Pflegeeltern sein: Zwei Mamas und zwei Papas erzählen
Gleichgeschlechtliche Paare erzählen
Kevin und Josef, Alessandra und Marianne sind sich einig: Pflegeelternschaft ist eine echte Alternative für queere Paare mit Kinderwunsch. Wie sieht ihr Alltag aus? Wann zweifelten sie?
Kevin und Josef: «Das Kind stellt dein Leben auf den Kopf» An einem Dienstagnachmittag klappen Josef und Kevin ihre Computer auf: Kevin hat sich für das Interview aus dem Büro zugeschaltet – sein virtueller Hintergrund zeigt das Bild eines Krankenhauses.
Josef sitzt an einem Tisch, hinter ihm fällt Licht durchs Wohnzimmerfenster. Zwei Kinderköpfe schieben sich ins Bild. «Das sind Noel* und Olivia*», sagt Josef mit einem Lächeln, das verrät, wie verzückt er ist von diesen beiden Geschöpfen, die nun grossäugig in den Bildschirm schauen.
«Für uns fühlt es sich ganz normal an. Wir leben zusammen als Familie – und das sind wir auch»
Josef
Zwei Männer, zwei Pflegekinder – eine Familie: «Für uns fühlt es sich ganz normal an. Wir leben zusammen als Familie – und das sind wir auch», sagt Josef.
Kevin und Josef sind seit zwölf Jahren ein Paar und seit fast zwei Jahren Pflegeväter. «Wir mögen Kinder sehr. Eine Leihmutterschaft kam für uns nie infrage – vor allem aus ethischen, aber auch finanziellen Gründen», erklärt Josef.
Damals war eine Adoption noch keine Option, weil die «Ehe für alle» noch nicht galt. Auf das Thema Pflegekinder stiess Kevin durch Zufall. Ein guter Freund erzählte ihm von einem lesbischen Paar mit Pflegekind.
«Das war für mich ein Aha-Moment – es ist also möglich, auch als gleichgeschlechtliches Paar ein Pflegekind aufzunehmen.»
Kevin
«Das war für mich ein Aha-Moment – es ist also möglich, auch als gleichgeschlechtliches Paar ein Pflegekind aufzunehmen.» Gleichzeitig konnten sie Kevins Elternhaus übernehmen und renovieren – ein idealer Ort für eine Familie.
Eine Internetsuche führte sie zur Fachstelle Kinderbetreuung Luzern, die in der Zentralschweiz Pflegefamilien betreut. Kevin und Josef besuchten eine Infoveranstaltung. «Ich habe direkt gefragt: Ist es ein Problem, dass wir ein schwules Paar sind?», erinnert sich Kevin. «Sie haben sofort gesagt: Nein, warum auch?» Also bewarben sie sich.
Wie bei vielen Pflegeeltern kam es noch vor Ende der Schulung zur Aufnahme eines Pflegekindes. Im September 2023 kam die acht Monate alte Olivia zu ihnen, ein Jahr später folgte Baby Noel. «Zwar gibt es vorher eine längere Kennenlernphase, dennoch wird dir das Pflegekind eines Tages an der Haustür übergeben. Dann wird sie geschlossen. Und dann musst du schauen», sagt Josef.
«Es stellt dein Leben auf den Kopf. Im Gegensatz zur Schwangerschaft kommt ein Pflegekind plötzlich und der emotionale Bezug ist nicht sofort da»
Kevin
Während Mutter und Kind neun Monate lang verbunden sind und dabei eine Beziehung entsteht, lernen sich Pflegekind und -eltern später kennen. Das braucht Zeit. Für Kevin und Josef war es die sensibelste Phase – und die einzige, in der sie kurz zweifelten. «Es stellt dein Leben auf den Kopf. Im Gegensatz zur Schwangerschaft kommt ein Pflegekind plötzlich und der emotionale Bezug ist nicht sofort da», sagt Kevin.
Josef ergänzt: «Besonders am Anfang war es herausfordernd, das Pflegekind zu verstehen – was es brauchte oder wie man am besten darauf reagierte. Aber mit der Zeit wurde es einfacher.»
Im Alltag erleben sie kaum Ablehnung. Im Supermarkt bleibt höchstens mal ein neugieriger Blick an ihnen hängen oder ältere Leute stellen eine Frage. «Ich habe das Gefühl, in der Gesellschaft ist es mittlerweile normal. Auch bei uns im Dorf war das nie ein Thema. Im Gegenteil: Zum Einzugstag der Pflegekinder haben wir Willkommenskarten verschickt und bekamen Glückwünsche und Geschenke.» Kevin und Josef fühlen sich voll akzeptiert, auch wenn sie manchmal erklären müssen, dass es bei ihnen keine klassische Mami- oder Papi-Rolle gibt.
Im Fitnessstudio ist Kevin oft der einzige Vater, der ein Kind zur Kinderbetreuung bringt – sonst sind es Mütter. «Das zeigt, wie fest traditionelle Rollenbilder noch sitzen. Ich wünsche mir, dass mehr Frauen für ihre Gleichberechtigung einstehen.»
