Schwules Leben und Lieben im Iran – damals und heute
Abdi Nazemians «Nur dieser eine Augenblick» nimmt uns mit auf eine queere Zeitreise
Der vielfach preisgekrönte iranisch-amerikanische Autor Abdi Nazemian hat einen neuen Roman vorgelegt, der die Geschichte einer Familie aus dem Iran erzählt und den Umgang mit Homosexualität analysiert auf drei Zeitebenen: 1939, 1978 und 2019.
Das Buch «Only This Beautiful Moment» (2023) ist jetzt auf Deutsch erschienen als «Nur dieser eine Augenblick». Die drei Protagnisten aus je einer anderen Generation des Familienlebens sind der junge, offen queere Mahmoud («Moud»), der mit seinem alleinerziehenden Vater Saeed in Los Angeles im Hier und Heute aufwächst und mit Saeed in den Iran reisen soll, um dort seinen Grossvater «Baba» noch einmal zu sehen, bevor dieser stirbt.
Moud geht in LA zur Schule, hat einen Boyfriend namens Shane, der sich als besonders progressiv sieht und LGBTIQ-Aktivist ist, mit eigenem Podcast. Shane kann schwer nachvollziehen, warum nicht alle queeren Menschen offen mit ihrer sexuellen Orientierung umgehen, und er ist entsetzt, dass sein Freund ausgerechnet in ein Land wie den Iran reisen will, wo Homosexualität unterdrückt wird und Homosexuelle potenziell in Lebensgefahr schweben. Shane kann auch nicht wirklich verstehen, warum sich Moud in der amerikanischen Gesellschaft nicht voll dazugehörig bzw. wohl fühlt, weil er wegen seines Aussehens immer wieder ausgegrenzt wird.
Neben den Problemen mit Shane muss Moud sich auch mit seinem Vater arrangieren, der zwar die Homosexualität seines Sohns akzeptiert, aber nicht darüber reden will. Er wahrt stattdessen grosse emotionale Distanz, auch zu Shane.
Und dann ist da «Baba», der verständnisvolle Grossvater im Iran, der Musiker war, Witwer ist und scheinbar gar keine Probleme damit hat, wenn Menschen in seinem Umfeld (oder seine Familie) «anders» sind als es die gesellschaftliche Norm verlangt.
Nach dieser Ausgangssituation springt der Roman nach Teheran 1978, wo Saeeds Geschichte als junger Mann erzählt wird, der sich inmitten der Studentenunruhen – die zum Entsetzen vieler 1979 zur Islamischen Revolution führen und zum politischen System, das wir heute kennen – zum ersten Mal verliebt in eine andere Studentin. Im Umsturzchaos zwingen ihn seine Eltern das Land zu verlassen, um in den USA in Sicherheit bei seiner amerikanischen Grossmutter zu leben. Saeed muss also seine geliebte Heimat, die geliebte Frau und seine Familie/Freunde verlassen, um in ein Land zu gehen, das er aus ideologischer Überzeugung hasst. Entsprechend gross ist die Spannung zwischen Saeed und seinen Eltern. Eine Spannung, die auch das Wiedersehen zwischen Saeed und seinem Vater im Jahr 2019 dominiert.
Die dritte Zeitebene spielt in Los Angeles in den späten 1930er Jahren und erzählt vom attraktiven jungen Schauspieler Bobby, der auf Drängen seiner Mutter kurz davorsteht, mit seinem «exotischen» Look in Hollywood den Durchbruch zu schaffen und von einem Studio unter Vertrag genommen zu werden. Der sich dafür jedoch öffentlich ein heterosexuelles Image zulegen muss – obwohl er verliebt ist in seinen besten Schulfreund. Beide sind sich bewusst, dass sie ihre Liebe nie werden ausleben können unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Epoche. Bobby überlegt auszusteigen. Aber wie? Er macht sich auf die Suche nach seinem biologischen Vater und entdeckt, dass seine Mutter als Kind im Iran aufgewachsen ist, als Teil einer US-amerikanischen Ingenieursfamilie. Als sie von einem iranischen Jungen schwanger wurde, verliess die Familie das Land und kehrte mit der «entehrten» Tochter in die USA zurück.
Dieses geschichtlich breit gefächerte Panorama erlaubt Nazemian, ein faszinierendes Geflecht von emotionalen Konflikten zu entwerfen. Vor allem aber erlaubt es ihm die Überheblichkeit eines jungen queeren US-Aktivisten wie Shane zu hinterfragen, der meint, im Iran könnten Homosexuelle nur versteckt leben und müssten sich selbst verleugnen, während in den USA das vermeintliche LGBTIQ-Paradies auf Erden vorzufinden sei.
Moud lernt im Iran durchaus eine queere Szene kennen und ist beeindruckt, wie «zuhause» er sich in dieser fühlt, wie viel menschliche Nähe er dort spürt, die er in einer vor allem auf äusserliche «woke» Posen begrenzte Szene in den USA nicht spürte und wo auch Beziehungen – im Zeitalter von Online-Dating – ihm viel oberflächlicher vorkommen. Er erkennt allerdings auch, wie gefährlich es ist, sich in diese queere Untergrundszene im Iran zu begeben und wie wichtig deshalb Zusammenhalt ist, um sich vor Staatsgewalt und gesellschaftlicher Ächtung gegenseitig zu schützen.
