in

«Lucia di Lammer­moor» als Drama gegen anti-schwule Gewalt

Am Staatstheater Nürnberg wird die Hauptfigur zum Mann: Luca singt trotzdem eine Sopranistin

Lucia di Lammermoor
«Lucia di Lammermoor» in Nürnberg (Foto: Staatstheater/Ludwig-Olah)

Die italienische Regisseurin Ilaria Lanzino macht an der Oper Nürnberg aus Donizettis «Lucia di Lammermoor» ein Drama gegen anti-schwule Gewalt.

Von Roland Dippel

Urbane Kultur-Synergie durch Zufall. Am Sonntag-Vormittag gab es im Germanischen Nationalmuseum zur Ausstellung «Meisterwerke aus Glas» ein Konzert mit Glasflöte. Wenige hundert Meter weiter geht es in der Kunsthalle Nürnberg bis 11. Februar 2024 um «Positionen queerer Gegenwartskunst». Dazwischen Co-Branding für beide Themen: An der Oper Nürnberg feierte Gaetano Donizettis Belcanto- und Primadonnen-Vehikel aus dem Jahr 1835 Premiere – «Lucia di Lammermoor» nach einem Roman des Modeautors Walter Scott.

In Flauberts «Madame Bovary» und Tolstois «Anna Karenina» besuchen die Titelfiguren Vorstellungen des Opernjuwels über die «Braut von Lammermoor», deren Liebe zu einem Gegner ihres Familienclans aus karrieristisch-politischen Gründen zerstört wird und die ihren frisch angetrauten Ehemann in der Hochzeitnacht deshalb ermordet.


Die Wahnsinnige mit dem stieren Blick, den hohen Extremtönen und dem blutbesudelten Nachthemd gehört nach wie vor zu den Basics des Opernrepertoires. Sie war lange Zeit ein Identifikationsobjekt opernbegeisterter Schwuler und Thema für Wissenschaftler*innen wie Catherine Clément.


«Oh, Mr. Sheffiiiield!» – Sitcom-Klassiker «Die Nanny» wird 30


Die Liste der Lucia-Interpretinnen ist ein Legenden-Reigen: Maria Callas, Anna Moffo, Lucia Aliberti, Edita Gruberová, Diana Damrau und viele andere. In Nürnberg brilliert jetzt mit überaus starkem Partiendebüt das Ensemblemitglied Andromahi Raptis. Sogar musikhistorisch korrekt mit Glasharmonika statt der von Donizetti bei der Uraufführung 1835 in Neapel als Notbehelf akzeptierten Querflöte.


Friedrich Kern stand mit seinem Instrument auf der Bühne und lieferte die fast ausserirdischen Klänge. So schön klingt die Utopie einer über den Tod hinausreichenden Liebe. In Nürnberg erkaufte man dieses herzzerreissende Finale allerdings durch grosse Striche, vor allem im dritten Akt.

Oper
«Lucia di Lammermoor» in Nürnberg (Foto: Staatstheater)

Die Lippen auf dem Plakat und die Farbspritzer auf dem Transparent zum Stück – beides in Regenbogenfarben – zeigten an, dass diese queere Konzeption am Staatstheater zu jenem Kunsthalle-Ausstellungsprojekt in Beziehung steht, mit dem die Stadt Nürnberg an ihre Glanzzeit als
Zentrum der Schwulenbewegung um 1980 anknüpft.

Aus Lucia wird Luca – also ein Mann – und damit eine schon wieder klassische ‚Hosenrolle‘. Voraussetzung waren einige Retuschen am grammatisch-dramatischen Geschlecht im italienischen Originaltext von Salvadore Cammarano. Sonst änderte sich kaum etwas. Nach ihren spannenden Nürnberger Regiearbeiten «Der Liebestrank» und «Talestri» war es klar, dass es der inzwischen an grossen Häusern gastierenden Italienerin Ilaria Lanzino nicht um Skandalisierung ging, sondern um gesellschaftliche Anliegen.


Der Magnus-Hirschfeld-Platz in Nürnberg wurde verwüstet. Er ist ein Denkmal für homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus 


Bei Lanzino gibt es sogar eine Leiche weniger als im Original. Denn die vom Bräutigam Arturo zur Braut Emilia gewordene Zweckheiratskandidatin für Luca erkennt den ganzen Lügenschmäh und steigt frustriert aus. Das beschert der ihre einzige Gesangsszene beeindruckend intensiv singenden Sara Šetar eine Schlüsselrolle. Lanzino vergass bei ihrer schwulen Tragödie von Luca und Edgardo also nicht den objektivierenden Funken Empathie für jene, die in den Fesseln ihrer toxischen Heteronormativität das blutige Geschehen in Gang setzen.

Musikalische Formalien zum Ausdruck von Liebe sind auch für homosexuelle Kontexte nutzbar, sogar wenn das von Donizetti nicht so vorgesehen war.

Damit geht es hier nicht darum, im Textbuch angedeutete oder spekulativ für queer erachtete Konstellationen eindeutig zu machen, sondern um die Überformung einer fiktiven heterosexuellen Beziehung in einem schwulen Kontext auf der Bühne. Musikalisch bleibt dieser hier sinnfällig. Denn musikalische Formalien zum Ausdruck von Liebe sind auch für homosexuelle Kontexte nutzbar sogar, wenn das von Komponisten wie Donizetti nicht so vorgesehen waren.

