Krise der Männlichkeit – und Befreiung durch Fotografie?
Der Martin-Gropius-Bau hat die Ausstellung «Masculinities: Liberation Through Photography» vom Barbican Centre London nach Berlin geholt und dokumentiert damit an prominenter Stelle den aktuellen Genderkrieg
Die Ausstellung «Masculinities: Liberation Through Photography» sollte eigentlich im Frühjahr 2020 die Serie grosser LGBTIQ-Schauen in London fortsetzen, die mit «Queer British Art 1861–1967» im Tate-Museum begonnen hatte und später Spektakel wie «Kiss My Genders» im Southbank Centre offerierte. Die «Befreiung» der Maskulinitäten (Achtung: Plural!) wurde vom Barbican Centre konzipiert, fiel dort aber dem Corona-Lockdown zum Opfer. Jetzt ist die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen – und lädt zum Nachdenken ein, aber auch zu Kritik.
Die Schau wolle Wege erkunden, wie Männlichkeit unterschiedlich «erfahren, aufgeführt, codiert und sozial konstruiert» werde in Fotos und Filmen von den 1960er-Jahren bis heute, heisst es im Vorwort des Katalogs. Dabei soll gezeigt werden, wie Künstler*innen das, was heute gern als «toxische Männlichkeit» bezeichnet wird, dekonstruiert haben, speziell, indem sie «traditionelle» weisse heterosexuelle Männlichkeitsbilder gequeert haben. Weswegen die ganze Ausstellung, laut Jonathan D. Katz, auch eine «vollständig queere Schau» sei und gleichzeitig eine «komplett feministische», wie er im Katalog schreibt.
Denn: In Zeiten von #MeToo und Time’s Up werde Männlichkeit und männliches Verhalten wie nie zu vor «unter die Lupe genommen» und «Macht, Patriarchat, heteronormative Stereotypen und hegemoniale Männlichkeit» in Frage gestellt. Als Teil eines «ausgewachsenen Genderkriegs», der zu einer «Krise der Männlichkeit» geführt habe, wie Alona Pardo sagt, die zusammen mit Jane Alison diese queer-feministische Ausstellung fürs Barbican erdacht und konzipiert hat. Hauptsponsor ist übrigens Calvin Klein!
Der «Archetyp» Wie diese vermeintlich kritikwürdige Männlichkeit aussieht, die dekonstruiert werden soll, erfährt man im ersten Teil der Ausstellung mit dem Titel «Archetyp». Da sieht man sie: US-Soldaten und israelische Soldaten, Taliban-Kämpfer, Bodybuilder wie Arnold Schwarzenegger, Cowboys, blutverschmierte Stierkämpfer, halbnackte Automechaniker, Rugby-Spieler zusammen in der Badewanne nach dem Spiel bzw. nebeneinander stehend im Pub-Pissoir.
Die Bilder sind ein schwuler Traum, weil sie von Künstlern wie Herb Ritts, Wolfgang Tillmanns oder Robert Mapplethorpe stammen. Mit einem deutlichen Blick für das, was schwule Männer einst an solchen Männlichkeiten begehrenswert fanden und im Begehren die Männlichkeiten quasi unterwanderten.
Mit viel Selbstironie haben Künstler wie Hal Fischer in den 1970er-Jahren den hyper-maskulinen «Clone Look» der Schwulenszene dokumentiert und analysiert: die «Handkerchiefs» und «Street Fashion» aus der Serie «Gay Semiotics» werden in «Masculinities» in aufgeblasenen XXL-Formaten gezeigt, sie sind getränkt in Witz, der in den Texten zur Ausstellung gründlich fehlt.
Oberstufenseminar für Sozialtheorie The World of Interiors rezensierte in der Oktober-Ausgabe den Katalog und meinte, die Aufsätze klängen wie ein Oberstufenseminar für einen Sozialtheoriekurs, inklusive eines Glossars am Ende, wo alle möglichen Begriffe erklärt werden («genderflux», «biological essentialism», «critical race theory», «disabalism», «privilege», «Polari» usw.). Laut World of Interiors dürfe man sich glücklich schätzen, dass man nach Lesen des Katalog (oder Besuchs der Ausstellung) keine Prüfung ablegen müsse, um zu beweisen, dass man alles verstanden habe.