Für die Betreuung der Pflegekinder haben Josef und Kevin einen Grundsatz: Beide arbeiten Teilzeit – Josef 70 Prozent, Kevin 60 Prozent –, sodass immer mindestens einer von beiden zu Hause ist. Dank flexiblem Homeoffice können sie die Betreuung gemeinsam stemmen.
Am Anfang gilt: Wer ein Pflegekind aufnimmt, betreut es in den ersten zwei Jahren selbst. Nur gelegentlich dürfen Grosseltern oder enge Bezugspersonen helfen. Da die Kinder oft schon eine unruhige Vergangenheit mitbringen, brauchen sie diese Stabilität, bis sie richtig ankommen und sich zugehörig fühlen.
Das Pflegekind Olivia stammt aus schwierigen Verhältnissen. Ihre Mutter war über ihre Kräfte gefordert, kämpft mit Alkoholproblemen, und stimmte einer Aufnahme in eine Pflegefamilie zu.
«Der Kontakt zwischen uns ist sehr gut. Olivia besucht ihre Mutter alle zwei Wochen und wir feiern Geburtstage gemeinsam.» Noel ist ein Jahr jünger, seine Situation ist komplizierter. Hier spielen Drogen eine Rolle. Der Mutter wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht über ihr Kind entzogen. «Es ist schwierig, sie zu erreichen – sie hat kein Telefon, keine feste Adresse. Wir wissen oft nicht, ob ein geplanter Besuch tatsächlich stattfindet.»
«Ich bin immer auf zwei Gleisen unterwegs. Einerseits denkt ein Teil von mir egoistisch: Wenn es mit den Eltern nicht funktioniert, bleiben die Kinder wahrscheinlich bei uns. Andererseits weiss ich: Jedes Kind hat ein Recht darauf, seine Wurzeln zu kennen.»
Josef
Pflegeeltern zu sein, ist mehr als Fürsorge, es ist auch Enttäuschungen auszuhalten, wenn ein Besuch der Eltern nicht klappt. Kevin und Josef versuchen alles, um den Kontakt zur leiblichen Familie zu ermöglichen. Aber es ist auch ein Spagat, wie Josef offen sagt: «Ich bin immer auf zwei Gleisen unterwegs. Einerseits denkt ein Teil von mir egoistisch: Wenn es mit den Eltern nicht funktioniert, bleiben die Kinder wahrscheinlich bei uns. Andererseits weiss ich: Jedes Kind hat ein Recht darauf, seine Wurzeln zu kennen.»
Wenn es möglich ist, sollen Pflegekinder irgendwann zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren. Aber die Realität sieht oft anders aus. Fachstellen sagen, dass in der Mehrheit der Situationen eine Rückkehr nicht möglich ist. Die Kinder bleiben dann dauerhaft in der Pflegefamilie.
Kevin und Josef haben ihren Weg gefunden, damit umzugehen: «Für die Zeit, in der die Pflegekinder bei uns leben, wollen wir ihnen das Beste auf den Weg mitgeben, was wir ihnen geben können.»
*Namen der Pflegekinder geändert
Denkst du über eine Pflegefamilie nach?
Am 20. August 2025 von 19.30 bis 21.30 Uhr in Kriens führt die Fachstelle Kinderbetreuung Luzern eine Infoveranstaltung für Queers durch, dich sich für die Lebensform Pflegefamilie interessieren. Der Anlass richtet sich an Interessierte aus der Zentralschweiz. Melde dich hier an!
Wohnst du nicht in der Zentralschweiz? Dann wende dich an die für deinen Wohnort zuständige Fachstelle, z.B. zu finden beim Fachverband DAF Pflegekind (daf-pflegekind.ch) – in Deutschland an das örtliche Jugendamt und in Österreich an die Kinder- und Jugendhilfe deines Bundeslandes.
Alessandra & Marianne: «Wir sind nicht ‹nur› die Pflegeeltern» Als Alessandra mit dem Baby auf dem Schoss in den Bildschirm schaut, ist da gleich eine Ruhe spürbar. Hinter ihnen zeichnet sich ein Wohnraum ab, der nicht perfekt wirken will, was ihn so gelassen wirken lässt wie Pflegemama Alessandra und Baby Gabriel*. Ihre Partnerin Marianne wollte ursprünglich auch dabei sein, musste aber kurzfristig für eine erkrankte Lehrerin einspringen.
«Es gibt so viele Kinder, die ein Zuhause brauchen. Ich möchte denen ein Zuhause geben, die schon da sind.»
Alessandra
Marianne unterrichtet Vollzeit an einer Berufsschule. «Sie arbeitet unglaublich gern. Und ich bin unglaublich gern zu Hause», sagt Alessandra über die Rollenverteilung. Die Sozialpädagogin war früher auch berufstätig, stieg aber nach einer Krebserkrankung aus – heute ist sie mit ganzem Herzen Pflegemutter: «Es gibt so viele Kinder, die ein Zuhause brauchen. Ich möchte denen ein Zuhause geben, die schon da sind.»
