Paragraf 377 – Queere Inder*innen erzählen ihre Geschichten
Fotobuch, Ausstellung und Spenden für LGBTIQ-Vereine in Indien
Indiens LGBTIQ-feindlicher Paragraf 377 ist abgeschafft. In einem Fotobuch und einer Ausstellung möchte das Team um Francesco Giordano die Geschichten der indischen Community zeigen und ihre Vereine unterstützen. Dafür haben sie ein Crowdfunding gestartet.
Francesco, wie seid ihr auf die Idee gekommen, nach Indien zu fliegen und queere Menschen zu porträtieren? Vor ein paar Jahren war ich mit meinem Partner im Sommerurlaub in Südspanien. Dort habe ich ein Paar aus Indien kennengelernt, das mir von dem homofeindlichen Paragrafen erzählt hat. Deswegen bin ich zusammen mit den Journalistinnen Stefanie Witterauf und Maria Christoph und der Fotografin Gina Bolle nach Indien gereist, um uns die Situation in den Städten Mumbai, Chennai, Kalkutta und Neu-Delhi anzuschauen. Aus unserer Recherche entstand das Projekt «377. Inside India’s Queer Community», eine Herzensangelegenheit.
Woher kennt ihr vier euch? Wir haben 2019 zusammen mit einem Team von Fotograf*innen und Journalist*innen das Magazin Rainbow Refugees (Stories) veröffentlicht. Darin geht es um geflüchtete Menschen aus der LGBTIQ-Community aus aller Welt, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Identität ihre Herkunftsländer verlassen mussten und nun in Deutschland leben. (Mohammed aus Kuwait und Kehinde aus Nigeria mussten vor ihren eigenen Familien flüchten. MANNSCHAFT+)
Was habt ihr über das Gesetz erfahren, das 2018 abgeschafft wurde? Der Paragraf 377 untersagte sogenannte «sexuelle Handlungen wider der Natur» und kriminalisierte so queere Menschen. Er führte dazu, dass sie verfolgt werden konnten. Das Gesetz war Grundlage für Angst, Bedrohung und Diskriminierung für die LGBTIQ-Community.
Was haben queere Inder*innen als erstes getan, nachdem der Paragraf 377 endlich abgeschafft wurde? Viele unserer Protagonist*innen haben uns von ihrer ersten Teilnahme an der Gay Pride erzählt. Zum Beispiel Reyansh Naarang und Sandhra Sur aus Neu-Delhi, beide non-binär, die sich neben ihrem Studium für mehr Gleichberechtigung und für Schutzräume in Universitäten einsetzen. Sie erzählten uns vom befreienden Gefühl, in der Öffentlichkeit zu sich selbst stehen zu können, von der Euphorie unter vielen Gleichgesinnten zu sein, gemeinsam zu feiern und ihre Botschaften nach aussen tragen zu können.
Was hat sich für die indische Community verändert? Während unserem Aufenthalt in Mumbai haben wir Ashok Row Kavi kennen gelernt. Als erster Inder hat er sich 1984 in der Öffentlichkeit als schwul geoutet. Heute gilt der 75-Jährige als Gallionsfigur der LGBTIQ-Bewegung. Mit ihm haben wir über die Veränderungen und Probleme geredet, die seit der Abschaffung des Paragrafen noch immer bestehen. Schikanen und Erpressungen hätten zwar abgenommen, aber Benachteiligung bliebe bestehen, der Weg zur Gleichberechtigung in der Gesellschaft sei noch weit: Egal ob es um Ehe, Adoption oder Rente gehe. Oder schon darum, das ein homosexuelles Liebespaar eine Wohnung mietet.
Gibt es Unterschiede zwischen den Regionen betreffend der Offenheit gegenüber queeren Menschen? Bei unserer Recherche waren wir in Grossstädten unterwegs, nicht in ländlichen Gebieten. Dort wäre die Situation eine andere, haben uns Protagonist*innen erzählt. Viele der Menschen, die wir in Mumbai, Chennai, Kalkutta und Neu-Delhi getroffen und kennen gelernt haben, stehen offen zu ihrer Sexualität und fühlen sich im Alltag sicherer, seit der Paragraf 377 abgeschafft worden ist. Vikram Aditya Sahai zum Beispiel, die wir in Neu-Delhi getroffen haben, erzählte von häufigen Übergriffen der Polizei, wenn sie nachts in Sari gekleidet unterwegs war. Die Polizei hatte sie wegen Verdacht auf Sexarbeit festgenommen und verhört. Seit der Abschaffung des Paragrafen kann die Polizei sie aufgrund solcher Vorwürfe nicht mehr verhaften. Doch die Abschaffung von einem Paragrafen kann nicht schlagartig das Mindset von 1,3 Milliarden Menschen verändern. Leider gehören gewaltsame Übergriffe, Stigmatisierung und Diskriminierung von der Gesellschaft und der eigenen Familie noch immer zum Alltag vieler queerer Inder*innen.
