LGBTIQ-Sommerlektüre von «Young Mungo» bis «Yes, Daddy»
Unser Autor liess sich im Londoner Buchladen Gay’s the Word inspirieren
Wer dieser Tage in London ist und im legendären Buchladen Gay’s the Word vorbeschaut, wird staunen über das breit gefächerte Angebot von Neuveröffentlichungen, das dort als Sommerlektüre im Schaufenster und in den Regalen steht. Als Einladung, sich in Geschichte(n) zu verlieren, die bedauerlicherweise von deutschsprachigen Verlagen kaum beachtet werden.
Um gleich mit einem prominenten Beispiel zu beginnen: Douglas Stuarts Erstlingsroman «Shuggie Bain» gewann den Booker Prize, machte auch in deutschsprachigen Medien Schlagzeilen und erschien in einer deutschen Übersetzung (MANNSCHAFT berichtete). Nun hat der schottische Autor ein neues Buch vorgelegt bei einem Grossverlag, mit einem sensationellen Wolfgang-Tillmanns-Coverfoto. Der neue Roman heisst «Young Mungo» und spielt im Arbeiterklassemilieu von Glasgow, wo sich in den 1990er-Jahren die Protestanten und Katholiken bis aufs Blut bekriegen.
Dort verliebt sich der protestantische Teenager Mungo in den katholischen Nachbarsjungen James. Eine «verbotene» Liebe, von der Mungos brutaler älterer Bruder als Bandenanführer nichts wissen darf. Aber auch eine Liebe, die Mungo zeigt, wie absurd und menschenverachtend dieses ganze Hass-System ist, das er um sich herum sieht – in seiner Familie, in der Schule, in seinem Wohnblock, in den untersten Schichten der Gesellschaft.
Atemloser Thrill Stuarts Schilderung der erwachenden ersten Liebe zwischen Mungo und James darf man zu den poetisch schönsten Passagen der LGBTIQ-Literatur zählen. Gleichzeitig erzählt Stuart diese brutal-realistische Geschichte auf zwei Zeitebenen: die zweite spielt nach dem Auffliegen der Beziehung an einem See, wohin Mungo von seiner Mutter mit zwei erwachsenen Männern aus ihrer Anonyme-Alkoholiker*innen-Gruppe geschickt wird. Dieser Ausflug, bei dem Mungo lernen soll ein «richtiger Mann» zu werden, entpuppt sich bald als wenig idyllisch. Und die Männer als weit mehr als Ex-Häftlinge mit Alkoholproblem. Die letzten 100 Seiten des Romans – wo sich beide Handlungsstränge verdichten und zusammengeführt werden – lesen sich wie ein Thriller, den man atemlos verschlingt.
Während allerdings die neuesten Thriller von Ken Follett zeitgleich mit der englischen Originalfassung in Übersetzungen auch auf den internationalen Markt kommen, so ist im Fall von Douglas Stuart der deutsche Hanser Verlag nicht auf die Idee gekommen, das Buch umgehend für den deutschsprachigen Markt zugänglich zu machen.
Der Verlag plant erst fürs Frühjahr 2023 eine entsprechende Veröffentlichung. Offensichtlich will man hierzulande nicht mal einen Booker-Prize-Gewinner so schnell wie möglich in den Handel bringen. Was schon beschämend bzw. bezeichnend ist. Oder beides.
Dean Attas Versromane Ebenfalls in Glasgow spielt der neue Jugendroman-in-Versform von Dean Atta. Er heisst «Only on the Weekends» und steht bei Gay’s the Word natürlich auch im Neuerscheinungsregal.
Attas zweiter Roman ist genau wie sein Erstling «The Black Flamingo» in einer leicht leserlichen Versform geschrieben, wie ein episches Gedicht. Ohne Reime. Das hebt Attas Bücher aus der Masse von Jugendromanen hervor. Genauso die Tatsache, dass er sich gezielt mit dem Erwachsenwerden von jungen schwarzen Männern beschäftigt, die nicht in ein heteronormatives Gesellschaftsmuster passen.
