Dissoziative Identitäts­störung: Tausend Bonnies in einem Körper

Wenn Sekunden, Tage oder Jahre verschwinden

Hinter einem Gesicht namens Bonnie Leben verbergen sich an die tausend Persönlichkeiten: die Bonnies
Hinter einem Gesicht namens Bonnie Leben verbergen sich an die tausend Persönlichkeiten: die Bonnies (Bild: zVg)

Die Bonnies – so nennen sie ihre Persönlichkeiten – leben mit Dissoziativer Identitätsstörung. Und doch organisieren sie ihr Leben, lieben eine Frau und zeigen sich der Welt, obwohl sie sich eigentlich verstecken müssten. Ein Puzzle in sechs Teilen. Unfertig.

Diese Story ist ein Puzzle. Denn hier geht es um tausend Teile (eines Menschen), die zusammen ein Gesamtes ergeben. Sie nennen sich die «Bonnies», haben eine Dissoziative Identitätsstörung, kurz DIS, früher bekannt als multiple Persönlichkeit, und eine von ihnen, 46 (gesprochen «Viersechs»), ist seit zwei Jahren mit Meike verheiratet, um die es hier auch geht. 

Einem Puzzle ähnelte auch die Recherche für diesen Text und sein Entstehen: zahlreiche Einzelquellen, die auf meinem (digitalen) Schreibtisch darauf warteten, dass ich sie an die passende Stelle setzte, darunter ein schriftlich geführtes Interview mit den Bonnies – diesen Kommunikationsweg wünschten sie, damit mehrere von ihnen sich einbringen konnten –, ausserdem Zitate aus ihrem Bestseller «Eine Bonnie kommt niemals allein», TV-Interviews, Artikel und schliesslich die Social-Media-Kanäle der Bonnies mit 350 Beiträgen, denen aktuell 200'000 Menschen folgen.

Am Schluss dieser Story wird das Puzzle keinesfalls komplett sein, aber du wirst ein Bild vor dir sehen, das dich mehr hinsehen lässt. Legen wir los.

Puzzleteil 1: Die DIS – Wie sie sich anfühlt So einzigartig wie Menschen sind, so unterschiedlich zeigt sich auch jede Dissoziative Identitätsstörung. Die Bonnies sind eine davon. Eine Szene in ihrem Buch «Eine Bonnie kommt niemals allein» eignet sich gut, um eine erste Vorstellung von der Krankheit zu bekommen: Sie spielt in der Trauma-Klinik, in der die Bonnies – damals in einem 18-jährigen Körper – ihre Diagnose erhielten.

«Das ist die schlimmste Klinik, die ich kenne!», knallte ich meinem zuständigen Therapeuten an den Kopf, nachdem ich, ohne zu klopfen, in sein Büro platzte.

«Was meinen Sie? Wir sind eine Trauma-Klinik mit sehr viel Erfahrung.» Mit einer Geste bat er mich auf den Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.

Ich schüttelte den Kopf. «Können Sie vergessen. Ich entlasse mich jetzt. Sie helfen mir nicht.»

«Aber Frau Leben, wir sind doch auf einem guten Weg. Wir können nun endlich am Ursprung ansetzen.»

Ich war verwirrt und mindestens genauso wütend. Woher sollte er denn wissen, wo der Ursprung meiner Probleme war, wenn er mir nicht zuhörte? Ich kannte ihn doch selbst nicht.

«Seit anderthalb Monaten bin ich nun hier und ich hatte noch kein einziges Gespräch mit Ihnen. Wollen Sie warten, bis meine Probleme sich in Luft auflösen?»

Für einen kurzen Moment schien mein Therapeut verwirrter als ich selbst.

Dann atmete er tief ein: «Wir haben uns jeden zweiten Tag gesehen. Sechs Wochen lang. Können Sie sich an nichts davon erinnern?»

Da ich kein Wort mehr herausbekam, schüttelte ich nur den Kopf. Das konnte nur ein schlechter Witz sein.

«Kein Problem. Ich kann Ihnen erklären, warum nicht.»

