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Umpolungstherapien: «Es war eine schmerzhafte Zeit»

Noch immer werden «Therapien» angeboten, die Homosexuelle von ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung wegbringen sollen. Solche Behandlungen widersprechen nicht nur der modernen Wissenschaft, sie sind für Betroffene auch mit grossem Leid verbunden.

«In der Therapie wurde mir eines ständig eingeredet: Dass es falsch sei, so zu sein, wie ich bin», erzählt Fabian.* Die «Therapie», über die der 31-Jährige spricht, verfolgte ein ganz bestimmtes Ziel: Fabian sollte von seiner Homosexualität «geheilt» und «umgepolt» werden.

In vielem erkannte der Berater eine traumatische Erfahrung, die dann als Erklärung für meine Homosexualität diente

Schwulsein – eine Sünde?
Fabian wuchs in einer Freikirche auf. In einem Umfeld, das einer konservativen Auslegung der biblischen Ideologie folgt. Homo­sexualität gilt als Sünde und wird dementsprechend abgelehnt. Zum ersten Mal ging er als 15-Jähriger in eine Sitzung. «Dies geschah im gegenseitigen Einvernehmen mit meinen Eltern», erinnert sich Fabian. Damals habe auch er diese Therapiebesuche für das Richtige gehalten – nicht zuletzt, weil er viele evangelikal-christlich geprägte Bücher studiert hatte, die ihn mit diversen Theorien über die Entstehung von Homosexualität konfrontierten. «So hiess es da zum Beispiel, dass man schwul werde, wenn man vom Vater zu wenig Liebe erhalte und sich in der Folge nach männlicher Zuneigung sehne.» In seiner Jugendzeit, so Fabian, seien ihm solche Erklärungsansätze noch plausibel vorgekommen.


Sinnlose Angelegenheit
Zehn Jahre lang musste er ertragen, was er heute als «sinnlosen Schwachsinn» bezeichnet: Unzählige Therapiestunden, in denen verschiedene Methoden angewandt wurden, die seine gleichgeschlechtliche Orientierung hätten wegwischen sollen. «Zum einen wurde die Kindheit durchgekaut», sagt Fabian. Um herauszufinden, was in den jüngsten Jahren «falsch» gelaufen sei. «Stets liess sich ein Schuldiger eruieren, und in vielem erkannte der Berater eine traumatische Erfahrung, die dann als Erklärung für meine Homosexualität diente.» Zum anderen wurde auch an der gegenwärtigen Gefühlslage gearbeitet, am «Jetzt-Zustand», wie Fabian es beschreibt. Um einen «gesunden Umgang» mit heterosexuellen Männern zu erlernen, musste er Fussball spielen oder sich mit anderen Männern in Ringkämpfen messen. Auch eine «Umarmungstherapie» gehörte zum Programm. Indem er andere Männer umarmte, sollte Fabian auf eine nichtsexuelle Art und Weise männliche Nähe erfahren. «Bei mir war das ausgesprochen kontraproduktiv», sagt er und lacht. «Diesen Teil fand ich jeweils toll!»

Immer wieder musste ich mir anhören, dass mit mir etwas nicht stimme.

Heute kann Fabian lachen, wenn er über das Vergangene spricht. Doch darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Therapien grossen Schaden anrichten. Auch Fabian litt. «Immer wieder musste ich mir anhören, dass mit mir etwas nicht stimme.» Er kenne mehrere andere Männer, die einer solchen Behandlung unterzogen wurden, und kein einziger äussere sich positiv darüber. «Einer von ihnen ist seit 17 Jahren in Therapie – noch nie habe ich ein solches psychisches Wrack gesehen», sagt Fabian. «Oftmals flüchten sich die Betroffenen in die Abgeschiedenheit, und auch die Selbstmordthematik ist bei vielen präsent.»