«Black Flamingo» ist die Coming-of-Age-Geschichte eines kleinen Jungen, der Barbiepuppen liebt, eine weisse Mutter und einen schwarzen Vater mit strenggläubiger afrikanischer Familie hat, und den man als Leser*in bis zum Eintritt in die Uni begleitet, wo er schliesslich ganz zu sich selbst findet in einer Drag-Student*innengruppe – die Gruppe der schwarzen Studierenden sah den Titelhelden als nicht «schwarz» genug an und die Queere Studentenvereinigung verlangte von ihm radikalere politischer Ansichten, die er nicht teilte. Das Ganze ist unglaublich witzig und unmittelbar erzählt, kein Problemroman, sondern ein Roman, der die Alltagsprobleme von schwarzen Homosexuellen im heutigen Grossbritannien mit leichter Hand streift. Und dabei eine hochindividuelle Erzählerstimme entwickelt. (MANNSCHAFT berichtete über die neue Queer-History-Doku beim History Chanel.)
Das gilt auch für «Only on the Weekends», wo Hauptfigur Mack (kurz für Mackintosh) bereits 17 ist und sich in seinen supersportlichen Schulkameraden K(arim) verliebt. Macks Familie stammt aus Nigeria, der Vater ist ein erfolgreicher Filmregisseur in England, der alleinerziehend mit dem Sohn in Wohlstand in London lebt. (Die Mutter ist an Krebs gestorben.) Ks Mittelklassefamilie stammt aus Ägypten, er lebt mit seinem Onkel und seiner Cousine Maz zusammen.
Beide Jungs haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie als «queere» Menschen sein wollen
Beide Jungs haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie als «queere» Menschen sein wollen – Mack eher extrovertiert und Genderklischees sprengend, K vollkommen auf traditionelle Männlichkeitsideale fixiert und nicht in der Lage, seine homoerotischen Gefühle offen zu zeigen. Obwohl weder sein muslimischer Onkel noch seine Cousine irgendein Problem mit seiner Beziehung zu Mack haben. Im Gegenteil. (MANNSCHAFT berichtete über die Ibn Rushd–Goethe Moschee, die zum Pride-Monat eine Regenbogenflagge hisste.)
Dreiecksgeschichten Macks Vater entschliesst sich, seinem LGBTIQ-Kind zuliebe einen LGBTIQ-Film in Schottland zu drehen, mit dem weissen blonden blauäugigen trans Social-Media-Star und Jungschauspieler Finlay. Dem Gegenteil von allem, was K ist. Gleich im Prolog des Buchs erfährt man, dass es zwischen Mack und Fin gefunkt hat – und darf sich dann auf den folgenden 520 Seiten im Rückblick fragen, wie das mit dieser Dreiecksgeschichte weitergeht. Man kann das Buch wie eine wunderbare Netflix-Serie lesen und sich vom Erzählton verzaubern lassen.
Apropos: Auch Kacen Callender hat in «Felix Ever After» einen schwarzen Titelhelden, der ein trans Teenager in New York ist und seinen Platz in der Welt sucht, aber auch den passenden Liebes- bzw. Lebenspartner. Dabei wird eine trans Geschichte mit grösstmöglicher Selbstverständlichkeit im Format klassischer Jugendromane erzählt. Als Leser*in erlebt man dabei die schwierige und oft widersprüchliche Selbstfindung von Felix so, dass man versteht, was in diesem Teenie vor sich geht, womit er zu kämpfen hat, mit ihm fühlt und sich freut, wenn alles zu einem wunderbaren – und doch nicht selbstverständlichen – Ende kommt. Das ist grosse Klasse. Umso erstaunlicher, dass auch dieser Titel bislang nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde. (MANNSCHAFT berichtete über die deutsche Bestsellerautorin Cornelia Funke, die in ihren Kinder- und Jugendbüchern das Thema Queerness behandelt.)
Klare Empowerment-Botschaft Während Douglas Stuart eine erschütternde Dystopie mit Glasgow als Hintergrund zeigt, die fast schmerzlich zu ertragen ist (und eigentlich nur durch die Liebesgeschichte irgendwie aushaltbar wird), so zeichnet Atta ein deutlich optimistischeres Bild von jungem queerem Leben in Schottland. Das auch an erwachsene Leser*innen eine klare Empowerment-Botschaft sendet.
