Nach der HIV-Diagnose sagte der Arzt: «Zwei Jahre hast du noch Zeit»
«Growing Wild» porträtiert Hardy aus Berlin
40 Jahre mit HIV leben und überleben, das ist schon ein Grund zu feiern – auch wenn die Diagnose Hardy einst seine Karriereträume zerstörte. Nun erzählt ein Film die Geschichte des 78-Jährigen.
Nach dem HIV-Test war seine Karriere vorbei, dachte der Wahl-Berliner. Sein Leben aber ging weiter, während sein Partner und viele Freunde um ihn herum starben ...
«Growing Wild» ist die neue Videoarbeit des britischen Künstlers Rob Crosse, der seit einigen Jahren in Berlin lebt. Sein 24-Minuten-Film porträtiert fünf Bewohner*innen aus vier Generationen des Wohnprojekts Lebensort Vielfalt am Südkreuz, eines der ersten und grössten generationenübergreifenden LGBTIQ-Wohnanlangen Europas. Der Film betrachtet den Alltag in dieser Anlage und soll dazu anregen, die Prämissen solcher Initiativen zu hinterfragen, die Verantwortung für die Schaffung und Pflege dieser sozialen Ökosysteme zu übernehmen und zu ergründen, wie sich diese bewusst gestalteten Wohnformen auf das Wohlbefinden der Bewohner*innen auswirken.
Der Film rückt die Geschichten ausgewählter Bewohner*innen des Berliner Wohnprojekts und die Beziehungen, die sich in ihrem gemeinsamen Wohnraum entwickeln, in den Vordergrund. Sie will zudem, so Crosse, die historischen und gegenwärtigen kulturellen und politischen Kräfte untersuchen, die queere Gemeinschaften innerhalb und ausserhalb der Mauern der Wohnanlage prägen.
Crosses Arbeit basiert auf einem dokumentarischen Ansatz, greift aber mitunter auch fiktionale, abstrakte und poetische Elemente auf und passt sich dem Rhythmus und den Routinen der Menschen in dem Wohnprojekt an. Zu den miteinander verwobenen Geschichten gehört die des 78-jährigen Hardy, der seit 40 Jahren mit HIV lebt. Er folgt seinen täglichen Ritualen und reflektiert dabei die sozialen Vorurteile, denen LGBTIQ-Communitys in den 1980er-Jahren ausgesetzt waren, aber auch die sich wandelnde medizinische und kulturelle Landschaft, die sein Leben mit dem Virus geprägt hat.
Hardy, aufgewachsen in einem Dorf im Süden von Rheinland Pfalz, erinnert sich im Gespräch mit MANNSCHAFT an eine Unterhaltung im Gemeinschaftsraum des Lebensortes, bei der es um das Thema Geburtstage feiern ging. Ein Mitbewohner war gerade 80 geworden. «Normalerweise gehe ich nicht zu Geburtstagsfeiern, weil ich meinen Geburtstag nicht mehr feiere. Ich feiere jeden Tag», sagt Hardy. «Dann fiel mir ein: 40 Jahre HIV – das wäre eine runde Sache.»
Hardy, mit dem der Film beginnt –, die Kamera beobachtet ihn morgens beim Aufstehen und beim Duschen im Bad –, arbeitete damals im Vertrieb von Siemens und wollte nach seiner Station in Saudi-Arabien nach China wechseln. Dafür war ein negativer HIV-Test erforderlich. Also liess er sich im Berliner Drogeninstitut testen und fand heraus: Er ist HIV-positiv. «Da war meine Karriere zu Ende. Ich wollte doch in Ausland Karriere machen, ich wollte die Welt geniessen, die Männer der Welt geniessen.» Der Arzt, der ihn damals in Deutschland betreute, sagte zu Hardy: «Zwei Jahre hast du Zeit bis zum Sterben.»