Dadurch, dass alles auf drei Zeitebenen spielt, kann der Autor verhandeln, wie sich schwule und lesbische Menschen zu anderen Zeiten arrangiert haben. Und wie sie auch in den USA dem «Land of the Free» gezwungen waren, «heimlich» zu leben, mit vergleichbarem Zusammenhalt einer unterdrückten Community. Hier ist es spannend, wie sich nach und nach die Geschichte von Saeed und seinem Vater zusammenfügt auf unverhoffte und meisterhaft erzählte Weise. Bei der man begreift, dass der Queeranspruch von Shane ziemlich hohl ist. Und vor allem: geschichtsvergessen.
«Nur dieser eine Augenblick» ist eines von vielen aktuellen LGBTIQ-Büchern, die sich mit dem Thema Iran auseinandersetzen. Erwähnenswert ist hier Adib Khorrams «Darius der Grosse fühlt sich klein» (2020), wo es auch um einen queeren US-Teenager geht, der mit seinen Eltern in den Iran reist, um den sterbenden Grossvater zu treffen. Allerdings steht bei Khorram das Thema Depression – als etwas, das in der Familie vererbt werden könnte – im Zentrum der intensiven Vater-Sohn-Geschichte. Und die Geschichte bleibt nur in der aktuellen Gegenwart.
Ghazi Rabihavi erzählt in «Söhne der Liebe» (2022) die schwule Liebesgeschichte von Nadji und Djamil zu Zeiten der Islamischen Revolution (MANNSCHAFT berichtete). Was allerdings Sina Kiyani mit seiner «Paradiesstrasse» (2023) noch eindrucksvoller tut, mit der Teenager-Lovestory von Ramin und Aschkan in Shiraz, die wegen ihrer hormongesteuerten pubertären Lust alle Vorsicht vergessen und plötzlich mit dem iranischen Terrorregime hautnah konfrontiert werden – wodurch aus der eingangs amüsant-komischen Young-Adult-Geschichte ein Thriller der Sonderklasse wird. Der unter die Haut geht, aber nie seinen Humor verliert. (Eine bemerkenswerte Leistung.)
Andere neue Bücher, wie «Medusa of the Roses» (2024) von Navid Sinaki sind bislang nicht auf Deutsch erschienen, während Kiyanis in Österreich und auf Deutsch publizierter Roman bislang nicht auf Englisch übersetzt wurde. Dafür ist sein Buch in Österreich besonders als Lehrmaterial in Schulen beliebt, wie er dem Autor dieser Zeilen erzählte, weil Lehrkräfte damit gut die Geschichte der Islamischen Revolution vermitteln können, mit zeitgleichem Fokus auf LGBTIQ-Geschichte.
Parallel musste Abdi Nazemian in den USA erleben, wie sein früherer Roman «Like a Love Story» (2019) zum Thema Aids vielerorts aus Schulbibliotheken entfernt wurde. Nazemian sagte dem Sender CNN, dass es sein Herz breche, wenn er daran denke, was für eine Botschaft solche «Bücherverbote» an junge queere «Kids» sende, die Liebe und Unterstützung verdienten.
Als Drehbuchautor und Produzent war Nazemian an Filmwelterfolgen wie «Call Me By Your Name» beteiligt, aber auch an «Scotty and the Secret History of Hollywood», eine Doku über Scotty Bowers und den Männer-Escortservice, den dieser in den 1940er-Jahren in Los Angeles aufbaute. Ryan Murphy hat sich inhaltlich in der Serie «Hollywood» intensiv bei dieser Vorlage bedient (MANNSCHAFT berichtete).
In «Nur dieser eine Augenblick» spürt man das Echo der geheimen Geschichte Hollywoods deutlich. Gerade weil Nazemians Figur des attraktiven Jungschauspielers Bobby sich einem solchen geheimen Leben verweigert. Und für sich eine komplett andere Option findet. Die zeigt, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, seine Homosexualität vor der Gesellschaft zu verstecken, ohne die dabei selbst verleugnen und unglücklich werden zu müssen.
Gerade wenn man sich mit historischen Biografien auseinandersetzt, ist es lohnend im Hinterkopf zu behalten, dass Menschen schon immer Wege gefunden haben, sich zu arrangieren. Mit ihren Ehefrauen bzw. Ehemännern. Mit der Gesellschaft um sie herum, indem sie Beziehungen verschleierten und Partner*innen als Sekretär*innen, Haushaltsdamen oder Butler, als Adoptivkinder oder ähnliches ausgaben. Was auch eine politische Dimension hat. Denn: Was genau ist LGBTIQ «zumutbar», wenn sie aus Ländern wie Marokko, Algerien, Iran, Russland usw. fliehen und bei uns Asylanträge stellen, mit Verweis auf ihre Homosexualität (MANNSCHAFT berichtete)? Wie genau sieht ein glückliches queeres Leben aus? Natürlich ist das eine höchst individuelle Frage, zu der es viele Antworten gibt und zu der Nazemian in «Nur dieser eine Augenblick» auch viel zu sagen hat (nicht nur über seine Figur Shane).
Man kann nur hoffen, dass der Autor seine Hollywoodkontakte nutzen wird, um aus diesem wunderbaren Roman eine Mini-Serie oder einen Film zu machen. Denn der Erzählstil ist so plastisch, dass man fortwährend Bilder vor Augen hat, kontrastierend und emotional aufwühlend. Und bis zur letzten Seite packend.
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