Lesbische Sichtbarkeit bei den Opernfestspielen in Bregenz
Queere Neudeutungen von zwei Klassikern auf der Bühne
Neuproduktionen von «Der Freischütz» und «Tancredi» wagen spannende LGBTIQ-Interpretationen: In seiner Kritik zu den diesjährigen Bregenzer-Opernfestspielen schreibt Rezensent Manuel Brug, damit hätte sich das Festival «den Vorarlberger Diversity-Stempel für vorbildliche LGBTIQ-Sichtbarkeit verdient».
Wenn es um queere Sichtbarkeit im Opernbetrieb geht, stand lange Alban Bergs «Lulu» (1937) singulär da – weil in dem Stück tatsächlich eine offen lesbische Figur vorkommt, die man nicht nur so «lesen» kann, sondern die das selbst sagt und auf offener Bühne ausspielt. Es geht um Gräfin Geschwitz, die sich bedingungslos ihrer Liebe der schillernden Titelfigur hingibt. Und sie bis zum Schluss – dem Mord an Lulu durch Jack the Ripper – begleitet. Allein zurückbleibend stürzt sich die Geschwitz in die Themse, sagt aber vorher: «Was mag kälter sein, das Wasser oder ihr Herz?» (Wer das einmal von grossen Geschwitz-Interpretinnen wie Brigitte Fassbaender live gehört hat, wird diese Stelle nicht so schnell vergessen.)
Da «Lulu» seit den späten 60er Jahren zum Standardrepertoire der Opernhäuser weltweit gehört und viel gespielt wird, bekam lesbische Sichtbarkeit dadurch einen enormen Vorsprung – bevor Regisseur*innen anfingen, auch «schwule» Lesarten von Opern wie Mozarts «Don Giovanni» (Beziehung des Don zu seinem Diener Leporello) oder Verdis «Don Carlos» (Beziehung zwischen Carlos und Marquis von Posa) anzubieten, statt der recht verdrucksten «schwulen» Geschichten in Benjamin-Britten-Opern, wo man in den meisten Fälle die queere Ebene sehen konnte, oder eben auch nicht, wenn man nicht wollte (was allerdings der gesetzlichen Lage in Grossbritannien geschuldet war).
«So viele Männerküsse wie noch nie» Erst später kamen offen schwule Charaktere – vergleichbar mit Geschwitz – auf die Bühne, zum Beispiel in Scartazzis «Edward II.» 2017 in Berlin, was aber eine peinigend langweilige Angelegenheit war. Immerhin titelte die Boulevardzeitung B.Z. damals: «So schwul war die Deutsche Oper noch nie!» und versprach «so viele Männerküsse wie in noch keinem Stück am Haus».
Auf eine trans Figur in der Oper – die auch offen über dieses Thema singt – musste man warten bis das Theater St. Gallen 2023 «Lili Elbe» von Tobias Picker und Aryeh Lev Stollman rausbrachte, mit trans Sängerin Lucia Lucas in der Hauptrolle (MANNSCHAFT berichtete).
Während zuletzt junge Regisseurinnen wie Ilaria Lanzino in Nürnberg eine Belcanto-Oper wie Donizettis «Lucia di Lammermoor» (1839) als schwule Coming-of-age-Geschichte in der Jetztzeit erzählten (und Lucia zum pubertären Luca umdeuteten, der gegen die vom Bruder und Priester verordnete Zwangsheirat mit einer Frau rebelliert, MANNSCHAFT berichtete), geht in Bregenz diesen Sommer Regisseur Jan Philipp Gloger – Schauspielchef in Nürnberg und demnächst Direktor des Wiener Volkstheaters – den umgekehrten Weg mit Rossinis Belcanto-Oper «Tancredi».
Das Stück nach einer Vorlage von Torquato Tasso wurde 1813 in Venedig am La-Fenice-Theater uraufgeführt und spielt in Sizilien im Jahr 1005, also zu Kreuzritterzeiten. Es wird eine Geschichte erzählt, bei der sich der Kreuzfahrer Tancredi in die Tochter einer verfeindeten Familie verliebt. (Ein bisschen wie bei «Romeo und Julia» bzw. «West Side Story».) Dem damals 20-jährigen Rossini gelang mit seiner ersten Opera seria der internationale Durchbruch zum vermutlich erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit. Besonderheit des Stücks war, dass Rossini die Titelpartie für eine Frau – einen Mezzosopran – schrieb: Adelaide Malanotte-Montresor. Später übernahmen so bedeutende Sängerinnen wie Giuditta Pasta den Tancredi als Cross-dressed-Paraderolle. Die berühmte Arie «Di tanti palpiti» wurde zum Koloraturschlachtross für viele Sängerinnen, ein Gassenhauser, der quer durch Europa geträllert wurde. Eine Art früher Italo-Pop.