Gibt es eine Geschichte, die dich besonders beeindruckt hat? Um ehrlich zu sein, haben mich alle Menschen beeindruckt, die wir kennen gelernt haben. Berührt hat mich besonders Ganesh Acharya, der als Jugendlicher mit HIV infiziert wurde. Weil er schwul ist, wurde ihm damals die Behandlung in Krankenhäusern verwehrt. Heute leitet er eine Klinik für queere Menschen in Mumbai, die auf HIV-Behandlungen spezialisiert ist, kostenlose Tests und Betreuung anbietet.
Der Paragraf 377 richtete sich auch gegen trans Menschen, wie geht es ihnen heute? Ebenfalls in Mumbai haben wir die trans Frau Kavya Jaiswal getroffen. Wenn sie spricht, dann redet sie laut, als wolle sie von allen im Raum gehört werden. Ihr selbstbewusster Auftritt hat mir gut gefallen. In Indien arbeiten trans Menschen oft als Prostituierte. Kavya will ihren Körper nicht verkaufen, wenn andere es tun, dann verurteilt sie das nicht, sondern unterstützt sie in ihren Rechten. Sie will beweisen, dass sie als trans Frau mit ihrem Job als Telefonagentin ihren Lebensunterhalt finanzieren kann. Mit ihrer Ausstrahlung setzt sie sich auf queeren Veranstaltungen für andere ein und hält zum Beispiel Reden.
Zwei LGBTIQ-Paare klagen in Indien für die Ehe für alle
In Deutschland gab es den Artikel 175, was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Paragraf 377 in Indien? Beide Artikel führten dazu, dass über hundert Jahre lang homosexuelle Liebe kriminalisiert und das alltägliche Leben von homosexuellen-, bisexuellen- und trans Menschen erheblich beeinträchtigt wurde. Ein offenes Ausleben ihrer Sexualität führte sie ins Visier der Polizei und in öffentlichen Verruf. Diskriminierung gehörte zum Alltag. Artikel wie diese findet man heute immer noch in Ländern, wie beispielsweise Uganda und Tansania.
Einen Unterschied gibt es bei der Anzahl der rechtskräftigen Verurteilungen. In Deutschland wurden zwischen der Einführung 1872 und der Abschaffung im Jahr 1994 insgesamt 140’000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des Artikel 175 verurteilt. In Indien kam es, zwischen 1861 und 2018, zu 200 Verurteilungen. Nicht berücksichtigt ist hierbei der potenzielle Missbrauch und die auf der Basis des Gesetzes von Polizeibeamten begangenen Erpressungen und Schikane.
Als nächster Schritt habt ihr ein Crowdfunding auf die Beine gestellt. Wie weit seid ihr da? Wir freuen uns sehr das erste Fundingziel schon erreicht zu haben und sind unseren Unterstützer*innen dankbar, weil mit ihrer Hilfe der Realisierung unseres Fotobuchs nichts mehr im Wege steht. Wir haben jetzt Halbzeit und hoffen, dass wir noch weiter so tolle Unterstützung bekommen. Mit dem zweiten Fundingziel möchten wir vor allem den LGBTIQ-Vereinen in Indien Geld spenden, um sie finanziell bei ihrer wichtigen Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Ausserdem planen wir eine Ausstellung im Sommer, am liebsten während des Pridemonats, sofern die Coronasituation es zulässt.
Was erwartet die Besucher*innen in der Ausstellung? Wir wollen ihnen die Menschen vorstellen, die wir in Indien kennenlernen durften. Die Menschen, die es nun wagen, offen zu sich selbst zu stehen und zu lieben, wie und wen sie es wollen. Ich stelle mir eine Art Popup-Ausstellung vor, die an einem Donnerstag beginnt und am Sonntag wieder endet. In einem Raum, den man gut belüften kann und den unsere Betrachter*innen ohne grosse Ansammlung passieren können. Die Porträts gross auf Plakate gedruckt, unser Trailer in Dauerschleife an die Wand projiziert. Wir wollen ihnen die Orte zeigen, an denen gerade Veränderung stattfindet und die LGBTIQ-Community in ihrem Streben nach Gleichberechtigung unterstützen.
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