Und für Fans von Simon James Green der Hinweis: Sein neuer Jugendroman «Gay Club» ist soeben erschienen und als Sommerlektüre gleichfalls perfekt geeignet. Allein schon, weil Greens Tonfall immer etwas ungemein Belebendes hat.
Man merkt den Kontrast besonders, wenn man sich dem neuen Buch von Becky Albertalli («Love, Simon») zuwendet, das sie zusammen mit Adam Silvera geschrieben hat. Es heisst «Here’s to Us» und ist die Fortsetzung der Liebesgeschichte zwischen Arthur und Ben, die zuvor das Zentrum des Bestsellers «What If It’s Us» bildete.
Die beiden Teenager hatten im ersten Buch nach ihrem gemeinsamen Sommer in New York beschlossen, dass sie keine Beziehung-auf-Entfernung führen wollen bzw. können. Und nun, zwei Jahre später und nach ihrer Trennung, begegnen sie sich wieder. Wie sollen sie sich gegenüber dem Ex verhalten, wenn dieser mit einem jeweils neuen Partner auftaucht? Das sind interessante Fragen, die hier im Jugendbuchformat durchgespielt werden (immer abwechselnd erzählt aus Perspektive von Arthur und Ben, man kennt das aus anderen Albertalli-Büchern).
Das sind interessante Fragen, die hier im Jugendbuchformat durchgespielt werden
Aber während Stuart und Atta mit ihren Geschichten packen und ergreifen, weil die Charaktere mit all ihren Problemen und Gefühlen so «echt» wirken, bekommt man bei «Here’s to Us» den Eindruck, das Ganze sei am Reissbrett konzipiert worden und sehr «generisch». Als gehe es darum, möglichst schnell einen Deal abzuschliessen, damit daraus eine Serie oder ein Film wird. (Dafür ist der Stoff super geeignet.)
«White Passing» Das trübt den Spass bei der Lektüre etwas, trotzdem zieht die Geschichte von Arthur und Ben auch im zweiten Durchlauf in den Bann und stellt wichtige Grundsatzfragen – wie es weitergeht nach einem typischen Happyend, wenn man an unterschiedlichen Orten studiert, wenn man nicht zusammenbleiben kann, wenn das Leben einen woandershin treibt. Hat junge und erste Liebe dann eine Chance? Das können sich selbstredend auch ältere Leser*innen fragen in Bezug auf spätere Beziehungen.
Etwas störend kann auch die Tatsache wirken, dass Ben und sein neuer superattraktiver Freund Mario – beide mit Eltern aus Puerto Rico – hier bewusst als «white passing» daherkommen (wie sie selbst sagen), also eine echte Inklusion von People of Color (wie bei Atta und Callender) ausbleibt. Das ist bedauerlich, weil genau dieser PoC-Aspekt in den anderen Büchern so viele spannende neue Erzählebenen öffnet. Die auch für Nicht-PoC-Leser*innen spannend sind.
Übrigens: Adam Silvera hat in seinen anderen eigenen Romanen eindrucksvoll Themen wie Verlust, Trennung und Depression behandelt, die sonst in Jugendliteratur eher selten vorkommen. Das macht Titel wie sein «History is all you left me» sehr lesenswert. Aber auch diese Bücher liegen nicht auf Deutsch vor. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass Queers häufiger von Depressionen und Burnout betroffen sind.)
«The Secret Life of Albert Entwistle» Von älteren Leser*innen und späteren Beziehungen gesprochen: Eine unbedingte Sommerlektüreempfehlung ist Matt Cains neuer Roman «The Secret Life of Albert Entwistle». Das ist kein Jugendroman, sondern die Geschichte eines britischen Postbeamten kurz vor der Pensionierung, der sich entschliesst, mit 65 sein einsames Singleleben auf den Kopf zu stellen, sich allen gegenüber zu outen und seine erste grosse Liebe zu suchen, die er mit 15 in der Schule kennengelernt hatte – und dann verlor, weil seine Familie ihm in den frühen 1970er-Jahren klarmachte, dass Homosexualität (trotz aller gesetzlicher Veränderungen) keine Option sei.