Schwule: Nur Sex, keine Treue?
Heute lebt Fabian offen schwul, die Therapie brach er ab. Einerseits, weil sie schlicht nicht funktioniert. «Man kann homosexuelle Gefühle vielleicht unterdrücken und sich weigern, sie auszuleben. Verschwinden aber werden sie nie», sagt er. Andererseits realisierte er, dass ihm in den Sitzungen ein völlig falsches Bild von Homosexuellen vermittelt worden war. «Es wird einem eingetrichtert, dass es Schwulen nur um Sex gehe und Treue nicht existiere.» Es sei ein äusserst einseitiges Bild, das da gezeichnet werde. Eines, das er jahrelang nicht revidieren konnte. «Lange Zeit kannte ich schlicht keine Schwulen.» Erst als er mit anderen Homosexuellen in Kontakt kam und sich mit ihnen anfreundete, begann das negative Bild zu bröckeln. «Einige meiner schwulen Freunde führen seit Jahren gesunde Beziehungen», so Fabian. Daraufhin begann er auch, die Thematik aus theologischer Sicht zu hinterfragen, und merkte, dass sich Schwulsein und Religion sehr wohl miteinander verbinden lassen.
Therapien, wie sie Fabian beschreibt, sind nicht nur schmerzhaft für die Betroffenen, sie widersprechen auch der «herrschenden Lehre in der Psychologie, wonach die homosexuelle Prägung schon in frühester Kindheit erfolgt», sagt Philipp Thüler, stellvertretender Leiter Kommunikation der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), dem grössten nationalen Berufsverband von Fachpersonen im Psychologie- und Psychotherapiebereich. Homosexualität sei eine Facette der menschlichen Sexualität, sagt Thüler, und «Therapieangebote weg von Homosexualität sind nicht nur gefährlich für die Betroffenen, sondern auch unwissenschaftlich.»


«Geheilte» Anbieter
Umso stossender ist die Tatsache, dass in der Schweiz noch immer Angebote existieren, die auf eine Veränderung der homosexuellen Orientierung abzielen. Der evangelikal-christliche Verein «Wuestenstrom» zum Beispiel bietet auf seiner Website Behandlungen an für Menschen, «die ihre sexuelle Orientierung für sich als konflikthaft erleben und eine Veränderung ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung wünschen».  Gegründet wurde Wuestenstrom in Deutschland, seit 2004 verfügt die Organisation auch über einen Schweizer Ableger. Hinter diesem steht der freikirchliche Theologe Rolf Rietmann. Dieser war laut eigenen Angaben «selber schwul und pornosüchtig», heute ist er mit einer Frau verheiratet und Vater von zwei Kindern – ein sogenannter «Exgay» also, der nun selbst entsprechende Therapien anbietet. Das sei typisch, sagt Michel Rudin, Co-Präsident von Pink Cross, in einem Interview mit dem Newsportal watson.ch. Und es zeige genau den Teufelskreis auf: «Die ungesunde Haltung, die solche Therapeuten sich selber eingeredet oder eingeredet bekommen haben, geben sie nun weiter.»

Es erscheint mehr als fraglich, dass sich zum Beispiel ein 14-jähriger Knabe freiwillig in Therapie begibt.