In den darauffolgenden 60 Minuten erklärte er mir, ich sei multipel und würde mir meinen Körper und meine Lebenszeit mit anderen Personen teilen. Das würde auch bedeuten, dass ich seit meiner frühen Kindheit regelmässig Traumata erlebt haben müsste. Nur so würde die Psyche gar nicht erst zusammenwachsen und stattdessen verschiedene Persönlichkeiten entstehen lassen, die sich das Erlebte aufteilten. Ami, Buch, Seite 26

Im Buch sprechen mindestens 20 Personen über sich selbst im «Ich», meist jedoch im «Wir» und meinen damit ihr DIS-System, ihr Viel-Sein, vergleichbar mit einer grossen Schule mit «an die tausend Personen», in der einzelne verschmelzen können, verschwinden und immer wieder neue auftreten. 

«Es gibt ganz viele kleine innen drinnen, aber die können nicht mitsprechen, aber das ist auch ok, weil viele können noch gar nicht sprechen.» 

Tessa (10 Jahre alt) in einem Social-Media-Video

Jede hat ihren eigenen Kopf, andere Vorlieben: Die quirlige Ami mag Energydrinks, die kindliche Tessa mag Süsses, nur Isa spielt Klavier. Sie haben verschiedene Handschriften, die sich die Bonnies vor ihrer Diagnose so erklärt haben, dass jemand anderes sich das Tagebuch genommen und reingeschrieben haben muss. 

Es gibt keine feste, vollständige Liste aller Innenpersonen, und nicht jede will oder kann öffentlich genannt werden. Manche haben einen Namen, manche nicht, manche sind erwachsen, manche nicht, manche sind weiblich, manche nicht. Gemeinsam haben sie sich den Namen «Bonnie Leben» ausgesucht, den sie als Künstlernamen in den Pass eintragen liessen und seither für alles benutzen, symbolisch für ihren neuen Abschnitt auf dem Weg ins eigene Leben. 

Enge Freund*innen und Ehefrau Meike erkennen oft, welche Person gerade vorne ist, wenn sie sie bereits kennen, aber nicht immer. Manchmal merken sie auch, dass jemand vorne ist, den sie noch nicht kennen, aber erfahren nie, wer es ist. Nicht alle Wechsel müssen bemerkt werden. Manchmal sind sie subtil, etwa wenn eine Person nur kurz einen Satz einwirft.

«Manchmal merke ich nur, dass mir Zeit fehlt, weil ich soeben noch beim Frühstück war und es eine Sekunde später dunkel draussen ist. Kaffee. Wachen werden. Blinzeln. Sonnenuntergang. Die Zeit dazwischen existiert nicht.»

Isa, Buch, Seite 122

«Wenn ich nicht da bin, bin ich weg. …]Für die Zeit, in der eine andere Person am Steuer ist, habe ich kein Bewusstsein. …] Ich fühle mich, als hätte ich einmal geblinzelt. Manchmal merke ich nur, dass mir Zeit fehlt, weil ich soeben noch beim Frühstück war und es eine Sekunde später dunkel draussen ist. Kaffee. Wachen werden. Blinzeln. Sonnenuntergang. Die Zeit dazwischen existiert nicht. …] Ich habe keine Angst zu verschwinden. Ich habe Angst, nie wiederzukommen. Das wäre ein Sterben ohne Tod.» Isa, Buch, Seite 122

Einmal blinzeln – und es kann fünf Sekunden. Fünf Tage. Fünf Wochen. Fünf Jahre später sein.

Puzzleteil 2: Der Alltag – Wie die Bonnies ihn bewältigen Das Miteinander im Alltag vergleicht 46 im Buch mit einer Autofahrt: Eine Person steuert den Wagen, während auf dem Beifahrersitz manchmal jemand mitfährt, der ebenfalls die Umgebung wahrnimmt und gelegentlich ins Lenkrad greifen kann. Auf der Rückbank sitzen weitere Mitfahrende hinter verdunkelten Scheiben, die manches sehen oder erahnen. Ganz hinten, im Kofferraum, befinden sich jene, die vom Geschehen draussen vollständig abgeschirmt sind, manche können miteinander sprechen, andere wissen überhaupt nicht, dass sie nicht allein sind.

«Funktionieren funktioniert immer. Wir haben früh gelernt, dass die Gefahr am kleinsten ist, wenn wir uns anpassen. Deshalb sind wir meist sehr gut darin, den Alltag zu meistern, ohne aufzufallen. Die DIS ist für uns Rettung und Leid zugleich. Nur durch sie konnten wir überleben und gleichzeitig macht sie uns das Leben schwer.» Die Bonnies, schriftliches Interview

«Die DIS ist für uns Rettung und Leid zugleich. Nur durch sie konnten wir überleben und gleichzeitig macht sie uns das Leben schwer.»