Donizetti komponierte zwar in seinen Opern «Lucrezia Borgia» und «Torquato Tasso» männliche Beziehungen mit einem aus der Musiksprache schwul deutbaren Hintergrund. Aber Lucia Ashton und Edgardo di Ravenswood sind heterosexuell. Unmissverständlich.

Trotzdem und aufgrund der sensiblen wie klaren Figurenzeichnung wirkt die Romeo-und Julius-Variante in Lanzinos Inszenierung nicht gegen den Strich gebürstet. In Lucas Zimmer schwören sich die queere gute Partie und der nicht minder passionierte Edgardo ewige Liebe. Dabei kommt es ganz unspektakulär zu intimen Zärtlichkeiten über und unter der Bettdecke.

Die Intrige aufgefangener Briefe ersetzte Lanzino, die sich genau mit möglichst vielen tagesaktuellen Positionen auseinandergesetzt hat, durch eine Gewaltattacke aus der Familie gegen Edgardo. Diesem klaut man – drastisch ausgespielter Fall von anti-schwuler Gewalt – das Smartphone und bläut Luca dann mit Fake Messages den vermeintlichen Treuebruch ihres Lovers ein. Alles nachvollziehbar wie in einem guten «Tatort».

Anstelle der Wahnsinnsarie phantasiert Luca ihre schwule Hochzeit in Gesellschaft queerer Freund*innen (Choreographie: Valentí Rocamora i Torà). Edgardo ersticht sich nicht selbst, sondern wird brutal erstochen. Nürnbergs sympathischer Aufsteigertenor Sergei Nikolaev haucht als Edgardo seine liebende Seele aus – mit berückend schönen Tönen. Nur die Figur von Lucas sogar einmal selbst im Tränensee badendem Bariton-Bruder Enrico (Ivan Krutikov) gerät etwas grob.

Jan Croonenbroeck zeigt am Dirigentenpult eine glückliche Hand für Donizettis melancholischen Edelschimmer. Die Staatsphilharmonie Nürnberg leuchtet im optimalen Einklang. Dabei steht Lanzino eine ausschliesslich pro-queere Haltung fern, obwohl sie durch Biographien und Coming-Out-Erfahrungen des eigenen Freundeskreis zu diesem Umdenken über eine heute «verstaubte Fehde in den Kreisen des schottischen Hochadels» inspiriert wurde.

Der Handlungsswitch von Straight nach Queer gelingt – gemessen an den dynamitgeladenen Handlungsbedingungen – sogar locker. Lanzino entwickelt Mitgefühl für den queer-feindlichen Priester Raimondo (Nicolai Karnolsky), wertet die von der Regie oft vernachlässigte Alisa zur Solidarkomplizin Luc(i)as auf (voll gut: Anna Bychkova) und macht Donizettis Erzschurken Normanno zum Schwulenhasser (profilierte Leistung: Joohoon Jang). Emine Güner setzt das Geschehen aus dem schottischen Spätbarock in die Gegenwart und kontrastiert Luc(i)as noch postpubertäres Jungenzimmer mit einem feinen Kick Ironie zur schwarzweiss-tristen Schachbrett-Uniformität des heteronormativen Establishments. Der Chor (direktiert von Tarmo Vaask) betreibt Sektkelch-Missbrauch wie in einer von Froststarre befallenen Operette.

Liebesszenen bis zum angedeuteten Blowjob
Das hätte auch schief gehen können, wäre Lanzino nicht eine Könnerin der Personenregie und psychologischen Strategie. Die Liebesszenen bis zum angedeuteten Blowjob sind selbstverständlicher und unverkrampfter als in queer-affinen Soaps. Von Seite der Sängerin und jener der Regie gehören ganz viel Sensibilität für dieses plausible wie spannende Resultat. Schliesslich galt es, Andromahi Raptis zum Verzicht auf die fraulichen Attitüden in dieser  Paradepartie jeder Sängerinnenkarriere zu bewegen.

Das gelang. Raptis bewegt sich mit Natürlichkeit und selbstverständlichen Emotionalität so, als sei sie auf der Bühne schon oft ein Mann gewesen. Dabei muss Raptis weder auf die motivierten Koloraturen noch selbstgewählten Spitzentöne verzichten. Das belcanteske Psychogramm dieses «Luca» stimmt, sitzt und blitzt, auch, wenn hier keine sich konventionell in Szene setzende Routine-Diva leidet. Der Schlussbeifall war so stark und nachdrücklich wie bei jeder geglückten Belcanto-Premiere. Aber nicht alle teilten die Begeisterung für die szenische Seite.

«Nyad»: Eine lesbische Schwimmerin, die die Welt verblüffte. Annette Bening und Jodie Foster überzeugen in dem Film über sportliche Träume, Frauenfeindlichkeit und Altersdiskriminierung (MANNSCHAFT berichtete).


Verbot von Konversionstherapien

Zürich will «Konversions­therapien» verbieten

Wien

Lesung über queere Heldin in Wien abgesagt