Kapelle, Gym und Leichenlager Für Gloger ist das alles Stichwortgeber, um aus Tancredi tatsächlich eine Frau zu machen, die in seiner Inszenierung die sehr heutige Chefin eines Mafia-Clans auf Sizilien ist. Gloger lässt sich von Bühnenbildner Ben Baur einen Cosa-Nostra-Palast bauen – mit vielen realistischen Palazzo-Details, inklusive Küche, Kapelle, Gym und Waffenschränken. Nicht zu vergessen: Leichenlagern.
In dieser patriarchalen toxischen Mafia-Männerwelt hat es eine lesbisch begehrende Clan-Chefin schwer. Gleich zu Beginn bekommt ein anonymes Opfer ein «Gay»-Pappschild «mit einem letzten Messerstick an die Brust geheftet», schreibt Brug. Tancredi schaut es nachdenkelich an und weiss, was ihr blüht, wenn ihre Beziehung zu Amenaide (der Tochter von Drogenboss Argirio) auffliegen sollte. Als genau das passiert, stirbt die Titelheldin einsam, «nachdem sie vor einem Lesben-Symbol die Waffe gezückt hat und von der Miliz erschossen wurde», so Brug. Er ergänzt: «Das alles bleibt aktivistisch-oberflächliche Behauptung.»
Warum? Weil diese neue Mafia-Geschichte nicht mit der Musik synchronisiert wird (es singen Anna Goryachova den/die Tancredi mit «kerlig profunden Farben», Mélissa Petit deren Geliebte Amenaide ohne «mädchenhafte Melodiebogen-Verletzlichkeit»). Brug weist zudem darauf hin, dass der für die Produktion verantwortliche Dramaturg im Programmheft dauernd von «Er» in Bezug auf Tancredi spricht, was darauf hindeutet, dass sich hier die einzelnen Abteilungen wenig angesprochen haben, was das Konzept der Produktion ist.
«Absurde Splatter-Klamotte in fetziger Nassoptik» Ebenfalls in Bregenz läuft bei den Festspielen dieses Jahr «Der Freischütz» (1821), Carl Maria von Webers deutsche «Nationaloper». Hier von Regisseur Philipp Stölzl zum «monströsen, effektheischenden Grusical» umgedeutet, wie es in einer Kritik heisst.
Statt bieder-nationalistischem Singspiel wird aus dem Stück eine «absurde Splatter-Klamotte in fetziger Nassoptik».
Um die beiden Frauenfiguren im «Freischütz» in einem neuen Licht erscheinen zu lassen, ist die treu ihren Jägermeisteranwärter Max liebende Agathe bei Stölzl schwanger, während ihre Freundin Ännchen als lesbisch gezeigt wird – von Katharina Ruckgaber «kratzbürstig-soubrettenfrech» gespielt/gesungen. In der FAZ heisst es: «Ännchen ist heimlich in Agathe verliebt, würde gern mit ihr durchbrennen, lässt aufdringliche Macker abblitzen und trällert auch sturzbesoffen noch astrein im Duett.» Die Welt schreibt: «Als Pärchen wollen sie eigentlich fliehen, bis (…) Max sie tödlich trifft. Dafür wird er gehängt, sie fährt in die Grube.» Das ist nicht allzu weit entfernt vom Themse-Sprung der Geschwitz.
Die Produktion, die irgendwo zwischen «Sleepy Hollow» und «Nightmare Before Christmas» angesiedelt ist, steht 28 Mal auf dem Spielplan und soll idealerweise 186‘000 Besucher*innen anlocken. Man kann sagen: Das ist ambitioniert.
Die starke Betonung von lesbischen Beziehungen – besonders bei Produktionen dieses Formats – ist selten. Und auch wenn das Gezeigte vielleicht «oberflächlich» und nur «aktivistische Behauptung» ist, sind beide Inszenierungen definitiv sehenswert und auf jeweils eigene Weise richtungsweisend. Entsprechend titelt Die Welt: «Bregenz erhält den Diversity-Stempel für vorbildliche LGBTIQ-Sichtbarkeit im Ländle.»
Ob die gängigen Opernzeitschriften Bregenz tatsächlich mit einem entsprechenden Preis ehren werden, den es bislang in den Preiskategorien von Fachblättern wie Opernwelt noch gar nicht gibt, bleibt abzuwarten. Ihn künftig einzuführen wäre schon mal ein starkes ein Zeichen!
Auf den Spuren von Erika Mann und Therese Giehse in Zürich. Mit MANNSCHAFT+ unterwegs in Oerlikon
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