Die Bonnies, schriftliches Interview

«Funktionieren funktioniert immer. Wir haben früh gelernt, dass die Gefahr am kleinsten ist, wenn wir uns anpassen. Deshalb sind wir meist sehr gut darin, den Alltag zu meistern, ohne aufzufallen. Die DIS ist für uns Rettung und Leid zugleich. Nur durch sie konnten wir überleben und gleichzeitig macht sie uns das Leben schwer.» Die Bonnies, schriftliches Interview

Es gibt Alltags-Bonnies, meist Erwachsene, die den Tag organisieren, sich um Berufliches oder andere Aufgaben kümmern. Doch wirklich planen können sie selten, weil sie nie wirklich wissen, wer im Laufe des Tages vorn sein wird. Manchmal müssen Personen Verpflichtungen übernehmen, die ihre Fähigkeiten übersteigen, etwa wenn kleine Kinder einkaufen.

Termine, Einkäufe, Arztbesuche sind logistische und emotionale Kraftakte. Das Tagebuch, das immer dabei ist, dient als Brücke zwischen den Bonnies. Freund*innen und Meike sind ihre Anker, helfen verängstigten Personen, sich zu orientieren, teilen wichtige Informationen, vermitteln zwischen den Bonnies. Für Ehefrau Meike haben sie sich zum Beispiel gemeinsam entschieden.

«Als erstes habe ich Fiona kennengelernt und fand sie sofort mega cool und sympathisch. Als nächstes Isa und dann immer mehr von den anderen. Und irgendwann 46 und hab’ mich in sie verliebt.»

Meike in einem Video auf Social Media

Puzzleteil 3: Ehefrau Meike – Wie sie eine Beziehung mit vielen führt Es begann in einer Berliner Strasse, wo die Bonnies wohnten, und Meike arbeitete, die gerade ihren Hund Gassi führte. 

Bei Meike fühlten sich die Bonnies schnell wohl und sicher, sodass sich nach und nach immer mehr von ihnen nach vorn wagten. Vertrauen, so erklären sie, spüre oft auch, wer Meike noch nicht kenne. Zum Glück wusste Meike als Heilpraktikerin mit Schwerpunkt Traumatherapie, was eine DIS ist, und kam ohne Berührungsängste.

Zwischen Meike und den Bonnies liegt zwar ein körperlicher Altersunterschied von 17 Jahren, doch war er nie ein Thema, zumal die Innenpersonen unterschiedlich alt sind und 46, mit der Meike eine Liebesbeziehung führt, nahezu gleichaltrig ist. In Social-Media-Videos wirkt das Paar eingespielt und innig. Seit zwei Jahren sind sie verheiratet, und Meike schenkt den Bonnies Halt.

«Sie nimmt uns als Gesamtes an, wie wir sind. Für die Kleinen ist sie die coole grosse Freundin», für andere eine vertraute Freundin, für 46 die Partnerin und manche Personen kennen sie gar nicht.»

Die Bonnies, schriftliches Interview

So wie sich Menschen in Geschlecht, Alter und Sexualität unterscheiden, so verschieden sind auch die Bonnies. Den meisten bleibt es verwehrt, den Alltag und die Beziehung mit Meike zu erleben. Manche Innenpersonen sind queer, andere haben keinerlei Bewusstsein für Sexualität. Nicht, weil sie sich nicht damit identifizieren, sondern weil Traumata vieles überdecken.

Seit über zwei Jahren verheiratet: Bei Meike fühlen sich die Bonnies wohl und sicher
Seit über zwei Jahren verheiratet: Bei Meike fühlen sich die Bonnies wohl und sicher (Bild: zVg)

«Intimität hat viele Gesichter. Für die Kleinen von uns ist es zum Beispiel sehr intim, wenn Meike uns vorliest. Auch sie dürfen (sichere!) Nähe spüren. Körperliche Intimität zwischen 46 und Meike ist auch möglich, aber natürlich schwierig, wenn man weiss, dass es jederzeit zu einem Wechsel kommen kann.» Die Bonnies, schriftliches Interview

Am meisten akzeptiert fühlt sich das Paar in der queeren Community, wo viele wissen, wie wichtig es ist, einfach sein zu dürfen und nicht über andere zu urteilen. Dennoch bleiben ihre gleichgeschlechtliche Ehe, die psychische Erkrankung und die traumatische Vergangenheit, über die viele lieber hinwegsehen, herausfordernd in einer Gesellschaft, die Menschen lieber in ihre Schubladen steckt.

