Pride-Protest in Budapest: «Keine Menschen zweiter Klasse!»
Eindrücke vom grössten CSD, den die Stadt je erlebt hat
Viktor Orbán liess die Pride in Budapest verbieten (MANNSCHAFT berichtete) – und trotzdem demonstrierten Hunderttausende. Der 28. Juni wurde zu einem historischen Tag für die queere Gemeinschaft Ungarns.
«Wir sind sehr nervös, aber wir wussten, dass wir kommen müssen», sagt Emese Alter.
Die queere Aktivistin macht sich bereit für die eigentlich verbotene Pride von Budapest. Hier, in den Räumen von Ungarns ältester LGBTIQ-Organisation, der Háttér-Gesellschaft, mischen sich Spannung und Vorfreude. Alter und die anderen Aktivist*innen schminken sich gegenseitig, greifen zu Eyeliner, Glitzer und Regenbogen-Farbstiften.
Ein Aktivist trägt ein T-Shirt mit der bunten Aufschrift «Born this way», und wirkt erfreut über das Lied «Sweet Dreams» von Eurythmics, das gerade aus den Lautsprechern erklingt.
«Meine grösste Sorge sind die Nazis», sagt Alter, die sich seit vier Jahren bei Háttér arbeitet. Sie weiss, dass mehrere Gegendemonstrationen von Rechtsextremen angekündigt wurden. Doch sie ist vorbereitet: Für den Fall, dass die Polizei Reizgas einsetzt, hat sie eine Schwimmbrille dabei, wie sie sagt. Das sei nur eine von vielen Schutzmassnahmen. Gegen das Gefühl der Unsicherheit lässt sich weniger unternehmen – trotzdem zeigt sich Alter zuversichtlich: «Es wird die grösste Pride sein.»
Gegen diese Aktivist*innen und den Rest der queeren Community geht Ungarns Premierminister Viktor Orbán zunehmend vor wie Wladimir Putin: 2020 setzte er ein Adoptionsverbot für Homosexuelle durch und beendete die Anerkennung von trans Personen und inter Menschen. Ein Jahr später verbot seine Regierung die Darstellung von Homosexualität und Transidentität.
Im vergangenen Frühling folgte der nächste Schritt: Demonstrationen der queeren Gemeinschaft – und damit die Pride – wurden nach einer Verfassungsänderung illegal, die Polizei soll sie unterbinden. Der vorgeschobene Grund: Kinderschutz. Für Teilnehmer*innen drohen Geldstrafen von bis zu 500 Euro.
Doch am Nachmittag zeigt sich auf dem Rathausplatz von Budapest, dass Orbán diesmal wenig Erfolg hat. Kurz vor Beginn des Umzugs ist der Platz mit Tausenden Menschen gefüllt. Unter blauem Himmel tragen sie bunte Outfits, manche schützen sich mit farbenfrohen Schirmen von der prallen Sonne. Im Voraus hatten die Veranstalter*innen vor auffälligen Outfits gewarnt – zu gross war die Angst vor feindseligen Gegendemonstrationen.
Auch Lynn Sz. ist aus Polen für die Budapester Pride angereist. «Es ist wirklich aufregend», sagt die 27-jährige Polin, während sie ihren bunten Fächer bewegt. Von ihren Lippen bis zum Kinn hat sie einen Regenbogen gemalt – und auf ihren Wangen zwei polnische Flaggen. Ihre Gründe für den Besuch: «Menschenrechte und Demokratie», sagt sie. Sie habe in ihrer Heimat gesehen, wie sich mit jeder Pride die Lage verbessert habe – und wünscht sich dasselbe für Ungarn. «Wenn man die Pride verboten werden kann, dann könnte man auch jeden oppositionellen Protest verbieten».
«Wir werden keine Menschen zweiter Klasse bei uns haben»
Gergely Karácsony, Bürgermeister von Budapest
Ähnliches sieht es der Bürgermeister von Budapest, der Grünenpolitiker Gergely Karácsony. In einer Pressekonferenz am Vortag der Pride warnte er davor, dass nach den queeren Menschen als Nächstes andere für die Regierung unbequeme Bürger*innen betroffen seien könnten. «Wir werden keine Menschen zweiter Klasse bei uns haben», sagte Karácsony, der sich seit Jahren gegen Orbáns autoritären Kurs einsetzt. Der Bürgermeister erklärte die Pride kurzerhand zu einer stadteigenen Feier, um das Verbot zu umgehen.
Um Punkt 15 Uhr setzt sich der Umzug in Bewegung. Die breiten Strassen sind voll, es wird getanzt, geschwitzt und gelacht. Man hört vor allem Ungarisch, aber auch viele europäische Sprachen. Gleich 70 Europaabgeordnete, viele Minister*innen aus dem Ausland und eine EU-Kommissarin sind vor Ort. Eine Gruppe italienischer Teilnehmender singt das berühmte «A far l’amore comincia tu» von Raffaella Carrà, viele Demonstrierende singen mit. Eine trans Frau hält ein buntes Schild hoch, auf dem «Trans-Stolz» auf Italienisch steht.