Homosexualität als «Ausdruck nicht­sexueller Konflikte»
Organisationen wie Wuestenstrom gehen entgegen der wissenschaftlichen Mehrheitsmeinung davon aus, dass sich die sexuelle Orientierung eines Menschen verändern kann. «Wir sehen die Sexualität als einen Erlebnisbereich des Menschen, in dem durchaus nichtsexuelle, lebensgeschichtlich verwurzelte Motive inszeniert werden können», schreibt Rietmann auf wuestenstrom.ch. So würden manche Menschen die Sexualität «zur Stabilisierung von Fragen im Bereich ihres Frau- und Mannseins» und zur Lösung von Konflikten benutzen, «die ihnen jenseits sexueller Inszenierungen nicht lösbar erscheinen.»
Etwas einfacher ausgedrückt dürfte dies ungefähr Folgendes heissen: Eine Person hat ein Problem. Und weil sie nicht weiss, wie sie dieses sonst lösen soll, wird sie schwul oder lesbisch. Klingt verdächtig nach dem Argumentationsschema, mit dem auch Fabian im Rahmen seiner Therapien konfrontiert war: Es wird in der Vergangenheit gekramt, um Konflikte und schlechte Erfahrungen aufzuspüren. Diese werden dann wiederum zur Ursache für die gleichgeschlechtlichen Gefühle umdefiniert.
Was auffällt: Wuestenstrom hütet sich davor, das Wort «Umpolung» zu benutzen. «Dieses Wort suggeriert uns ein gewaltsames, manipulatives Eingreifen in die Seele des Menschen.» Massnahmen der «manipulativen Umpolung» würden deshalb abgelehnt und als schädlich und gefährlich gebrandmarkt, schreibt Wuestenstrom in einem Dokument mit dem Titel «Selbstverpflichtung und Grundlagen der Arbeit». Vielmehr wird betont, dass im Prozess der Veränderung die «eigene Entscheidung und Selbstbestimmung wichtig» sei und alle Angebote auf der «Grundlage von Freiwilligkeit» basierten. Nun, so ehrenhaft und hehr das klingen mag: Es erscheint mehr als fraglich, dass sich zum Beispiel ein 14-jähriger Knabe freiwillig in Therapie begibt. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Betroffenen überwiegend aus dem evangelikal-freikirchlichen Umfeld stammen und hauptsächlich innerhalb dieser Kreise verkehren. Folglich sind sie einem Druck ausgesetzt – sei es seitens der Eltern, sei es seitens der Freunde -, dem sich ein junger Mensch wohl nur schwer entziehen kann.

Im Konflikt mit der Berufsethik
Auch andere Organisationen sind in ihrer Wortwahl vorsichtig oder verzichten gleich ganz auf öffentliche Werbung. «Die Beratungspersonen wissen, dass es für sie durchaus heikel werden kann», sagt Fabian. Führen lizenzierte psychologische Fachpersonen diese Therapien durch, dann riskieren sie eine Verletzung der für sie geltenden Richtlinien: «Bieten Mitglieder unseres Berufsverbands entsprechende Behandlungen an, dann geraten sie mit der Berufsordnung in Konflikt», hält FSP-Sprecher Philipp Thüler fest. «Wenn eine solche ‹Therapie› der Berufsethikkommission gemeldet wird, so kann Letzere unterschiedliche Sanktionen verhängen.»

Kontaktvermittlung leicht gemacht
Die Folge von alledem: Auf den einschlägigen Webseiten werden andere Formulierungen benutzt, um auf die Angebote hinzuweisen. «Sie sagen nicht explizit, worum es eigentlich geht», sagt Fabian. Eine «Beratungspraxis» aus Basel zum Beispiel ist noch relativ offen und verwendet für die Beschreibung ihrer Therapien exakt denselben Wortlaut wie Wuestenstrom. Bei einer freikirchlichen Vereinigung, auf die Fabian aufmerksam macht, wird auf der Homepage hingegen nicht mehr als ein Kurzbeschrieb geliefert: «Beratung und Seelsorge im Bereich Identität und Sexualität», steht kurz und knapp.
Personen, die nach einer entsprechenden Behandlung suchen, werden trotz dieser Diskretion meist fündig. Zum einen werden in Bekannten- und Freundeskreisen viele Kontakte unter der Hand weitergegeben. Zum anderen existiert der Verein «Hilfe bei unerwünschter gleichgeschlechtlicher Anziehung», der auf seiner Website «Fachpersonen mit einem christlichen Hintergrund» vermittelt. Das Ziel des Vereins: Er will «Therapie für Hilfesuchende anbieten». Diese Therapie ist dabei «bewusst offen für Veränderung». Was genau sich verändern soll wird sofort klar, wenn man die Überzeugungen des Vereins studiert. So heisst es auf der Homepage, dass die gleichgeschlechtliche Anziehung sich verringern oder ganz abnehmen könne, während sich die heterosexuelle Orientierung entwickle. «Ich weiss von einem Fall, da empfahl die Organisation einen 16-Jährigen an einen Arzt aus Küssnacht weiter», sagt Fabian.

«Oft schicken gerade die Eltern die Kinder in die Umpolungstherapien.»

