoch alle gleich sind. Sie kosten zwar kein Geld, aber Zeit. Samuel muss darin virtuelle «Ware» produzieren, die er nach einer gewissen Zeit abholen und weiterverkaufen muss, um im Spiel voranzukommen. Mehrmals täglich öffnet er die App, um seine Produkte zu «ernten».

Zeitlich begrenzte Challenges versprechen zusätzliche Punkte und Belohnungen und führen dazu, dass Samuel während der Arbeit spielt, in Videocalls und auf der Toilette. Er stellt sich sogar einen Wecker, um seine Ware vor dem Ende einer Challenge zu ernten. Der Bruch mit den Spiele-Apps kam durch einen ungewöhnlichen Vorfall, als er in der App zum ersten Mal ein sogenanntes Package kaufte, das ihm im Game Vorteile verschaffen sollte. «Für einen ganz kleinen Betrag hatte ich plötzlich Ressourcen, für die ich zuvor stundenlang spielen musste», erinnert er sich. Damit verlor das Spiel für ihn schlagartig seinen Reiz. «Ich weiss, dass ich da Glück hatte. Andere geben für solche Games ein halbes Vermögen aus.»

«Der Rücklauf, der sich dann tatsächlich in Bezug auf reale Treffen ergab, stand in keinem Verhältnis zum Aufwand, den ich auf der App betrieben habe»

Dating auf mehreren Apps gleichzeitig Samuel verbrachte in der Folge weniger Zeit mit Spiele-, dafür umso mehr mit Dating-Apps. Oft nutzte er Grindr, Tinder und Scruff parallel, wechselte ständig zwischen den Plattformen und verbrachte damit ganze Abende, teils sogar Wochenenden. «Der Rücklauf, der sich dann tatsächlich in Bezug auf reale Treffen ergab, stand in keinem Verhältnis zum Aufwand, den ich auf der App betrieben habe», sagt er.

Push-Nachrichten sorgten für kurze Momente des Nervenkitzels, rissen ihn aber gleichzeitig immer wieder aus der Konzentration, besonders während der Arbeit. Die anschliessende Enttäuschung liess nicht lange auf sich warten – etwa, wenn es sich nur um einen flüchtigen «Tap» handelte oder hinter dem neuen Profilbild ein anonymes, kopfloses Profil steckte.

Samuel vermutet, dass sich die Mechanismen der App über die Jahre mit dem Ziel verändert hatten, Nutzer*innen noch länger bei der Stange zu halten. Das Endlos-Scrollen wurde technisch möglich gemacht und über die Entdeckungsfunktion bei Grindr konnte Samuel plötzlich auch Männer nicht nur in seiner Umgebung, sondern auf der ganzen Welt sehen. Die Aussicht auf das nächste interessante Profil oder den nächsten Chat sorgte dafür, dass er immer wieder weiter swipte, oft ohne es wirklich zu merken.

Was schliesslich zum eingangs erwähnten Aha-Moment führte, war jedoch nicht eine Dating-App oder ein Spiel, sondern Instagram. «Social Media ist der wahre Bösewicht», sagt Samuel. Zu diesem Zeitpunkt war das Scrollen durch soziale Netzwerke längst Teil seines Alltags geworden: im Bett vor dem Aufstehen, während allen drei Mahlzeiten, beim Pendeln im Bus, am Arbeitsplatz und abends vor dem Einschlafen. Leuchtete eine Benachrichtigung auf, wenn er mit Freund*innen auswärts essen ging, galt die Aufmerksamkeit sofort dem Handy. Sogar beim Seriengucken auf Netflix ertappte sich Samuel beim Scrollen auf Social Media.

Besonders verheerend: Im Gegensatz zu den Dating- oder Spiele-Apps konnte er sich in den sozialen Medien ohne Ziel aufhalten, für wenige Sekunden oder gleich ganze Stunden. «Als ich meine täglich verbrachte Zeit auf dem Smartphone anschaute, erschrak ich», erinnert er sich. «Mir war klar, dass ich etwas ändern musste».

Samuels Erfahrungen stehen exemplarisch für ein weit verbreitetes Phänomen. Laut aktuellen Studien verbringen Menschen weltweit im Schnitt fast fünf Stunden täglich am Smartphone – Tendenz steigend. Im deutschsprachigen Raum liegt die durchschnittliche Nutzung tiefer: In der Schweiz sind es 158 Minuten pro Tag, in Deutschland laut Bitkom rund 150 Minuten (bei 16- bis 29-Jährigen sogar etwa 182 Minuten) und in Österreich 182 Minuten.

