«Not Just A Trend» – Die Hamburger Kunsthalle zieht queer
Ein Museum wird zum «Safe Space»
Queere Kultur gehört nicht ins Museum? Doch – genau dorthin. Die Hamburger Kunsthalle begeistert Publikum und Presse mit Drag-Führungen, queeren Salons und Community-Arbeit.
Sie verkörpert so etwas wie die «Gute Stube» Hamburgs: die altehrwürdige Kunsthalle. Zwischen Binnen- und Aussenalster gelegen, unweit der feinsten Adressen der Stadt, ist sie vor allem eines – eine hochgeschätzte Institution im Kunstbetrieb.
Im nunmehr dritten Jahr hat sie ein umfangreiches queeres Angebot in ihr Programm integriert, das Besucher*innen und Medien in Scharen anzieht. Ein Blick auf Konzept und Entstehungsgeschichte zeigt, warum dieses Format so erfolgreich ist und welches Potential es als Leuchtturmprojekt für andere Kultur- und Gesellschaftseinrichtungen birgt.
Das Herzstück und seine Teile Das Herzstück des queeren Programms bilden mehrere Formate. Dazu gehören dialogische Führungen unter dem Titel «We’re Not Just A Trend: Kunst war schon immer auch queer». Sie greifen queere Perspektiven in der Kunstgeschichte auf und machen sie sichtbar.
Auch die Reihe «Queere Visionen» setzt hier an: Sie beleuchtet den queeren Blick auf die Kunst, zeigt queere Ästhetiken und wie diese die Wahrnehmung beeinflussen, Vielfalt und gesellschaftlichen Wandel fördern. Fragen nach Geschlechterrollen, ihren historischen Wandlungen, dem Konzept von Binarität oder der Androgynisierung ikonischer Kunstfiguren werden mit den Besucher*innen diskutiert.
Ausgesprochen beliebt sind die Drag-Führungen. Wechselnde Drag-Artists führen durch die Hamburger Kunsthalle und bieten einen aussergewöhnlichen und überraschend neuen Blick auf wohlbekannt geglaubte Werke, der lange nachwirkt. Diese Events verbinden eine politische und aktivistische Aussage mit der Freude am Kunstgenuss. Denn Kunst darf und soll eben auch Spass machen!
Eine weitere Säule sind die Salon-Veranstaltungen, die jeden vierten Donnerstag im Monat Gäste zu aktuellen LGBTIQ-Themen einladen. Das Programm reicht von Lesungen, Vorträgen über Konzerte und Diskussionen bis hin zu Performances, Workshops oder Ballroom Sessions. Besonders wichtig sind diese Salon-Veranstaltungen für junge queere Künstler*innen, da sie ihnen eine Bühne in einer angesehenen Institution bieten, die Reichweite für ihre Arbeit schafft, Wertschätzung vermittelt, Kontaktaufnahmen und Networking ermöglicht. In Zeiten, in denen Kulturförderung oft mit der Kettensäge gestutzt wird, eine unschätzbare Form der Unterstützung.
Aus der Community, für die Community Was aber macht die queere Angebotspalette der Hamburger Kunsthalle derart erfolgreich? Die Veranstaltungen sind oft auf Wochen, teils Monate im Voraus ausgebucht. Verschiedenste Medien aus Print, Radio und Fernsehen geben sich zeitweilig die Klinke in die Hand. Der Schlüssel zum Erfolg dürfte die Authentizität sein. Anders als viele «queere» Programme, die von PR-Agenturen inszeniert werden und sich mitunter im Hissen der Regenbogenflagge zum CSD erschöpfen, kommt das Angebot der Hamburger Kunsthalle aus der Community – und richtet sich an die Community.
