Bushaltestelle, Becher, Baby – Wie eine Regenbogenfamilie entsteht
Franziska und Jakob über ihr gemeinsames Leben als Eltern
Franziska und Jakob alberten herum, als sie in Riga auf den Bus warteten und sich sagten: «Wenn wir bis 35 keine Partner haben, tun wir uns zusammen.» Was als Scherz begann, heisst heute Helena Lotte.
Gestern sind Franziska und Jakob an der polnischen Ostsee angekommen, um mit ihrer neunmonatigen Tochter Helena Urlaub zu machen. Es ist zehn Uhr an einem sommerlichen Mittwoch. Helena schreit. Das Angebot, das Video-Interview deswegen um ein paar Minuten zu verschieben, winkt Jakob weg.
«Nicht nötig, Helena bekommt jetzt ihre Flasche; die ist ihr liebstes Kuscheltier. Erst trinkt sie daraus, dann herzt sie die Flasche und ist wieder zufrieden.» Während Jakob dies erzählt, verschwindet Franziska mit Helena aus dem Bildschirm. Unvermittelt wird es ruhig.
Als Franziska ins Bild zurückkehrt und sich neben Jakob auf das Sofa setzt, beginnt ein einstündiges Gespräch, in dessen Mitte beide schmunzeln müssen, weil sie sich für einen Moment in einer Paartherapie wähnen.
«Lass es uns zusammen machen» Alles begann 2014 in Riga. Franziska und Jakob verbrachten einen Teil ihres Medizinstudiums in Lettland und warteten gerade auf den Bus Richtung Uni. Im Spass sagten sie zueinander: «Wenn wir bis 35 keine Partner haben, tun wir uns zusammen.»
«Hey, bevor du allein Mama wirst, lass es uns zusammen machen.»
Jakob
2020 trennte sich Franziska von ihrem damaligen Freund wegen der Kinderfrage. «Er wackelte ständig hin und her. Aber das Thema war mir zu gross, um es von einem Mann abhängig zu machen», sagt Franziska. Deshalb setzte sie sich mit einer Solo-Mutterschaft auseinander und erzählte Jakob von ihren Plänen. Seine Reaktion: «Hey, bevor du allein Mama wirst, lass es uns zusammen machen.»
Endgültig bereit dafür war Franziska erst, nachdem ihre Eltern wohlwollend und unterstützend auf ihr Vorhaben reagiert hatten. «Ich habe mit beiden ein enges Verhältnis und wollte, dass sie dahinterstehen.» Es war am 1. November 2021, als Franziska die entscheidende Nachricht an Jakob schrieb: «Wir werden Eltern. Ich bin jetzt so weit.»
Der zweite Versuch mit der Bechermethode schlug ein: Jakob stellte für Franziska Samen in einem Becher bereit, den sie über eine nadellose Spritze einführte. Die Hebamme, die Helena mit auf die Welt half, flüsterte Franziska im Kreissaal zu, dass sie vor 25 Jahren auch mit einem schwulen Freund ein Kind bekam. Ein Zufall, der in seiner Grösse magisch auf die frischen Eltern wirkte.
Doch nicht alle Begegnungen mit anderen Menschen waren zugewandter Natur: Während die über Fünfzigjährigen eher locker reagierten – «sie haben wohl schon mehr vom Leben gesehen und Rosenkriege miterlebt», erklärt es sich Franziska – sind es eher vereinzelt Jüngere und Gleichaltrige, die irritiert bis empört reagierten.
Eine junge Mutter etwa fragte die noch schwangere Franziska auf einer Feier, wie sie sich denn vorstelle, duschen gehen zu können. «Ich bin zwar im Alltag in Hamburg allein mit Helena, aber bisher habe ich mich nur ein Mal überfordert gefühlt, als ich 40 Grad Fieber hatte. Ich habe es selbst so gewählt und mir einen Traum erfüllt. Ich bin nicht enttäuscht oder traurig, weil ich meinen Partner verloren habe oder er mich nicht unterstützt.»
Jakob übernimmt im Alltag noch keinen aktiven Part, Franziska ist mit Helena allein in Hamburg, aber den ersten Monat war er bei ihnen im Rahmen der Elternzeit; er ruft jeden Tag an und wird die Kita-Eingewöhnung im Herbst übernehmen. Dann ziehen Franziska und Helena zu Jakob in die Nähe von Berlin in eine eigene Wohnung. Ab dann wird sich ihr aller Alltag ändern.
