Eine kurze Geschichte der queeren Kunst: «Umarme die Unschärfe!»
Dawn Hoskin spricht über ihr wegweisendes neues Buch
Die britische Kuratorin und Forscherin Dawn Hoskin diskutiert mit MANNSCHAFT darüber, wie man queere Kunst definieren kann und wieso sie aktuell so sehr unter Beschuss geraten ist.
Hoskin gehört zu den profiliertesten Stimmen im Feld queerer Kunst. Sie arbeitet als Cultural Heritage Curator beim National Trust, ist Mitglied der LGBTQ+ Steering Group und war unter anderem an der Neugestaltung der Europe 1600-1815 Galleries am Londoner Victoria & Albert Museum beteiligt.
Mit «Eine kurze Geschichte der queeren Kunst» legt sie nun ein Buch vor, das 40 Schlüsselwerke aus aller Welt vorstellt – von Aubrey Beardsleys «Das Pfauenkleid» über Frida Kahlos «Selbstbildnis mit kurz geschnittenem Haar» bis zu David Hockneys «We Two Boys Together Clinging». Reich bebildert, prägnant und leicht zugänglich, macht das Buch sichtbar, wie sehr queere Künstler*innen seit Jahrhunderten Kunstgeschichte geprägt haben.
Wir sprachen mit Hoskin darüber, woran sich queere Kunst erkennen lässt, wie Museen Vielfalt in ihren Sammlungen sichtbar machen – und welche Bedeutung diese Kunst im Angesicht aktueller Backlashs gegen LGBTIQ-Sichtbarkeit hat (MANNSCHAFT berichtete).
Welche Rolle spielt queere Kunst in Zeiten des Backlash gegen LGBTIQ-Rechte? Queere Kunst hat eine zentrale Bedeutung: ihre Sichtbarkeit. Sie erinnert uns daran, dass wir als Menschen Teil der Gesellschaft sind. Heute kann sie der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten oder Einblicke in ungewohnte Erfahrungen geben – und zugleich Zeugnis dieser Zeit für die Zukunft ablegen. Ihre Kraft liegt auch in intimen Momenten der Verbindung, die zur Selbstbestätigung beitragen können – dabei darf nicht vergessen werden, dass sie ebenso queere Freude einschliesst.
Was macht ein Kunstwerk «queer» – Identität, Thema oder beides? «Queer» ist dabei ein ausgesprochen dehnbarer und subjektiver Begriff mit einer wechselvollen Geschichte – zunächst Eigenbeschreibung, später Beleidigung, schliesslich wiedergewonnener Ausdruck der Befreiung. Er wird verwendet, um die eigene Identität und den politischen Standpunkt darzustellen. Zwei Kernaspekte seiner heutigen Bedeutung sind: «Queer» kann allgemein als «Anderssein» verstanden werden – das Stören etablierter Erwartungen – und zugleich als Begriff für Geschlechts- und sexuelle Identitäten, die von «normativen» Auffassungen abweichen.
In meinem Buch zitiere ich dazu bell hooks: «Queer bedeutet nicht, wer dein Sexpartner ist (das kann ein Aspekt davon sein), sondern queer bedeutet, dass es um das Selbst geht, das sich im Widerspruch zu allem um es herum befindet und einen Ort finden muss, an dem es sich äussern, entfalten, erfolgreich sein und leben kann.» Es gibt keinen einzelnen Massstab für Queerness. Biografien können Türen öffnen, aber Queerness reicht weit über die blosse «Dokumentation der Existenz» hinaus – und verändert sich im Lauf der Zeit. Mein Rat: Umarme die Unschärfe.
Wie hat sich der Umgang von Museen mit queerer Kunst verändert? Das soziale und rechtliche Umfeld, in dem Museen und Galerien arbeiten, verschiebt sich fortlaufend; Selbstzufriedenheit wäre fehl am Platz. Aus meiner Erfahrung in Grossbritannien sehe ich in den letzten 15 Jahren jedoch Ermutigendes: Es wächst die Einsicht, dass ein breiteres Spektrum an Geschichten das Verständnis von Werken und Sammlungen vertieft; zugleich sind öffentliches Interesse, Appetit und Erwartung nach vielfältigerer Repräsentation spürbar gestiegen – und mit ihnen das Vertrauen sowie die Klarheit über Zweck und Nutzen verbesserter queerer Inklusion.
In einigen Häusern werden queere Geschichten und Erfahrungen zunehmend strukturell verankert – einschliesslich der Interpretation – statt als temporäre «Ergänzung» zu erscheinen. Zudem setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass diese Geschichten über LGBTIQ hinaus relevant sind. All das steht unter Vorbehalt: Es gibt laute Gegenstimmen, und die erreichten Fortschritte dürfen keinesfalls als selbstverständlich gelten.
Wie beeinflusst die Debatte über Cancel Culture (MANNSCHAFT berichtete) und Wokeness die Rezeption? Das derzeitige Klima begünstigt vereinfachte Lesarten. Manche reagieren nicht auf konkrete Werke, sondern schon auf die blosse Anerkennung, dass LGBTIQ-Menschen existieren. Es gibt Beispiele, dass Werke absichtlich falsch dargestellt und als Waffe eingesetzt werden. Das führt teils zu Zurückhaltung, hat zugleich aber auch die Entschlossenheit gestärkt, queere Kunst sichtbar zu machen. Zugleich gibt es Kritik an den Motiven von Institutionen – sowohl von Gegner*innen als auch von jenen, die echtes Engagement hinterfragen.
Wie sollten Institutionen auf Zensur reagieren? Zensur kann äussere Unterdrückung oder Selbstzensur bedeuten. Wichtig ist, Risiken realistisch einzuschätzen. Institutionen sollten ihre Werte und Ziele klären, denn eine klare Grundlage stärkt das Vertrauen, für inklusive Repräsentation einzutreten. Hilfreich ist auch, aus den Strategien zeitgenössischer Künstler*innen in feindseligen Kontexten zu lernen. Grosses Potenzial liegt in internationalen Netzwerken, die Werke verbreiten, die andernorts eingeschränkt sind.
Gab es einen Moment, der Ihre Sicht auf queere Kunst besonders geprägt hat? Es war weniger ein einzelner Moment als die wachsende Erkenntnis, dass queere Aspekte oft übersehen wurden. Ich erinnere mich an viele persönliche Momente der queeren Neugier in Museumssammlungen – und daran, wie positiv und aufschlussreich das für andere sein kann. Das hat meine Bereitschaft geprägt, Menschen zu ermutigen, sich aus einer queeren Perspektive persönlich mit Kunst auseinanderzusetzen – statt nach einer vermeintlich «richtigen» Art der Rezeption zu suchen.
Dawn Hoskin – «Eine kurze Geschichte der queeren Kunst», Laurence King Verlag, Flexibler Einband, 224 Seiten, 22 Euro
Dawn Hoskin zeigt, dass queere Kunst kein Randphänomen ist, sondern seit Jahrhunderten integraler Bestandteil der Kunstgeschichte. Ihr Buch verleiht vergessenen Stimmen Sichtbarkeit und lädt dazu ein, vertraute Werke neu zu betrachten – aus Perspektiven, die lange übersehen oder verdrängt wurden. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung entfaltet diese Rückgewinnung besondere Strahlkraft: Sie macht deutlich, dass queere Geschichten nicht nachträglich hinzugefügt werden, sondern schon immer Teil unserer gemeinsamen Geschichte waren – und bleiben. Damit ist Hoskins Überblick kein abschliessendes Kapitel, sondern ein Anstoss, die Geschichte der Kunst offener und vielfältiger zu erzählen.
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