«Emely imma eingespärt. Emely muss imma in Zimma bleibn. Weil Emely ekelig. Muss lieba alleine sain. Darf ni raus. Darf net schrein. Muss lieb sain. Muss alleine sain.»

Emely, Buch, S. 125

Puzzleteil 4: Das Trauma – Was die Bonnies erlebt haben Über das, was den Bonnies genau passiert ist, sprechen sie nicht. Es lässt sich auch hier nur Puzzleteil um Puzzleteil zusammensetzen, ohne dass am Ende ein eindeutiges Bild entsteht. Denn nicht alle Innenpersonen wissen, was geschehen ist, weil sie nur auf die Erinnerungen zugreifen können, bei denen sie selbst vorne waren. In einer Folge der ZDF-Wissenschaftsreihe «Terra Xplore» berichten die Bonnies, dass sie Gewalt und Missbrauch in einem Ausmass erlebt haben, das über das Vorstellbare hinausgeht. Und auf Social Media sowie im Buch erwähnen sie organisierte Gewalt, geben aber nie Details preis. 

Die Bonnies wollen ihre Täter*innen nicht zur Rechenschaft ziehen, weil viel zu gross sei, was dahinterstecke, und ihnen nichts wertvoller sei als die eigene Sicherheit.

«Lieber stecke ich meine Energie in Positives, damit Täter es in Zukunft schwerer haben.»

46, in einem Video auf Instagram

Als viele werden die Bonnies nie genug Lebens- und Therapiezeit haben, um alle Traumata zu bearbeiten. Ihre Strategie ist daher, zu priorisieren und ein Leben mit genügend positivem Gegengewicht aufzubauen, das es ihnen ermöglicht, all den Rest, der sie immer begleiten wird, halten zu können.

«Überlebende heissen nicht Überlebende, weil etwas vorbei ist und sie noch immer leben. Sie überleben. Jeden Tag.» 

Fiona, Buch, S. 219

Puzzleteil 5: Die Kunst – Wie viele gemeinsam malen Schreiben und Kunst waren für viele der Bonnies schon immer ein Anker. Aber Künstlerin werden? Auf den Gedanken sind sie lang nicht gekommen. Zuerst begannen sie ein Mathestudium, arbeiteten als Rettungssanitäterin, erst danach bogen sie ab zur Kunsttherapeutin, heute malen und verkaufen sie ihre Bilder, Keramiken oder Postkarten. 

Die Bonnies malen und verkaufen ihre Bilder – meist sind sie einer Person zuzuordnen, manchmal entstehen Gemeinschaftswerke
Die Bonnies malen und verkaufen ihre Bilder – meist sind sie einer Person zuzuordnen, manchmal entstehen Gemeinschaftswerke (Bild: zVg)

Ihre Werke lassen sich oft einer Person zuordnen, da sich die Stile mitunter stark unterscheiden: 46 spachtelt, Isa zeichnet, Tessa malt Kinderbilder, Fiona klatscht ihre Acrylfarben auf die Leinwand drauf, anfangs Traumabilder, einmal sogar die ganze Wand in der Wohnung voll, weil es sie so ärgerte, dass viele Innenpersonen die Traumata nicht anschauen wollen. Nur ein Bild tanzt aus der Reihe – bis heute wissen die Bonnies nicht, von wem es stammt. 

Die Kunst dringt tiefer als innere Barrieren. Manchmal entstehen Gemeinschaftswerke von Personen, die sonst keinen Zugang zueinander haben.

Dieses Bild hat Fiona gemalt, die gern Acrylfarben auf die Leinwand klatscht
Dieses Bild hat Fiona gemalt, die gern Acrylfarben auf die Leinwand klatscht (Bild: Die Bonnies)

«Für die, für die es möglich ist, war es oft heilsam, Worte für das Geschehene zu finden oder für das, was es mit uns macht. Worte sind Macht. Worte wurden uns früh schon genommen. Sie zurückzuerobern ist harte Arbeit, aber eine wichtige Ansage nach innen und nach aussen.» Die Bonnies, schriftliches Interview

Ein Meilenstein auf diesem Weg ist das Buch «Eine Bonnie kommt niemals allein», mittlerweile ein Spiegel-Bestseller. Darin sprechen die Bonnies, holen sich ein Stück Selbstbestimmung zurück, werden gesehen.