Dort greifen Nutzer*innen im Schnitt 36-mal täglich zum Handy, ein Drittel verbringt sogar mindestens vier Stunden damit. Besonders bei Jugendlichen zeigt sich ein problematisches Muster: Rund ein Fünftel weist Anzeichen von übermässiger Abhängigkeit auf, oft verbunden mit Schlafproblemen oder erhöhter Unruhe. Diese Zahlen machen deutlich: Es geht nicht nur um die Dauer, sondern vor allem um die Art und Weise, wie wir unser Smartphone nutzen.

Menschen mit ADHS eher anfällig Für Joy Fischer-Ngira, Psychologin und angehende Psychotherapeutin, ist es wichtig, dass Smartphones nicht verteufelt werden. «Smartphones ermöglichen Zugang zu Wissen, Vernetzung und Community, besonders wichtig für marginalisierte Gruppen. Sie können digitale Kompetenzen, Kreativität und Selbstentfaltung fördern», sagt sie.

«Dopamin sorgt dafür, dass wir motiviert weitermachen. Weil Belohnungen unvorhersehbar kommen, greifen wir ständig wieder zum Handy.»

Joy Fischer-Ngira, Psychologin

Vielmehr seien es Apps wie Social Media, Spiele oder Shopping, die gezielt psychologische Mechanismen bedienen, zum Beispiel Likes, Push-Benachrichtigungen und endloses Scrollen. «Das aktiviert unser Belohnungssystem», sagt sie. «Dopamin sorgt dafür, dass wir motiviert weitermachen. Weil Belohnungen unvorhersehbar kommen, greifen wir ständig wieder zum Handy.»

Die ständige Erreichbarkeit könne eine innere Unruhe auslösen, besonders, wenn das Gerät nicht in Reichweite sei. Zudem erfülle das Smartphone das menschliche Bedürfnis nach menschlichem Kontakt. Dieses wird von Social-Media-Apps ausgenutzt.

«Social-­Media-Plattformen sind so gestaltet, dass Nutzer*innen lange bleiben: Likes, Storys, Reels, endloses Scrollen – ein nie endendes Buffet. Das macht sie besonders anfällig für problematisches Verhalten.» Die Plattform Snapchat etwa belohnt ihre Nutzer*innen mit Flammen-Emojis, wenn diese mindestens einmal pro Tag ein Foto- oder Videosnap verschicken.

Wie viel Smartphone am Tag ist genug? Die Antwort darauf ist individuell, wie Fischer-Ngira erklärt: «Entscheidend ist nicht die Nutzungsdauer, sondern die Frage, ob wichtige Lebensbereiche leiden: Familie, Freund*innen, Hobbys, Arbeit oder Schule. Wenn diese nicht vernachlässigt werden und kein Leidensdruck entsteht, ist die Nutzung im gesunden Rahmen.»

Psychologin Joy Fischer-Ngira: «Social-Media-Plattformen sind so gestaltet, dass Nutzer*innen lange bleiben.»
Psychologin Joy Fischer-Ngira: «Social-Media-Plattformen sind so gestaltet, dass Nutzer*innen lange bleiben.» (Bild: zVg)

Die ständige Aktivierung des Belohnungssystems durch Apps und Inhalte hat Folgen – vor allem, wenn dauerhaft Dopamin ausgeschüttet wird. «Man braucht immer mehr Reize für denselben Effekt», sagt Fischer-Ngira. «Dadurch kann die Frustrationstoleranz sinken, Konzentrationsprobleme und Ungeduld nehmen zu.» Besondere Vorsicht gilt für Menschen mit einer ADHS-Diagnose oder entsprechender Veranlagung.

«Menschen mit ADHS entwickeln häufiger ein problematisches Nutzungsverhalten, was ihre Symptome zusätzlich verstärken kann», sagt die Psychologin. Dabei stellt sie jedoch klar, dass Smartphones ADHS nicht auslösen können, da die Prädisposition neurobiologisch bedingt sei. «Eine exzessive Nutzung kann aber zu ADHS-ähnlichen Symptomen führen: Unaufmerksamkeit, Konzentrationsprobleme, Impulsivität, innere Unruhe.»

