Community
«Im Dorf wird oft hinter meinem Rücken getuschelt»
Stadt und Land, jung und alt: Unser queeres Generationengespräch
Wie lebt es sich als queere Person auf dem Land oder in der Stadt? Barbara und der 51 Jahre jüngere Aaron sprechen über Unterschiede zwischen Generationen und Lebensorten – und darüber, was sie verbindet.
Wie unterscheidet sich das Leben für queere Menschen in Stadt und Land? Barbara: Ich bin ein Stadtmensch, will mit Finken (Anm. d. R.: Hausschuhen) ins Kino gehen. In unserem Verein sehen wir viele, die aus der Ostschweiz oder vom Land nach Zürich «geflüchtet» sind.
Meine Partnerin lebt im politisch eher konservativen Kanton Thurgau auf dem Land, wo wir keine offensichtlichen Probleme haben, aber die feinstofflichen Dinge bleiben spürbar. Als die Abstimmung zur Ehe für alle war, hängten wir ein Plakat auf. Es wurde abgerissen, sodass nur noch die Ösen zurückblieben. In der Stadt fühle ich mich wohler, auch weil Zürich eine eher linke und offene Stadt ist. Gleichstellung auf dem Papier bedeutet noch keine echte Gleichberechtigung.
Aaron Schibli
(Jahrgang 2002) ist Mitglied im Verein Queer Mittelland. Der Verein entstand aus dem Kampf für die Ehe für alle und ist vor allem in den Kantonen Aargau und Solothurn aktiv, mit wöchentlichen Hangouts in Städten wie Aarau, Baden und Olten sowie Podien und Lesungen, z. B. über Trans-Themen. Aaron beschreibt sich als Dorfmensch, aufgewachsen in Dottikon. Aktuell wohnt er in Olten – keine riesige Stadt, aber für Aaron auf dem autistischen Spektrum zu laut und hektisch.
Aaron: Im Dorf habe ich solche Aktionen bisher nicht erlebt, aber aus meinem Umfeld höre ich, dass es oft nicht einfach ist. Im Turnverein in meinem Heimatort Dottikon hatte ich keine Probleme. In der Stadt ist es anonymer, ich kann mich frei bewegen, werde wegen meiner farbenfrohen Haare vielleicht mal angestarrt, aber nicht mehr. Im Dorf hingegen wird oft hinter meinem Rücken getuschelt. Ich präsentiere mich eher maskulin, das gibt mir ein gewisses Gefühl von Sicherheit.
Hat sich die queere Community auf dem Land weiterentwickelt? Aaron: Ich kenne nicht viele Leute und bin gerne für mich. Im Dorf, im Jungschützenverein habe ich mich einfach vorgestellt: «Ich bin jetzt Aaron.» Wenn das nicht passt, gehe ich halt. Die meisten dort wählen die rechtsgerichtete SVP. Als ich ihnen erzählte, was ihre Politik für uns Queers bedeutet, waren sie entsetzt. Sie sagten, sie könnten ja wenigstens ein Ja oder Nein setzen, wo es hilft. Das hat mich gefreut. Aber ich glaube nicht, dass das überall so ist.
Barbara Bosshard
(Jahrgang 1951) ist seit 2019 Präsidentin des Vereins «queer Altern» in Zürich. Der Verein setzt sich für Lebensorte ein, wo queere, vor allem ältere Menschen leben können, ohne sich ständig erklären zu müssen oder ins Closet zurückzugehen. Mittlerweile hat der Verein Ableger in Basel und Bern. Barbara wuchs in Küsnacht am Zürichsee auf und lebte immer in Städten.
Barbara: Das Land hat sich stark verändert, besonders seit Corona. Viele haben seither eine Zweitwohnung. Zudem wurden viele durch die Gentrifizierung aus der Stadt verdrängt. Das Dorfleben, wie man es aus Gotthelf-Geschichten kennt, gibt es kaum noch. Am Bodensee sehe ich oft Nummernschilder aus Zürich oder St. Gallen. Trotzdem bleibt das Ländliche oft konservativer.
Aber es gibt Ausnahmen: In Goms haben Lesben eine Zweitwohnung, und das Dorf stimmte mehrheitlich für die Ehe für alle. Auch im Dorf meiner Lebenspartnerin sind Unterschiede spürbar. Die SVP ist klar konservativ, die Mitte etwas offener. Das Vertraute gibt Sicherheit, Veränderungen irritieren.