Sein Partner liess sich damals ebenfalls testen, auch sein Testergebnis war positiv. «Nun hatte ich in Saudi-Arabien einen jungen Mann aus Bangladesch kennengelernt,» erzählt Hardy. Als er 1986 zurück nach Deutschland ging, holte er diesen jungen Mann aus Bangladesch nach Deutschland und machte ihn zu seinem Adoptivsohn. «Ich dachte, der pflegt uns zu Tode.»
Doch es kam anders: «Mein Mann und er haben sich nicht vertragen, also habe ich eine Einkunftswohnung gekauft, damit der Bangladeschi hier eine Bleibe hat, wenn ich nicht mehr bin.»
Hardy erinnert sich, wie er mit seinem Mann auf dem Höhepunkt der Aids-Krise in die schwulen Kneipen Berlins ging und das Sterben ringsum mit schwarzem Humor kommentierte: «Guck mal, früher haben wir die Leute abgeschleppt, jetzt werden wir zu ihren Beerdigungen eingeladen.»
Dann starb erst Hardys Partner im Jahr 1990. Hardys Adoptivsohn aus Bangladesch hat sich auch infiziert und ist zwei Jahre später gestorben.
Hardy sagt über sich selbst: «Ich bin kein Mensch, der alleine leben mag.» Über eine Anzeige hat er später einen japanischen Studenten kennengelernt, mit dem er dann zusammen war. «Wenn uns jemand fragte, wie lange kennt ihr euch, dann sagte der Japaner in seiner trockenen Art: ,Seit 6 Beerdigungen'.»
In diesem Jahr nun liegt Hardys HIV-Test 40 Jahre zurück – und Rob, der Videokünstler, ist dieses Jahr 40 geworden. Über seine Beweggründe für den Film sagt er: «Ich identifiziere etwas in Hardy, das auch in mir ist: Ich bin viel später geboren, aber der Schatten aus dieser Zeit spielte noch immer eine Rolle. Es führte dazu, dass ich als junger Mann viel Scham hatte und dachte, Sex bedeutet Tod. Insofern ist HIV auch ein Teil meiner Geschichte.»
Für sein Projekt filmte er ein Gespräch mit Hardy. Es ging um das Jahr 1985 und den positiven HIV-Test. «Ich wusste, dass ich irgendwann im Sommer drehen würde und fragte ihn: Wirst du dieses 40-Jahre-HIV feiern? Da hat er gesagt: ,Eigentlich war das ein Witz.'» Aber das liess ihm der Filmemacher nicht durchgehen.
Und so kam es doch noch zu einer kleinen Feier, mit einer Torte mit rosa Tortenguss, dekoriert mit einem silbernen Cake Topper mit einer «40».
Dass er diesen Tag erleben durfte und noch viele weitere danach, ist ein Glück, aus vielen Gründen. Hardy weiss das. «Im Moment ist die Lage dramatisch, weil viele Hilfsgelder gestrichen werden etwa, für Afrika, wo sich die Menschen die Medikamente gar nicht leisten können», sagt er (MANNSCHAFT berichtete).
Wenn er sich seine Medikamte aus Apotheke holt, kommt der Apotheker extra aus seinem Büro, er kennt Hardy längst mit Namen. «Ich zahle da 7000, 8000 Euro alle drei Monate.» Das Geld bekommt der privat versicherte Hardy später von der Versicherung zurück.
Dank diesen Medikamenten ist er noch am Leben und das will er geniessen, so lange es geht. «Ich will es nicht so hoch aufhängen, es ist keine Meditation oder kein Mantra. Aber ich sitze abends auf meiner Bettkante und sage mir: ,Mensch, war das wieder ein toller Tag!'»
«Growing Wild» von Rob Crosse ist noch bis 22. Februar 2026 im Studio Auto Italia in Bethnal Green, London, zu sehen.
Die 4. Staffel ist fertig, mit zwei neuen queeren Köpfen bei «Ku'damm 77» – Durch Diversität wird niemandem etwas weggenommen (zum MANNSCHAFT-Interview).
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