«Homo-Heilung» als Politikum
Besagte Therapien beschäftigten jüngst auch die Schweizer Politik. Im März reichte BDP-­Nationalrätin Rosmarie Quadranti die Interpellation «Verbot und Unterstrafestellung von Therapien zur ‹Heilung› von Homosexualität bei Minderjährigen» ein. Darin forderte sie den Bundesrat auf, mehrere Fragen zum Thema der «Homoheilungen» zu beantworten. So wollte sie zum Beispiel wissen, was der Bundesrat zu unternehmen gedenke, damit «Psychologen, Therapeuten und Seelsorger, die solche Therapien durchführen, unter Strafe gestellt werden können». Ende Mai veröffentlichte der Bundesrat seine Stellungnahme, in der er die «Therapierung» von Homosexualität als eine schädliche Behandlung verurteilte. Sie sei «nicht nur wirkungslos, sondern mit erheblichem Leid für die betroffenen Kinder und Jugendlichen verbunden». Den Schutz Minderjähriger betreffend verwies er auf das bestehende Netz öffentlicher und privater Jugendschutzeinrichtungen. Darüber hinaus sehe er weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit für weitere spezifische Massnahmen, die Minderjährige vor solchen Therapien schützen. Die Notwendigkeit eines zusätzlichen Gesetzes zum Beispiel, das entsprechende Therapien unter Strafe stellen würde, verneinte der Bundesrat mit dem Hinweis auf die bereits vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen des Psychologieberufsgesetzes. Die Durchführung von Therapien zur Heilung von Homosexualität, ob an Minderjährigen oder Erwachsenen, stelle eine Verletzung der Berufspflichten dar, so die Landesregierung. Diese könne Disziplinarmassnahmen bis hin zum Entzug der Berufsbewilligung zur Folge haben.
Nach Ansicht von Pink Cross, dem Dachverband der Schweizer Schwulengruppen, sind die Antworten des Bundesrates nur bedingt zufriedenstellend. So seien zwar diverse Jugendschutzinstitutionen vorhanden. Diese könnten aber oft erst dann wirksam helfen, wenn sich die Jugendlichen oder deren Eltern bei den entsprechenden Stellen meldeten – ein Punkt, auf den der Bundesrat in seiner Stellungnahme selbst hinweist. Aus diesem Grund, so der Schwulendachverband, entfalle die Kontrollinstanz der Eltern. «Oft schicken gerade die Eltern die Kinder in die Umpolungstherapien.»

Auf der Abrechnung steht beispielsweise, dass die Person wegen Depressionen behandelt wird»

Auch der Verweis auf das Psychologieberufsgesetz reicht laut Pink Cross nicht aus. Die heutige Situation zeige, dass hier Schlupf­löcher bestünden. Anerkannte Psychotherapeuten seien heute in diesen Umpolungstherapien tätig, und würden dabei teilweise sogar von der Krankenkasse bezahlt. «Auf der Abrechnung steht beispielsweise, dass die Person wegen Depressionen behandelt wird», sagt Pink-Cross-Co-Präsident Michel Rudin. «Die Ärzte wissen, wie sie das Ganze formulieren müssen, um kritische Fragen zu verhindern.»

Öffentliche Diskussion erwünscht
Auch Fabian sieht noch Schwächen in der bundesrätlichen Lagebeurteilung. Er findet, dass ein Straftatbestand geschaffen werden müsste, der die Durchführung von «Homoheilungen» explizit als Offizialdelikt statuiert – als Handlung also, die seitens der Strafverfolgungsbehörden von Amtes wegen verfolgt wird. «Eine derartige Strafnorm hätte eine grosse abschreckende Wirkung auf die Person, die Behandlungen anbietet.» Zudem würde es ein wichtiges Signal an die betroffenen evangelikalen Jugendlichen senden. «Sie sähen, dass sich ihr ‹Therapeut› womöglich strafbar macht, indem er sie behandelt.»
Die Interpellation von Rosmarie Quadranti mag bisher noch nicht die Wirkung erzielt haben, die sich Fabian gewünscht hätte. Dennoch ist er froh, dass es die Thematik in den öffentlichen Diskurs geschafft hat. «Solche Therapien sind gefährlich – ich bin froh, dass vermehrt darauf aufmerksam gemacht wird.»


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