An der Kreuzung vor dem historischen Hotel Astoria stehen zahlreiche Polizeiwagen und Sicherheitskräfte: Hier geht es nicht weiter. Die Route muss angepasst werden, weil rechte Gegendemonstrierende die stählerne Freiheitsbrücke aus dem 19. Jahrhundert blockieren. Die Zehntausenden Demonstrierenden machen sich auf dem Weg zur Elisabethbrücke.
«Es ist sehr wichtig, hier zu sein. Wir wollen diese Regierung stoppen. Was hier passiert ist nicht gut für unser Land und für unsere Zukunft»
Teilnehmende der Pride
Zuzi und ihr Partner Tamás stehen vor einem englischen Pub an der weissen Elisabethrücke mit ihren zwei Kleinkindern. «Es ist sehr wichtig, hier zu sein. Wir wollen diese Regierung stoppen. Was hier passiert ist nicht gut für unser Land und für unsere Zukunft», sagt die Frau und schaut ihre Kinder an.
«Hier werden die Menschenrechte abgeschafft», sagt Tamás, der die beiden Kinder mit einem Regenbogen-Schirm vor der Sonne schützt. Diese Familie ist eine von den vielen Verbündeten, die an diesem Tag zeigen wollen: Queere Rechte sind ein Bestandteil der Demokratie.
Mit lauter Musik und unaufhaltsam laufen die Teilnehmenden über die Brücke. Ganz vorne steht der Bürgermeister von Budapest, lächelnd neben anderen Politiker*innen und Aktivist*innen, hinter einem grossen Plakat mit dem Motto der diesjährigen Pride: «Freiheit und Liebe können nicht verboten werden.» Später werden die Bilder von der überfüllten Brücke weltweit in den Medien gezeigt und von Social-Media-Nutzer*innen geteilt. Man ahnt: Sie werden zum Symbol für die queere Community in Ungarn an diesem für sie historischen Tag.
An anderem Ufer der Donau erwartet den Demonstrierenden ein Stadtfest mit Musik und Vorträgen von Aktivist*innen. Und auch rund 20 rechte, männliche Gegendemonstranten warten im Schatten. Sie stehen fast versteckt hinter einem viel zu grossen Plakat, das von den Umzugsteilnehmenden belächelt und teils auch beschimpft wird. Die Polizei steht vor den Rechten, schützt die Demonstrierenden – und nimmt, anders als befürchtet, ihre Personalien nicht auf. Unklar ist, ob sie später Videoaufnahmen auswerten wird, um Bussgelder zu verhängen.
Falls ja, dürfte die Polizei viel zu tun haben: Vom Donauufer vor dem Fest bis über die Brücke und darüber hinaus drängen sich grosse Menschenmengen. Die Organisator*innen sprechen von bis zu 200'000 Teilnehmenden, verschiedene Medien von mindestens der Hälfte davon. Klar ist: Diese Pride ist die grösste der ungarischen Geschichte. Orban hat diesen Kampf – vorerst – verloren. Dass er seinen Kurs gegen queere Menschen ändert, daran glauben die wenigsten. Doch heute feiern sie.
Kurz nach 20 Uhr ist die historische Freiheitsbrücke frei von Polizei und rechten Gegendemonstrierenden. Die Pride-Teilnehmenden überqueren sie auf ihrem Weg ins Stadtzentrum, wirken erleichtert, glücklich, stolz. Einige setzen sich auf die bogenförmigen Stahlträger, plaudern entspannt und blicken in die Donau, die ihre Sorgen – zumindest für heute – wegzuspülen scheint.
An diesem 28 Juni. haben Zehntausende queere Menschen und Verbündete für ein anderes Ungarn demonstriert – und Viktor Orbán Widerstand geleistet. «Ich bin total erschöpft, aber auch überwältigt davon, dass so viele gekommen sind», sagt Háttér-Aktivistin Emese Alter nach der Demonstration. Als sie hörte, dass die ersten Menschen die Brücke über die Donau überquert hatten, habe sie fast geweint und wieder Hoffnung gespürt. «Diesmal haben die Faschisten verloren.» Von Juan F. Álvarez Moreno
Acht Jahre lang war Roman Heggli das Gesicht von Pink Cross – nun tritt er zurück. Im Interview spricht er über politische Erfolge, wachsenden Gegenwind und Spannungen in der Community (MANNSCHAFT-Interview).
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
International
«Vielfalt ohne Grenzen» – 800'000 Menschen feiern Pride in Mexiko
Es war ein grosses und buntes Fest in der mexikanischen Hauptstadt. Die queere Community hat mit Stolz gefeiert. Auch in Paris und München und anderswo gab es Pride Paraden.
Von Newsdesk/©DPA
News
Pride
Deutschland
Hamburg
Sohn gegen Geld dem Pastor angeboten: Mann (47) vor Gericht
Am Dienstag geht es am Landgericht um schwere Vorwürfe gegen einen Vater: Der Fall seines Sohnes erschüttert auch die Nordkirche.
Von Newsdesk/©DPA
Deutschland
Religion
Schwul
News
Justiz
Pride
«Wir bleiben hier!»: Friedlicher Umzug beim CSD Leipzig
Rund 19’000 Menschen haben am Samstag den Abschluss des Christopher Street Day in Leipzig gefeiert. Nach Angaben der Polizei war es bei dem bunten Demonstrationsumzug zu keinerlei Störungen gekommen.
Von Newsdesk/©DPA
News
Deutschland