Was es zu verstehen gilt, ist u. a. dass es hier bei der Demontage von Männlichkeit und Darstellung von alternativen Männlichkeiten vor allem um Europa und Nordamerika geht. Es soll zwar auch eine «Dekonstruktion des orientalischen Blicks» vorgenommen werden, etwa durch die Inklusion der berühmten Taliban-Porträts, die Thomas Dworzak in Fotoläden in Afghanistan 2002 fand und auf denen man Männerpaare in sehr innigen Posen miteinander sieht, händchenhaltend und mit Kajal umrandeten Augen. Sie sind Teil einer grösseren Sammlung von Passfotos und anderen Bildern, die Dworzak gefunden hat. Ausgestellt werden aber nur diese Porträts (in «orientalischen» Silberrahmen), die wir im Westen als «queer» lesen – was die Taliban selbst vermutlich nicht taten. Hier, wie auch anderswo in der Ausstellung, wird auf jedweden historischen oder gesellschaftspolitischen Kontext verzichtet. Hintergründe interessieren nicht!
Es wird auch nie die eigene Vorgehensweise hinterfragt. Man stelle sich vor, statt Jane Alison und Alona Pardo hätten zwei (weisse cis) Männer als Barbican-Kuratoren die These aufgestellt, dass Weiblichkeit in der Krise stecke und dass sie nun anhand von Fotografien die «Befreiung» aus einer möglicherweise «toxischen Weiblichkeit» vorführen wollten. Wie wären die Reaktionen darauf wohl ausgefallen in Zeiten von «Genderkriegen»? Darf «man» überhaupt fragen, ob es so etwas wie «toxische Weiblichkeit(en)» gibt?
Darf «man» überhaupt fragen, ob es so etwas wie «toxische Weiblichkeit» gibt?
Das Militärhistorische Museum Dresden tat das unlängst mit der Ausstellung «Gewalt und Geschlecht» und löste einen Skandal in Sachsen aus. Der umfangreiche Katalog ist immer noch extrem lesenswert, auch in Bezug auf Gewalt, die von Frauen ausgeht und die sie als Terroristinnen verbreiten, aber auch Gewalt, die sie sich gegenseitig antun. Der Direktor des Museums in Dresden musste damals – trotz der positiven Reaktionen auf die Ausstellung – seinen Posten räumen, weil seine Tiefenanalyse offensichtlich zu starken Tobak für manche war und liebgewordene Narrative zu sehr hinterfragte.
Gegen den dominanten westlichen Blick Wenn die Londoner Ausstellungsmacher*innen schon so leidenschaftlich gegen Rassismus und den dominanten westlichen Blick auf die Welt vorgehen wollen – wobei sie sich laut Pardo für «spätkapitalistische Werte von Gleichheit und Inklusion» einsetzen –, dann könnte man auch fragen, wieso bei solch einer wichtigen Schau der Fokus so stark auf Europa und Nordamerika liegt, wenn doch der «orientalische Blick» gebrochen und wenn es um mehr Sichtbarkeit von PoC gehen soll. Warum nicht ein einziger Abschnitt zur Frage, wie es um problematische Männlichkeitsideale in der arabischen Welt steht (jenseits der Taliban-Fotos von Dworzak) und wie Künstler*innen dort darauf reagieren, etwa Taner Celan? Und was ist mit überkommenen Männerrollenbildern im asiatischen Raum? Hat es dort auch eine «Befreiung» gegeben, neben Arbeiten von Pionieren wie Gengoroh Tagame, der mit Büchern wie «Der Mann meines Bruders» gegen verkrustete Familienmodelle in Japan anschreibt und mit seinen Erotikzeichnungen ein anderes Bild à la Tom of Finland von asiatischen Männern vermittelt. (MANNSCHAFT berichtete.) Und was ist mit Männlichkeitsidealen in afrikanischen Ländern und traditionellen Gesellschaften dort, sagen wir mal in Uganda?
«Ich wollte ‹normal› sein, um zu überleben»
Im Grunde haben es sich die Kurator*innen ziemlich einfach gemacht, man könnte auch sagen: bequem. Denn alles, was sie präsentieren und in ihren Texten behaupten, ist einem kulturell interessierten Mainstream-Publikum hinlänglich bekannt. Da hätte eine Ausstellung an so prominenter Stelle in London wie in Berlin spannendere neue Fragen zur Diskussion stellen können.
Eigene Stereotype hinterfragen Der Begriff «Queer Studies» bedeutete einmal, dass man in wissenschaftlichen Untersuchungen Themen gegen den Strich betrachten wollte, um unbeachtete Aspekte hervorzuarbeiten, die zuvor vom Mainstream-Narrativ verdeckt worden waren. Da inzwischen die Queer-Bewegung selbst zum Mainstream avanciert ist – und nunmehr im Barbican und Martin-Gropius-Bau angekommen ist –, scheint sie ihr eigenes Narrativ vom heterosexuellen weissen cis Mann, der andere unterdrückt und ausgrenzt, gern wieder und wieder zu wiederholen, statt es gegen den eigenen Strich zu analysieren und eigene Stereotype zu hinterfragen. (Zum Beispiel, in wie weit nicht-binäre Queers selbst in bestimmte Rollenklischees verfallen.) Aber vielleicht ist ewige Repetition Teil des aktuellen «Geschlechterkriegs»?