Vorbereitend beschäftigen sie sich mit den Themen Leih-Oma und Babysitting. «Wir wissen, dass die Care-Arbeit hochintensiv werden wird. Zum Glück haben wir eine Kita gefunden, die bis 21 Uhr geöffnet hat, damit wir unsere Schichtpläne im Krankenhaus unter einen Hut bekommen. Und unser Vorteil ist, dass wir beide keine romantische Beziehung aufrechterhalten müssen.»
«Bist du sicher, dass er bleibt?» Aus dem anfänglichen Samenspenderangebot von Jakob entwickelte sich über die Zeit ein Co-Parenting-Konzept, also ein Familienmodell, bei dem sich Menschen für eine verabredete Erziehungspartnerschaft ohne klassische Paarbeziehung entscheiden.
«Mit Jakob habe ich einen stabileren Partner als in meinen bisherigen Beziehungen und ich wollte nicht in die Falle tappen, am Ende mit irgendjemandem ein Kind zu bekommen, nur weil ich eines möchte», sagt Franziska.
Aus dem Umfeld kamen auch Fragen wie «Bist du dir sicher, dass er bleibt?». Franziska sagt dazu: «Es gibt dieses generelle Misstrauen gegenüber Männern bei diesem Thema und diese Zweifel von aussen hätten in mir nagen können, wenn ich mir im Inneren nicht sicher gewesen wäre. Aber ich bin mir seiner Zuwendung sicher.» Jakob: «Wir vertrauen uns hundert Prozent und wissen, dass wir miteinander sicher sind.»
Woher nehmen beide das Vertrauen ineinander, dass ihr Familienkonzept den Irrungen und Wirrungen des Lebens standhalten wird? Nach dieser Frage strahlt die Stärke ihrer Freundschaft selbst durch den Handybildschirm bis auf die andere Seite: Es ist ein ihnen eigener Mix aus sachlicher Verbindlichkeit, ruhendem Vertrauen und unaufgeregter Offenheit.
Rund um Regenbogenfamilien
Eine Regenbogenfamilie ist eine Familie, in der eins oder mehrere Elternteile nicht heterosexuell und/oder cis-geschlechtlich sind oder in der sich zwei oder mehr Personen zusammentun, die nicht ineinander verliebt sind, um gemeinsam ein Kind aufzuziehen.
Anlaufstellen In der Schweiz ist der Dachverband Regenbogenfamilien in Zürich eine Anlaufstelle, in Österreich der Verein Famos Regenbogenfamilien in Wien. In Deutschland bietet die Seite regenbogenkompetenz.de einen Überblick über die Beratungsangebote. Bei Familyship findest du eine der grössten deutschsprachigen Kinderwunsch-Communities im Bereich moderner Familienmodelle.
Diskussionsabend für schwule Männer Am 30. November findet ab 18:15 Uhr im Regenbogenhaus in Zürich ein Diskussionsabend über den Kinderwunsch schwuler Männer statt, interaktiv gestaltet und mit Vertretern verschiedener Familiengründungsformen wie Co-Elternschaft, Leihmutterschaft, Adoption und Pflegekind aus schwulen Perspektiven vorstellen. Anmeldung: Schicke bis 15. November eine E-Mail an [email protected] mit der Anzahl der Personen und erzähle in zwei bis drei Worten, warum du dich für diesen Anlass interessierst.
«Helenas Wohl steht über allem» Ihre Verbindlichkeit in der Sache haben beide in einem informalen Vertrag festgehalten: Das Sorgerecht ist zu hundert Prozent bei Franziska, Jakob erkennt die Vaterschaft an und ist in der Geburtsurkunde eingetragen. Jakob beteiligt sich zur Hälfte an allen grossen Ausgaben wie Ausstattung, Kindergartenkosten und Sparplan. Jakob bezieht zwei der vierzehn Monate Elternzeit und verbringt sie mit Helena. Alle klinischen Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft werden gemacht.