Aaron: In der Stadt fällt man weniger auf. Im Dorf kennt jeder jeden, in der Stadt kann man anonym bleiben. Das schützt, aber macht auch unsichtbar.
Barbara: Manche ältere Queers mussten früher aus dem Ländlichen fliehen, weil sie nicht in das klassische Familienbild passten. In der Stadt konnten sie sich eher entfalten.
Gibt es einen Generationenkonflikt in der Community? Barbara: Es gibt eine starke Generationskomponente. Viele in meinem Alter tun sich mit Nicht-Binarität oder Trans-Identitäten schwer. Bei einem Generationengespräch, das unser Verein mit der queeren Jugendorganisation Milchjugend gemeinsam veranstaltet hatte, sollten alle einen Kleber mit Namen und Pronomen tragen. Das führte zu heftigen Reaktionen einzelner Menschen, die sagten: «Das mache ich nicht. Man sieht ja, wer ich bin.» Dabei ging es uns darum, niemanden zu zwingen, ein unfreiwilliges Coming-out zu haben; alle sollten gleichbehandelt werden. Deshalb antwortete ich: «Wenn du das nicht akzeptieren kannst, bist du heute am falschen Ort.» Am Schluss sind alle geblieben. Das zeigt: Auch innerhalb der queeren Community gibt es noch Diskussionen über Identitäten.
Aaron: Ich kenne nur wenige queere Menschen über 40. Sie sind entweder nicht sichtbar oder nicht in meinem Umfeld. Dadurch habe ich kaum Berührungspunkte mit älteren Generationen. Ich habe aber erlebt, dass manche ältere schwule Männer den Rest der queeren Community nicht mit einbeziehen. Ich erinnere mich an eine Begegnung, in der es sich anfühlte, als würde der Mann zwar sagen: «Ja, ich sehe euch», aber trotzdem blieb da eine Distanz. Ich kann das schwer einordnen.
Gleichzeitig nehmen viele junge Menschen ältere Queers nicht ernst. Ihnen fehlt das Bewusstsein für die Kämpfe früherer Generationen. Warum habt ihr euch nicht einfach geoutet? Dabei vergessen wir, dass es Zeiten gab, in denen queere Menschen rechtlich und sozial massiv eingeschränkt waren. Wir haben keine Ahnung, wie alles gelaufen ist, bevor wir da waren.
Barbara: Es ist wichtig, einander kennenzulernen – die Hintergründe, die Lebensweisen. Eine junge Person sagte mir: «Ich bin so froh, euch von «queer Altern» zu kennen, denn früher gab es für mich keine Perspektive, als queerer Mensch alt zu werden. Niemand war sichtbar. Jetzt sehe ich euch und erkenne: Es gibt andere Wege. Heiraten im klassischen Sinn ist nicht zwingend.»
Für uns Ältere ist es spannend zu sehen, wie schwer es auch heute noch ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – und wie politische Entwicklungen dies teils wieder erschweren, siehe USA oder auch Deutschland, wo von rechtspopulistischen Kreisen jede Pride, jeder CSD gestört wird. Gleichzeitig lernen wir von euch Jüngeren, weil ihr eure Erfahrungen mit uns teilt.
«Ich war 41, als die WHO mich nicht mehr als krank einstufte.»
Barbara Bosshard
Ich war 41, als die Weltgesundheitsorganisation mich nicht mehr als krank einstufte. Das machte etwas mit einer queeren Person, mit mir als Lesbe. Früher mussten trans Menschen psychiatrische Begutachtungen über sich ergehen lassen, um offiziell Namen und Identität zu ändern. Das war entwürdigend. Schwule und Lesben haben früher wenig zusammengearbeitet, weil lesbische Frauen erst als Frau für ihre Gleichberechtigung kämpfen mussten. Es gab Dissonanzen – auch in der Aids-Krise, bis klar wurde: Wir brauchen einander. Heute sind wir an einem Punkt, wo «queer» selbstverständlich gesagt werden kann – das ist ein Fortschritt.