Wofür schämen sich schwule Männer – und wie toxisch ist Scham?
Während die heterosexuellen weissen cis Männer in Europa und Nordamerika – sowie der Grossteil der Gesellschaften dort – sich solche queer-feministischen Dekonstruktionen gern gefallen lassen und interessiert Applaus spenden (sowie staatliche Förderungen dafür ausgeben), besteht die Gefahr, dass Vertreter*innen anderer Gesellschaften nicht so freundlich auf «Befreiungsversuche» reagieren. Ist es «unsere» Aufgabe, darauf einzugehen und zu zeigen, was dort passiert – oder steht uns das nicht zu? Gäbe es keine entsprechenden Kurator*innen aus Afrika, arabischen Ländern, Asien, die das in Form einer Ausstellung ins Barbican oder in den Martin-Gropius-Bau hätten bringen können? Haben die Verantwortlichen Angst vor einem Shitstorm wie unlängst in Frankfurt bei «Contemporary Muslim Fashions», um nur ein Beispiel zu nennen?
Die Arbeiten sind dennoch absolut sehenswert, auch weil sie wie Zeitreisen funktionieren
So fasst «Masculinities: Liberation Through Photography» nur zusammen, was alle sowieso schon wissen. Die Arbeiten sind dennoch absolut sehenswert, auch weil sie teils wie Zeitreisen funktionieren: die Strassenszenen von Sunil Gupta von der Christopher Street in New York in den 1970ern, das Treiben auf den Piers in Manhattan ebenfalls in den 70ern, aber auch der Film «Male Models» von Warhol aus dem Jahr 1979, wo die atemberaubend gut aussehenden männlichen Supermodels erklären, wie sie damit umgehen, dass sich als Objekte funktionieren müssen. Als Gegenwicht dazu kann man den Film über Adrian Street («So Many Ways to Hurt You») sehen, der mit seiner überdreht campen Art das Show-Ringen völlig auf den Kopf gestellt hat.
Fehlender Mut zur Provokation Bedauerlicherweise hat der Prestel-Verlag den 310-Seiten-Katalog nur auf Englisch herausgegeben. Vermutlich in der Annahme, dass Queers, die in Berlin in die Ausstellung gehen, sowieso Englisch sprechen. Und der Gropius-Bau hat den Titel auch nicht ins Deutsche übertragen – weil es schicker auf Englisch klingt oder so wirkt, als hätte es mit uns hier nicht so direkt etwas zu tun? (Was ein Trugschluss wäre.)
Viele der Kunstwerke lohnen via Katalog wiederholt zuhause betrachtet zu werden, etwa die anrührenden Familiengeschichten, die Masahisa Fukase («Family», 1971-90) und Duane Michaels («Grandpa Goes to Heaven», 1989) zeigen. Manche Sachen wirken besser live und riesengross, wie Akram Zaataris «Bodybuilders» aus den 1940er-Jahren, die er 2011 zu Kunstwerken verarbeitet hat. Andere, wie George Dureaus «B. J. Robinson»-Serie von 1979 klingen lange nach. Während man sich bei Deana Lawsons «Sons of Cush» (2016) fragen kann, was der junge Afro-Amerikaner mit einem Baby auf dem Arm mit «Befreiung» zu tun hat bzw. wer da von wem befreit werden müsste.
«Sie hatten ein Problem damit, dass ich schwarz und schwul bin»
Aber gerade dass solche Fragen aufkommen ist letztlich die Stärke der ausgewählten Kunstwerke – und damit der Ausstellung, die dennoch weit unter ihrem Provokationspotenzial bleibt. Auch indem sie das Foto eines schwarzen nackten Mannes von Rotimi Fani-Kayode (1985) als Posterbild ausgewählt hat, das nun Berliner Strassen als Werbung ziert, aber kaum etwas zum Kern der «Masculinities»-Ausstellung sagt. Fehlte da den Berliner Kulturverantwortlichen der Mut, den «Genderkrieg» deutlicher hervorzuheben und das Queere augenfälliger zu machen?
Die Ausstellung ist im Martin-Gropius-Bau bis zum 10. Januar 2021 zu sehen. Der Katalog kostet 49 Euro. Mehr Informationen gibt es hier.
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