Doch selbst, wenn sie grosse Themen verbindlich abgesteckt haben, geht nichts ohne Vertrauen. Beide hätten theoretisch genügend Spielraum, einen Egotrip zu fahren. Zum Beispiel könnte Jakob als Vater die Hälfte des Sorgerechts fordern oder Franziska könnte von ihm Zusatzzahlungen einfordern. «Wir beide haben uns einander das Vertrauen ausgesprochen, dass wir immer wertschätzend miteinander umgehen», sagt Franziska.
«Ich bin als Kind in einer Patchwork-Familie aufgewachsen und weiss, wovon ein Kind profitieren und gleichzeitig auch Schaden nehmen kann. Diese Erfahrung wird Jakob als Papa immer schützen, selbst wenn ich einen Mann kennenlernen sollte, der mit mir eine Bullerbü-Familie will. Das Wohl Helenas steht in jedem Fall über allem.»
Diesem Vertrauen gehen zehn Jahre Freundschaft voraus, aus denen beide Sicherheit schöpfen: Jakob, weil er weiss, wie verlässlich Franziska ist, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, und Franziska, weil sie um die Beständigkeit ihrer Beziehung weiss, selbst wenn beide in unterschiedlichen Städten wohnen. «Wir haben über Jahre hinweg einander unterbewusst zugesehen, wie wir mit anderen Menschen umgegangen sind, und wir wissen, dass keine*r von uns einfach etwas sagt, damit es jetzt gut klingt, um sich später nicht mehr daran zu halten», sagt Franziska.
Schlussendlich eint beide eine zementierte Zuversicht, über alles reden zu können, auch über die schwierigen Themen. Was, wenn jemand umziehen möchte oder Partner ins Spiel kommen? «Solche Themen sind zu komplex und es besteht die Gefahr, dass wir sie vorher zu sehr besprechen. Wenn wir uns heute darauf einigen würden, dass wir nie umziehen, geben wir uns bloss das Gefühl, angekettet zu sein. Stattdessen erkennen wir an, dass es ein schwieriges Thema wird, das wir offen und kritisch miteinander besprechen werden», sagt Franziska.
«Ich möchte etwas zurückgeben» So einig, sicher und offen Jakob und Franziska miteinander sind, so unterschiedlich sind sie: Während Franziska mit ihrem Familienmodell stolz umgeht, es geradeaus dem traditionell-familienorientierten Chefarzt erzählt und sogar Lust am Provozieren verspürt, so tickt Jakob zurückhaltender. Nur ein paar Freunde und zwei Personen bei der Arbeit wissen Bescheid – die nahe Familie ist verstorben.
«Ich habe nicht das Bedürfnis, meine Lebensgeschichte mit jeder Person zu teilen. Dass ich unsere Geschichte jetzt bei MANNSCHAFT öffentlich mache, ist eigentlich ein Paradoxon.» Auf die Frage, warum er sich dennoch bei der Redaktion meldete, antwortet er: «Ich habe das Magazin seit meinem Studium abonniert und die tiefgründigen Geschichten fernab der schillernden, oberflächlichen schwulen Blase geschätzt. Mir hat es immer etwas gegeben, wenn sich die Menschen geöffnet haben auf einer Ebene, die mir im Alltag fehlt. Nun möchte ich etwas zurückgeben und mit unserem persönlichen Einblick für die Sichtbarkeit von Regenbogenfamilien tun.»
Franziska und Jakob sind unterschiedlich, mal lauter oder leiser, mal strukturierter oder intuitiver. Doch beide blicken gleich in die Welt – als Vertraute, die Eltern wurden. Morgen schwingen sie sich auf die Räder, setzen Helena in den Anhänger und fahren ihrer Zukunft entgegen – und weht zwischendurch ein Gegenwind, blinzeln sie, klären ihren Blick, in dem Vertrauen liegt, in sich und das Kind.
Im Bildschirm tauchen grosse Kulleraugen auf, Helenas Körperchen nähert sich der Kamera, so dass Mama und Papa hinter ihr verschwinden; nur deren Hände erscheinen übergross, wie sie ihr Töchterchen stützen und halten.
Möchtest du dich mit Helena und Jakob über ihre Erfahrungen austauschen, hast du Fragen oder wünschst dir Tipps, melde dich gerne per E-Mail an: [email protected]
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