Puzzleteil 6: Die Öffentlichkeit – Warum sie sich zeigen Die Bonnies verstecken sich nicht mehr, schweigen nicht mehr – sie zeigen sich und sie klären auf. Sie geben Interviews, treten in TV-Shows auf, und auf Instagram und Tiktok folgen ihnen inzwischen 200 000 Menschen. Doch warum suchen sie die Öffentlichkeit, wenn ihnen ihre Sicherheit so viel bedeutet? 

«Unser einziges Ziel ist, dass die Thematik im Hinterkopf der Menschen existiert – denn Gewalt und Trauma passieren überall.»

Die Bonnies, schriftliches Interview

Der Öffentlichkeit zeigen sie nur so viel, wie sich gut anfühlt, und behalten den Rest für sich. Auf Social Media sind nur jene der Bonnies aktiv, die das wollen und können. Dort stellen sie sich einzeln vor, um Aussenstehenden die DIS greifbarer zu machen. Möglich sei das nur nach langer Vorarbeit und sorgfältigem Abwägen gewesen, betonen die Bonnies im schriftlichen Interview. Im Alltag jedoch würden sie sich nie mit Namen vorstellen, denn die DIS sei und bleibe ein Schutzmechanismus. Sichtbarsein ist für sie unterm Strich ein ambivalenter Akt: verboten und befreiend zugleich.

«Wir müssen uns zeigen, um unser Leben zu zeigen – das wäre vor ein paar Jahren undenkbar gewesen, genau wie es das für die meisten DIS-Systeme grundsätzlich ist. …] Zum anderen müssen wir uns schützen. Wir möchten auf Grausamkeiten aufmerksam machen, müssen aber viele unserer persönlichen Grausamkeiten ausklammern. Die verletzlichen Momente, die eigentlich die wichtigsten sind, zeigen wir nicht. Das Leben, das wir jetzt führen, steht im Mittelpunkt. Denn das ist unser Stinkefinger an Täter*innen: leben. Die Gesellschaft darf sich nicht zurücklehnen und denken: «Ach, eine DIS würde ich schon erkennen. Und dann würde ich selbstverständlich auch helfen.» Es muss klar werden, dass es Sensibilität braucht, um Betroffenen eine Hilfe sein zu können.» 46, Buch, Seite 288-290

So schwer die Störung ist, so hat sie die Bonnies zugleich zu dem gemacht, was sie sind: ein vielschichtiges, achtsames und weises Wesen, das daran erinnert, dass Menschen mit DIS «der beste Beweis dafür sind, dass es immer mehr geben kann, als man sieht». Oft lernen selbst ihre Freund*innen neue Innenpersonen kennen, von deren Existenz nicht einmal die Bonnies vorher wussten. Während man sich scheinbar mit einer einzelnen Person unterhält, können im Inneren viele mitbeobachten, kommentieren und reagieren – für Aussenstehende unsichtbar. Und diese Erfahrung übertragen sie auf alle Begegnungen: 

«Niemand kann aus dem äusseren Erscheinungsbild allein das ganze Sein oder die innere Verfassung eines Menschen erkennen.»

Die Bonnies, schriftliches Interview

«Niemand kann aus dem äusseren Erscheinungsbild allein das ganze Sein oder die innere Verfassung eines Menschen erkennen. Jeder Mensch ist der einzige Experte für sich selbst – und selbst er kennt nicht immer alles, was in ihm verborgen liegt. Wir sollten uns eine offene Haltung bewahren. Wir sind nicht allwissend. Wir können nur erforschen, wahrnehmen und weiterforschen.» Die Bonnies, schriftliches Interview

Interview mit Daniela Gerber, Fachpsychologin für Psychotherapie, aus Bern
Interview mit Daniela Gerber, Fachpsychologin für Psychotherapie, aus Bern (Bild: zVg)

«Alle gehören zu einem Ganzen»

Daniela, wie entsteht eine Dissoziative Identitätsstörung (DIS)? Eine DIS ist eine extreme Form von Traumafolgestörungen, meist nach früher, wiederholter Gewalt oder systematischer Vernachlässigung. Entscheidend ist oft, ob es eine verlässliche Bezugsperson gab – etwa Elternteil, Grosselternteil oder vertraute Person in Kita oder Nachbarschaft. Fehlt diese emotionale Stütze, steigt das Risiko erheblich; ist sie vorhanden, wirkt sie als Schutzfaktor.