Es lebt vom echten Austausch auf Augenhöhe mit den Besucher*innen. Initiiert wurde das queere Angebot von Jenny Saitzek. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Bildung und Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle und dort zuständig für die Bereiche Kita und Grundschule, Outreach und Inklusion sowie eben auch queere Vermittlungsformate. Seit November 2022 gehört sie dem Vorstand von Hamburg Pride e.V. an, dem veranstaltenden Verein des Hamburger CSD. Zunächst verantwortete sie dort die Bereiche Veranstaltungen und Projektförderungen, bevor sie 2024 zur Co-Vorsitzenden gewählt wurde.
«Die Hamburger Kunsthalle liegt an der Route des CSD. Das hat bei mir die Frage aufgeworfen: Wie kann das Haus Teil davon werden? »
Jenny Saitzek
Auf die Frage, ob ihre persönliche Vita oder das berufliche Interesse ausschlaggebend für die Entwicklung des queeren Angebots war, antwortet Jenny Saitzek: «Tatsächlich beides! Als ich im Haus begann, kannte ich den CSD bereits gut, war Teilnehmende und mir fiel auf: Die Hamburger Kunsthalle liegt an der Route des CSD. Das hat bei mir die Frage aufgeworfen: Wie kann das Haus Teil davon werden? Wie kann es auch den benachbarten Stadtteil St. Georg unterstützen sowie die Region um die Innenalster und die Neustadt – alles Orte mit queerer Geschichte. Und in der Kunsthalle selbst befinden sich zahlreiche Kunstwerke mit queeren Bezügen. Es war an der Zeit, diese Bezüge öffentlich sichtbar zu machen.»
Wie wertvoll konsequente queere Kulturarbeit ist, gerade heute, zeigen die Reaktionen nach den Veranstaltungen. Jenny erhält viele E-Mails und Rückmeldungen, in denen Besucher*innen berichten, sie fühlten sich in der Kunsthalle erstmals als Mensch gesehen, befreit zu sprechen, ohne belächelt zu werden, ernst genommen. Die Hamburger Kunsthalle entwickle sich für viele zu einem «Safe Space». «Wir haben uns inzwischen eine Fan-Base aufgebaut», sagt Jenny. «Viele kommen immer wieder, kaufen sich eine Jahreskarte, um keine Veranstaltung zu verpassen. Sie bringen auch Freund*innen mit, aus Hamburg oder ganz Deutschland.» Dieser wachsende Rückhalt ist mehr als ein lokaler Erfolg: Er macht die queeren Programme der Kunsthalle zu einem Leuchtturm, der über Hamburg hinaus strahlt.
Die Strahlkraft und das Zusammenrücken Andere Museen und Kulturinstitutionen werden aufmerksam. Immer häufiger erreichen das Haus Anfragen wie: «Wie habt ihr das gemacht?» Sie wollen wissen, was es für eine erfolgreiche Umsetzung braucht, nicht nur als gelegentliches Event, sondern als festes Angebot. Genau hier liegt einer der Gründe.
Jenny berichtet, dass es dem Haus von Beginn an wichtig war, nicht einfach ein queeres Format zu testen und es dann wieder zu lassen, sondern das Angebot zu verankern und auszuweiten. Mittlerweile finden seit drei Jahren pro Monat drei Veranstaltungen statt. Damit bietet die Hamburger Kunsthalle der queeren Community eine Bühne und die Anfragen von queeren Kulturschaffenden häufen sich, die für eine Salon-Veranstaltung zusammenarbeiten wollen.
Mit Blick auf die aktuelle, auch politische Situation gehe es Jenny auch darum zusammenzurücken und weitere queere Kooperierende mit ins Boot zu holen – wie das Phönix Festival oder Synergien zum «QueerHistoryMonth». Und: Vom 26. Juli bis 3. August findet die Pride Week statt, die den Hamburger CSD vom 2. August einrahmt. Den Auftakt bildet ein Salon, gefolgt von queeren und Drag-Führungen, solchen für Regenbogenfamilien, einer Drag-Kinderbuchlesung und weitere Veranstaltungen. Dies alles auch zu fairen Konditionen, wie Jenny betont, damit jede Person, die kommen möchte, sich den Besuch auch leisten könne.