10 Tipps für einen gesunden Umgang mit dem Smartphone

von Joy Fischer-Ngira

1

Offline-Zeiten einplanen

Nutze Flugmodus, «Nicht stören» und feste handyfreie Zeiträume, etwa am Abend oder vor dem Schlafengehen. Verbinde handyfreie Zeiten mit körperlicher Aktivität.

2

Handyfreie Zonen definieren

Kein Smartphone am Esstisch, beim Essen oder im Schlafzimmer.

3

Nicht mit Social Media in den Tag starten

Vermeide den ersten Dopamin-Kick am Morgen.

4

Analoge Alternativen nutzen

Armbanduhr, Notizbuch oder Wecker ersetzen unnötige Handygriffe.

5

Benachrichtigungen und Reize reduzieren

Deaktiviere Push-Mitteilungen und nutze den Schwarz-Weiss-Modus. Lege unwichtige Apps in Ordner oder entferne sie vom Homescreen.

6

Nutzungsdauer im Blick behalten

Setze dir Bildschirmzeit-Limits und überprüfe regelmässig, welche Apps Zeit fressen.

7

Gezielt statt permanent nutzen

Plane feste Zeiten für Social Media oder E-Mails ein, statt dauernd verfügbar zu sein.

8

Soziale Kontakte offline stärken

Pflege bewusst Beziehungen im echten Leben.

9

Regeln gemeinsam festlegen

Vereinbare klare Absprachen mit Kindern, Partner*innen oder Freund*innen.

10

Bewusst Qualitätsinhalte wählen

Folge nur Accounts und nutze Apps, die dir wirklich guttun.

Weg vom Konsum: Digital Detox? In einer Welt, in der Smartphones zum ständigen Begleiter geworden sind, suchen immer mehr Menschen nach Wegen, ihre Nutzung bewusster zu gestalten. Für Joe Stone, queerer Kolumnist beim Guardian, wurde das Reduzieren der Bildschirmzeit zur persönlichen Mission mit unerwarteten Nebenwirkungen. Er verirrte sich beim Velofahren, weil er Google-­Maps nicht mehr öffnen wollte, oder lieh sich das Smartphone anderer, um ein Meme zu googeln, das er zeigen wollte. «Meine Bildschirmzeit zu reduzieren wurde eine neue Form der Sucht», schrieb er.

Journalistin Rachele de Caro wählte einen radikaleren Weg: Sie stieg ganz auf ein einfaches Mobiltelefon um. Das brachte neue Hürden mit sich, darunter die Anschaffung eines Notizbuchs als Kalenderersatz oder eines separaten Geräts für E-Banking. Auch neue soziale Herausforderungen kamen hinzu: Sie war auf die Mithilfe von Freund*innen angewiesen, die ihr Informationen aus Gruppenchats zusammenfassten. Doch für sie überwiegen die Vorteile. «Das Leben geht nicht unter ohne Smartphone – und so viel, wie viele es wohl fürchten, verändert sich auch nicht», schreibt sie für Der Bund. Das Internet nutzt sie weiterhin zu Hause oder am Arbeitsplatz, aber nicht mehr unterwegs. «Aus dem Haus zu gehen, ohne die ganze Welt in der Hosentasche zu haben, ist kein Verlust – sondern eine Befreiung. Es verschafft mir viel neue Lebenszeit, die ich bewusst einsetzen kann.»

Wer bei sich eine problematische Nutzung vermutet, sollte sich ein paar Fragen stellen: Verursacht meine Smartphone-Nutzung Leidensdruck? Gibt es Anzeichen von Kontrollverlust? Vernachlässige ich Beziehungen, Schlaf oder Arbeit? In solchen Fällen besteht Handlungsbedarf. Ein kompletter Verzicht auf das Smartphone sei jedoch selten realistisch, sagt Fischer-Ngira. «Ein zeitlich begrenzter Digital Detox kann aber hilfreich sein, wenn man merkt, dass es zu viel wird. Wichtig ist, danach neue, gesunde Routinen zu etablieren. Wer einen Kontrollverlust bemerkt, sollte zuerst selbst versuchen, das Verhalten zu ändern. Reicht das nicht, kann Unterstützung durch Fachpersonen sinnvoll sein.» 

«Ein zeitlich begrenzter Digital Detox kann aber hilfreich sein, wenn man merkt, dass es zu viel wird. Wichtig ist, danach neue, gesunde Routinen zu etablieren.