Wie häufig kommt das vor? Schätzungen zufolge sind bis zu fünf Prozent der Menschen mit Traumafolgestörungen betroffen. Lange Zeit war die Störung unterdiagnostiziert, heute ist sie klar wissenschaftlich anerkannt.

Wie wird eine DIS behandelt, und was ist das Ziel? Am Anfang steht der Vertrauensaufbau. Viele Betroffene wissen nicht, dass sie mehrere Persönlichkeitsanteile haben. Die Therapie soll Kommunikation zwischen den Anteilen ermöglichen – zunächst über die Therapeutin, später direkt untereinander. Ziel ist ein funktionierendes Miteinander im Alltag. Je nach Ausprägung interagieren manche Anteile nur schriftlich, andere können direkt kommunizieren. Entscheidend ist, dass sie lernen, sich gegenseitig wahrzunehmen und zu unterstützen.

Die Bonnies sprechen von «Personen» – du jedoch von «Persönlichkeitsanteilen». Warum? Zu mir kommt immer eine Person – ein Körper mit mehreren Anteilen. Ein Dozent verglich das einmal mit einer Pizza: Ob in zwei oder 200 Stücke geschnitten, sie bleibt eine Pizza. Manche Anteile haben ein starkes Ich-Gefühl, andere nur bruchstückhafte Wahrnehmung, doch alle gehören zu einem Ganzen. Der Begriff «Personen» erweckt fälschlich den Eindruck mehrerer Menschen in einem Körper. In der Traumatherapie sprechen wir daher von Persönlichkeitsanteilen oder dissoziativen Ich-Zuständen, achten aber darauf, dass Betroffene ihre eigenen Wörter wählen können.

Was sollten Aussenstehende wissen? DIS ist eine tiefgreifende Traumafolgestörung, keine Fantasie der Betroffenen. Es handelt sich um Menschen, die extreme Gewalterfahrungen erlitten haben. Sie brauchen Verständnis, Geduld und professionelle Hilfe.

Zum Schluss: Sieh hin, wenn es nötig ist Während der Recherche und beim Schreiben dieses Texts musste ich immer wieder tief ausatmen: vielleicht ein automatischer Reflex. Denn das Schlimme, das die Bonnies nie explizit benennen, bahnt sich trotzdem einen Weg in die Vorstellung, und womöglich versuchte mein Atem, dies wieder hinauszutragen.  

An dieser Stelle will ich nicht versuchen, Worte zu finden für das, was die Bonnies leisten, um mit ihren Traumata zu leben – und wie es mich beeindruckt, dass sie sich den Scheinwerfern der Öffentlichkeit aussetzen, um Nichtwissen und Misstrauen abzubauen. Sie tun dies, damit Betroffene früher erkennen können, was mit ihnen geschieht, und um es Täter*innen zu erschweren, andere zu traumatisieren. Worte reichen dafür nicht aus. Doch ich hoffe, dass die bisherigen Worte und das Puzzle, das sie zu legen versuchten, dir helfen, hinzusehen, wenn es nötig ist.

«Wie kann es sein, dass die Existenz der anderen so lange unbemerkt bleiben konnte? Genauso wie es möglich ist, dass Gewalt unbemerkt bleibt. Wenn Kinder nie lernen, was andere Menschen als «normal» definieren, werden sie Abweichungen nie wahrnehmen können. …] Dass jeder Mensch Stimmen hört, die innig mit einem diskutieren können, stand für mich ausser Frage. Zeitlücken? Wer ist denn nicht vergesslich? …] Wie soll Aussenstehenden etwas über mich auffallen, das mir selbst nicht auffällt?» Ami, Buch, S. 283  

Falls du noch Fragen hast, findest du die Antwort mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den informativen Social-Media-Kanälen der Bonnies – zum Beispiel auf Instagram: @diebonnies

Singer-Songwriter Laskaar, aufgewachsen als Kind spanischer Eltern im Kanton Aargau, lebt und arbeitet seit einigen Jahren zwischen Zürich und Madrid. Das hat damit zu tun, dass er auf spanisch schreibt und singt – aber nicht nur. Im Oktober erscheint endlich sein erstes Album (MANNSCHAFT-Story).

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