Mehr als Symbolpolitik Ohne die volle Unterstützung der Kunsthalle wäre das alles nicht denkbar, betont Jenny. Es brauche diese Grundhaltung des voll und ganz Dahinterstehens, und zwar nicht nur während des CSD. Entscheidend sei darüber hinaus der enge und ehrliche Austausch mit der Community. Gerade im Kontext aktueller Diskussionen um «Pinkwashing» müsse man zeigen, dass es ehrlich sei, was man mache: nicht nur eine Regenbogenflagge zum CSD hissen, sondern das queere Angebot übers Jahr auszuweiten und informativ zu unterfüttern. Ein Beispiel: Zur Pride Week tragen Mitarbeitende «Pride»-Buttons – und zuvor sensibilisiert sie eine interne Schulung dafür, was sich hinter dem Begriff Pride verbirgt.
Was als gezielter Versuch begann, queere Communities stärker für die Kunsthalle zu interessieren, hat längst eine Eigendynamik entwickelt. «Es kommen nicht nur Mitglieder queerer Communities, sondern auch viele Allies, ein jüngeres Publikum sowie ältere Besucher*innen, die sonst nie auf die Idee kämen, eine Drag-Show zu besuchen.» Gerade der museale Rahmen senke Schwellenängste. Menschen erleben dadurch erstmals queere Kunstformen. Und auch innerhalb der Community erfüllt das Angebot eine wichtige Funktion: In Zeiten zunehmender Fraktionierung wird hier aktiv Allyship gelebt. Alle Buchstaben von LGBTIQ finden einen Raum, in dem Austausch auf Augenhöhe möglich ist.
Wertschätzung beginnt mit fairer Bezahlung Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die hohe Professionalität, mit der die queeren Formate umgesetzt werden. Für Jenny ist es kein Ehrenamtsprojekt. Drag ist Kunst mit Aufwand, mit Anspruch. Und das verdient faire Honorare. Gleiches gelte auch für die Guides. Am Ende des Tages seien dies alles wichtige, ernst zu nehmende Jobs, die auch strukturelle Anerkennung verdienen würden.
Diese Haltung führt auch zu grundlegenden Fragen an die Institution Museum. Warum braucht es separate queere Angebote? Bei der Planung von Ausstellungen queerer Künstler*innen wird häufig infrage gestellt, ob ihre Identität überhaupt thematisiert werden sollte. Doch queere Menschen sind längst nicht überall sichtbar oder gleichberechtigt. Umso dankbarer zeigt sich Jenny der Hamburger Kunsthalle gegenüber, die gerade jetzt queere Perspektiven stärkt.
Die Nachfrage gibt ihr recht: Die Veranstaltungen sind in der Regel weit im Voraus ausverkauft. Medien berichten bundesweit. Alles Zeichen dafür, dass hier zur richtigen Zeit das richtige Angebot etabliert wurde. Zukünftig sollen vor allem Kooperationen mit queeren Künstler*innen weiter ausgebaut werden.
«Was wir in der Hamburger Kunsthalle erreicht haben, sollte überall möglich sein.»
Jenny Saitzek
Das Konzept der Drag-Führungen wurde inzwischen auch von anderen Häusern übernommen, berichtet Jenny. Sie wünscht sich jedoch, dass das Angebot nicht plakativ auf Drag beschränkt bleibt. Auch Kooperationen über Haus- und Stadtgrenzen hinweg seien denkbar. Denn letztlich gehe es darum, die Sichtbarkeit langfristig zu sichern, queere Kultur aus der Nische zu holen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Jennys Fazit: «Was wir in der Hamburger Kunsthalle erreicht haben, zeigt: Es ist möglich, Grenzen zu überwinden. Und es sollte überall möglich sein.»
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