Aaron: Vieles, was du sagst, ist für mich völlig neu. Wir lernen in der Schule von der Aids-Krise, aber nicht, welche Rollen Lesben dabei spielten. Und als ich meinen Namen änderte, war das in wenigen Tagen erledigt. Ich wusste nicht, wie kompliziert es noch vor wenigen Jahren war.
Barbara: Früher mussten trans Menschen schweizweit psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen und in ihrer Identität leben, um diese gegenüber der heteronormativen Gesellschaft zu beweisen. Für trans Männer war dies weniger schwierig, da viele Frauen in Hosen herumgehen, als für trans Frauen, die vor dem Coming-out männlich gelesen wurden und sich entsprechend männlich kleideten und nun in Röcken erscheinen mussten. Das war demütigend, nur um zu beweisen, dass sie sind, wer sie sind. Ich kenne zwei trans Frauen, die ihre Namensänderung als ihren Geburtstag feiern. Das zeigt, wie viel es ihnen bedeutet.
Aaron: Wir wissen vieles nicht. Und deshalb ist der Austausch so wichtig. Ich wünsche mir von uns allen: mehr Gespräche, mehr gemeinsames Nachdenken. Es muss von beiden Seiten kommen.
Barbara: Austausch stärkt beide Seiten. Ich höre von Jüngeren oft: «Wir sehen durch euch, auf welchen Schultern wir stehen.» Das zeigt, dass unser Kampf nicht umsonst war.
«Wir glauben, wir können nichts bewirken.» «Doch, wir können.»
Aaron Schibli
Aaron: Ich glaube, meine Generation sieht das oft nicht. Wir sehen nur, was noch nicht erreicht ist, nicht das, was schon geschafft wurde. Und wir haben oft das Gefühl, wir können nichts bewirken.
Barbara: Doch, wir können. Wichtig ist, dass wir irgendwo beginnen. Du und ich, wir beide sind im Vorstand eines Vereins, der queere Ziele verfolgt. Da können wir etwas bewirken, auch in unserer Gemeinschaft, indem wir starke Netzwerke aufbauen. Wenn wir an die globale, politische Entwicklung denken, könnte einem schon der Gedanke kommen aufzugeben. Aber wir dürfen uns unter keinen Umständen hinter das Erreichte zurückdrängen lassen.
Aaron: Absolut.
Barbara, kennst du das Gefühl, das Aaron beschrieben hat, nichts ausrichten zu können? Barbara: Wenn ich Talkshows sehe, wird mir schlecht. Dennoch habe ich das Gefühl jeden Tag als denkender Mensch aktiv für diese Gesellschaft unterwegs zu sein. Ich habe kürzlich ein Zitat von der deutschen Politikerin Katja Kipping aufgeschrieben, das mir gefallen und mich bestärkt hat: «Ich kann mir nicht aussuchen, in welcher Zeit ich lebe, nur, wie ich auf ihre Umstände reagiere. Da würde ich immer sagen, unbedingt so, dass man am meisten von Nutzen ist, und so, dass man selbst die grösste Freude daran hat. Das heisst, bei allem, was wir tun, immer das Gefreute an der Gemeinsamkeit und am gemeinsamen Kampf nicht zu kurz kommen zu lassen.» Wenn ich mich jeden Montag mit 30 queeren Menschen unseres Vereins für Kaffee und Gipfeli (Anm. d. R.: Croissant) treffe, bin ich jeweils glücklich, weil ich weiss, dass unser Verein allein schon deswegen Sinn macht.
Aaron: Solche Momente schätze ich auch. Wenn ich zum Beispiel donnerstags mit meinen Queers in der Bar sitze. Manchmal ist der rebellische Akt einfach, sich glücklich zu machen. Vor 20 Jahren dachte jede*r, man müsse immer etwas erreichen. Heute weiss ich, ich muss nicht arbeiten oder eine Wohnung haben, um ein guter Mensch zu sein.
Barbara: Wir haben andere Lebensentwürfe. Für mich haben Dinge wie Besitz oder eine eigene Wohnung einen anderen Wert als für andere. Rückblickend bin ich froh, keine «normale» Frauenbiografie zu haben. Mein Queersein hat mich authentisch, engagiert und selbstständig gemacht.