Alessandra und Marianne waren das erste gleichgeschlechtliche Pflegepaar, das von der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern aufgenommen wurde – vor rund zehn Jahren. Anfangs herrschte bei der Fachstelle Unsicherheit, die sich in Vertrauen wandelte – auch dank Alessandra und Marianne, die den Weg ebneten für nachkommende gleichgeschlechtliche Pflegepaare.
«Mich nervt immer wieder, dass wir ‹nur› die Pflegeeltern sind. Dieses ‹Nur› möchte ich nicht hören.»
Alessandra
Im Dorf, in dem sie leben, sind die Menschen offen und freundlich. «Im Alltag spielt es keine Rolle, dass wir zwei Frauen sind. Die Leute sind eher interessiert, wie das funktioniert – zwei Mamas, Pflegekinder. Und wenn wir mit dem Baby unterwegs sind, dann heisst es oft einfach: ‹So ein süsses Kind!›, nicht: ‹Oh, zwei Frauen?›.» Doch es gibt ein Wort mit drei Buchstaben, das Alessandra nicht ausstehen kann: «Mich nervt immer wieder, dass wir ‹nur› die Pflegeeltern sind. Dieses ‹Nur› möchte ich nicht hören.» Das Wörtchen trifft den Kern: Pflegeelternschaft wird häufig als temporäre Fürsorge missverstanden. Dabei ist es für die Pflegekinder viel mehr – ihr sicherer Hafen, ihr (zweites) Zuhause.
Wie tief diese Bindungen gehen, zeigt ein Satz von Samuel*, dem älteren Pflegekind der Frauen: «Ich war bei einer anderen Mutter im Bauch. Aber ihr seid meine Mütter.» Für Alessandra und Marianne braucht Familie keine Biologie. Ihr Gefühl kommt aus dem Herzen, nicht aus den Genen.
Ich würde lieber mit anderen Menschen zu Mittag essen. Aber für Samuel ist das wichtig. In dem Moment bin ich Vollprofi und begleite einen Mutter-Sohn-Kontakt.»
Alessandra
Liebe, Wohlwollen und Zuwendung zwischen Pflegeeltern und Kindern schwellen über die Jahre zu grossen Gefühlen heran. Es bleibt ein Balanceakt zwischen emotionaler Nähe und schützender Distanz, zwischen Selbstschutz und Offenheit. Eine dieser Gratwanderungen sind die Besuche von Samuels leiblicher Mutter. «Ich würde lieber mit anderen Menschen zu Mittag essen», sagt Alessandra offen. «Aber für Samuel ist das wichtig. In dem Moment bin ich Vollprofi und begleite einen Mutter-Sohn-Kontakt.» Für die Sozialpädagogin ist klar: Wer die Herkunft der Kinder ausblendet oder sie als Konkurrenz empfindet, schadet ihnen. «Es bringt dem Kind nichts, wenn Pflegeeltern die leiblichen Eltern als Konkurrenz sehen.»
Während des Gesprächs wechselt Alessandra immer wieder die Position, steht auf, setzt sich, steht auf, setzt sich. Wenn dem kleinen Gabriel langweilig wird und er ein kurzes Quietschen von sich gibt, schaukelt sie das Baby, wortwörtlich. «Sobald Gabriel schläft, lese ich ein Buch. Oder ich mache ein doofes Game auf dem Handy. Oder ich höre einen Podcast. Manchmal sind das dreimal am Tag 20 Minuten. Und manchmal zweimal am Tag eineinhalb Stunden. Je nachdem, wie es dem kleinen Murzli geht.»
Sie und Marianne sind stolz auf das, was sie gemeinsam schaffen. «Ich glaube, dass wir mit Gabriel immer wieder einen Weg finden – für ihn, für uns als Paar und als Individuen.» Beide haben sich feste Freiräume geschaffen: «Unser Kaffee am Montagmorgen ist uns heilig», sagt Alessandra.
Bevor Gabriel aufwacht, liest Marianne manchmal ein halbes Stündchen, Alessandra bastelt, backt oder sitzt einfach still. Es sind diese ruhigen Inseln, auf denen sie gern weilen – sie müssen nicht mehr überall dabei sein. «Theater und Musical, all das brauchen wir nicht mehr. Das haben wir zur Genüge erlebt.»
Auf die Frage, was Alessandra ihrem jüngeren Ich gern ins Ohr flüstern würde, antwortet sie: «Vertraue in das Leben und in deine Fähigkeiten.» Wie sie währenddessen so da sitzt mit Gabriel auf dem Schoss, ist klar: Ihr gegenwärtiges Ich hat diese Botschaft längst verinnerlicht. Zum Schluss sagt sie: «Ich wünschte mir von Anfang an so fest ein Baby. Und siehe da.»
*Namen der Pflegekinder geändert
Queere Geschichte ist nicht nur eine Erzählung von Leid und Unterdrückung, sondern auch von Liebe und Widerstand. Der 28-jährige Can und der 62-jährige Andreas blicken aus zwei Perspektiven auf eine Geschichte, die noch lange nicht auserzählt ist (MANNSCHAFT-Story).
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