Joy Fischer-Ngira, Psychologin

Einen Monat ohne Instagram Die Zürcher Nationalrätin und ehemalige MANNSCHAFT-Kolumnistin Anna Rosenwasser verzichtet nicht auf das Smartphone, aber regelmässig auf Social Media. Sie legt Instagram-freie Monate ein, die sie ihren knapp 53'000 Follower*innen jeweils ankündigt. Auslöser war ihre hohe Arbeitsbelastung und die Erkenntnis, dass Social Media sie zusätzlich stresst.

«Ich vermisse manche Kanäle und vor allem vermisse ich es, meinen eigenen Kanal zu haben, wo ich selbstbestimmt mit der Community kommunizieren kann.»

Anna Rosenwasser, Zürcher Nationalrätin und ehemalige MANNSCHAFT-Kolumnistin

Ganz leicht fällt ihr der Verzicht nicht: «Ich verpasse Memes, aber auch wichtige Informationen wie zum Beispiel Demos», sagt sie. «Ich vermisse manche Kanäle und vor allem vermisse ich es, meinen eigenen Kanal zu haben, wo ich selbstbestimmt mit der Community kommunizieren kann.» Das Smartphone nutzt sie während diesen Pausen weiterhin, etwa zum Navigieren, für den ÖV oder zum Kommunizieren.

Der bewusste Social-Media-Verzicht tue ihr gut: «Ich kann mich dann besser aufs Bücherlesen konzentrieren, bin psychisch ausgeglichener und vor allem weniger ängstlich», sagt sie. Sie fühle sich präsenter, habe mehr Zeit für ihr Umfeld.

«Ich lese auch eher mal einen ganzen Zeitungsartikel am Stück oder höre ein Lied in voller Länge. Meine Konzentration profitiert enorm, und auch meine Kreativität blüht spürbar auf.»

Setzt regelmässig auf Instagram-freie Monate: Nationalrätin und Autorin Anna Rosenwasser.
Setzt regelmässig auf Instagram-freie Monate: Nationalrätin und Autorin Anna Rosenwasser (Bild: Lea Reutimann)

Ob sich die langen Pausen negativ auf ihre Instagram-Reichweite auswirken, weiss sie nicht und will es auch gar nicht genau wissen. «Ich habe den Eindruck, dass meine Follower*innen die Pausen cool finden, aber denken, dass sie das nie könnten. Dabei könnten sie es! App löschen für ein paar Tage, fertig!»

Auch Samuel hat inzwischen Strategien gefunden, die ihm helfen. Während der Arbeit bleibt das Smartphone in der Jackentasche, zuhause legt er es direkt beim Eingang neben die Schlüssel. «Am Anfang war das schwierig. Ich hatte ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. Aber das hat sich nie bestätigt, auf Nachrichten kann man auch später antworten.» 

Das Schlafzimmer ist für ihn mittlerweile eine smartphonefreie Zone. Den Wecker hat er aus dem Brocki: «Online fand ich nur Designerstücke mit genau den Features, von denen ich eigentlich wegkommen wollte.» Statt auf dem Handy zu spielen, greift er heute wieder zur Playstation oder Nintendo Switch. «Lieber zahle ich für ein richtiges Spiel und bekomme dafür ein viel besseres Erlebnis.» Auch bei den Dating-Apps hat er klare Grenzen gesetzt: Push-Benachrichtigungen sind deaktiviert, die Nutzung beschränkt er auf maximal eine halbe Stunde pro Tag. «Ich sitze nicht mehr da und warte, bis mir irgendein Typ schreibt, der mir vielleicht ohnehin nie antwortet.» Manchmal vergehen sogar Tage, ohne dass er die App öffnet.

Sein Schlaf hat sich verbessert, die Einschlafzeit verkürzt und morgens kommt er leichter aus dem Bett. «Konzentrationsprobleme hatte ich zwar nie grosse, aber ich bin heute definitiv ausgeglichener.» Sämtliche Push-Nachrichten hat er ausgeschaltet – mit Ausnahme von Messengern. Und Instagram. «Ich bin noch nicht ganz da, wo ich hinwill», sagt er. «Aber ich bin schon viel weitergekommen.»  

Mehr: Lynn wurde intergeschlechtlich geboren – mit Penis, Vagina, Hoden und Gebärmutter. Ärzt*innen entschieden: Mädchen. Es folgten Operationen, Schmerzen, Suizidgedanken. Heute kämpft Lynn für Sichtbarkeit und gegen medizinisches Unrecht (MANNSCHAFT-Story).

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