Aaron: Früher war es klar, wer gegen uns war. Heute ist es weniger klar und wir haben mehr Freiheiten, aber das Gefühl, nichts zu erreichen, bleibt. Viele in unserem Alter wissen nicht, was sie wollen.
Barbara: Ich denke, das ist heute nicht anders. Mit 20 weiss ein Mensch noch nicht so genau, was er wirklich will, auch wenn viele glauben, Karriere und Familie seien die Ziele. Wer abseits des Mainstreams lebt, muss sich mehr mit sich auseinandersetzen. Diverse Lebensentwürfe werden nicht wie die stereotypen, traditionellen geliefert.
Ist es notwendig, in ländlichen Gebieten mehr für die Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen zu tun? Aaron: Ja. In der Stadt wird man nicht angesprochen, aber im Dorf ist es schwieriger. Je mehr Queers sich auf dem Land zeigen, desto weniger können andere uns ablehnen. Ich weiss aber noch nicht, wie man das erreicht.
Barbara: Viele in unserem Verein haben ihre Heimat in der Stadt gefunden und könnten sich nicht vorstellen zurückzukehren. Es geht nicht nur um Mentalität, sondern auch um die Vielfalt in der Stadt – mehr Menschen, mehr Möglichkeiten. Der «Korb» ist einfach grösser. In einem Dorf von 500 Leuten gibt es weniger Queers als in einer Stadt mit 500 000.
Aaron, was wünschst du dir als queerer Mensch auf dem Land? Aaron: Normalisierung. Ich brauche nicht viele Möglichkeiten, es geht um das Dorfleben. Aber auf dem Land ist es schwer, genug Community zu finden. Ich möchte nicht, dass zukünftige queere Generationen in die Stadt flüchten müssen. Ich weiss nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich im Dorf geblieben wäre und mich dort geoutet hätte. Wahrscheinlich wären viele gegen mich gewesen. Ich will anderen die Möglichkeit geben, sichtbar zu sein – nicht, weil sie müssen, sondern weil sie wollen.
Wie helfen Medien dabei? Aaron: Sehr. In der Stadt kann ich andere Queers einfach ansprechen, im Dorf fehlt diese Möglichkeit. Online kann man sich outen und vernetzen, ohne gleich das ganze Dorf einzubeziehen.
Barbara: Spannend – du möchtest auf dem Land leben, aber gleichzeitig vermeiden, dass es dort jede*r mitbekommt?
Aaron: Ich will nicht wegen der Community in die Stadt, sondern wegen der Natur aufs Land. Ich will im Dorf leben können, ohne Diskriminierung zu fürchten. Und trotzdem Teil der queeren Community bleiben. Medien helfen dabei, weil ich für Treffen sonst lange reisen muss oder Diskriminierung riskiere, indem ich mich sichtbar mache. Ich will Vorbild sein, aber ohne Angst. Mich treffen Worte nicht so leicht – aber eine abgerissene Pride-Flagge würde mir Angst machen. Das ist mein Dilemma.
Wie kann die Community Generationen und Stadt-Land-Grenzen überwinden? Barbara: Die Sensibilisierung in der Community ist gross – aber es braucht das eigene, aktive Mitmachen, um Anschluss zu finden. Auch für mehr Akzeptanz auf dem Land ist unser Engagement gefragt. Es bleibt unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir als Queers mitgedacht und nicht nur «mitgemeint» sind. Die heteronormative Mehrheit ist oft nicht sensibel genug, diesen Unterschied zu erkennen und sich entsprechend einzusetzen.
Muss die Initiative aus der Community selbst kommen? Aaron: Ja, aber wir können nicht immer alles allein machen. Aktivismus ist anstrengend, viele sind am Limit. Vielleicht sollten wir mehr Queers motivieren, sich zu engagieren. Viele beschweren sich über Diskriminierung – aber tun nichts. Ich werde in Zukunft öfter fragen: «Warum bist du nicht aktiv?»
Die Bonnies – so nennen sie ihre Persönlichkeiten – leben mit Dissoziativer Identitätsstörung. Und doch organisieren sie ihr Leben, lieben eine Frau und zeigen sich der Welt, obwohl sie sich eigentlich verstecken müssten. Ein Puzzle in sechs Teilen. Unfertig (MANNSCHAFT-Story).
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