Dieser späte Befreiungsschlag von Albert Entwistle geht ans Herz. Und auch hier wird die Geschichte auf zwei Zeitebenen erzählt: mit Rückblenden auf die Jugendjahre, wo Albert sich mit George heimlich trifft. Insofern ist das Buch zur Hälfte ein Jugendroman, wenn man so will. Auf dem Cover kann man eine Kurzempfehlung von Ian McKellen lesen («A rollicking love story»), was darauf hindeutet, dass hier endlich auch ältere LGBTIQ-Leser*innen die Liebesgeschichte bekommen, die sie verdienen. Das hebt Matt Cains Buch weit aus der Masse heraus.
In einem Twitter-Chat sagte Cain kürzlich, er träume von einer Verfilmung von «The Secret Life of Albert Entwistle». Das Buch lädt ganz sicher dazu ein, auf die Leinwand gebracht zu werden. Während der Albino Verlag kürzlich auf Instagram verriet, dass Julian Mars‘ Felix-Trilogie (ganz neu: «Was wir immer sein wollten») möglicherweise verfilmt werden könnte, die Verhandlungen laufen scheinbar. Mehr wollte der Verlag nicht verraten. Bei Gay’s the Word gibt’s keine deutschsprachige Belletristik, also stehen Mars‘ Bücher dort nicht im Regal.
Böse Schwule und die Geschichte von Poppers Natürlich gab’s bei Gay’s the Word noch hunderte weitere Bücher, die nicht nur als Sommerlektüre lohnen. Prominent platziert erscheint dort im Sachbuchsegment «Bad Gays: A Homosexual History», ein Buch von Huw Lemmey und Ben Miller (vom Schwulen Museum Berlin) übers «Scheitern des Konzepts von weisser cis-männlicher Homosexualität». Darüber könnte – und sollte! – man streiten, auch darüber, wieso im Buch nirgends erklärt wird, was an historischen Persönlichkeiten wie Kaiser Hadrian oder Friedrich dem Grossen eigentlich «schlecht» ist. Die Autoren bleiben die Antwort schuldig und schwadronieren lieber von Marxismus, Kolonialismus und Rassismus. Was auch nicht weiter erläutert wird; als sei das alles klar und eindeutig. (MANNSCHAFT berichtete über die neue Ausstellung im Schwulen Museum über den «kurzen Sommer des schwulen Kommunismus» in einem besetzen «Tuntenhaus», kurz nach der Wende.)
Es nirgends erklärt wird, was an historischen Persönlichkeiten wie Kaiser Hadrian oder Friedrich den Grossen eigentlich «schlecht» ist
Bei Gay’s the Word gab’s auch viele andere neue Sachbücher, die zur weiteren Erkundung einladen, etwa eine LGBTIQ-Geschichte von Poppers.
Wer sich zwischen Jugendbüchern und später Liebe nicht entscheiden kann, der könnte den Thriller «Yes, Daddy» von Jonathan Parks-Ramage ausprobieren. Parks-Ramage ist der Lebenspartner von Ryan O’Connell («Special» bei Netflix) und schildert in seinem Debütroman eine kalkulierte Beziehung zwischen einem attraktiven jungen Mann, der die Uni gerade beendet hat, mit einem erfolgreichen Theaterautor Mitte 50, an dessen Geld der Jüngere mit einer #metoo-Klage kommen will. Was spektakulär aus dem Ruder läuft.
Auch das ein Thema, das in der LGBTIQ-Literatur bislang nicht wirklich präsent war. Auch hier liegt keine deutschsprachige Veröffentlichung vor.
Die Fortführung der «Heartstopper»-Geschichte Dafür zum Schluss noch ein Hinweis darauf, dass man in London beim Supermarkt Tesco die Novelle «Nick and Charlie» von Alice Oseman kaufen kann. Die ist zwar schon älter (wurde also vor den Graphic Novels publiziert), erzählt aber die Geschichte der «Heartstopper»-Charaktere, nachdem diese bereits seit zwei Jahren in einer Beziehung leben – also als Weiterführung der Graphic Novels. Dass dieses leuchtend gelbe Buch im Supermarkt zum Verkauf angeboten wird, kann man beachtlich finden. Bei Edeka und vergleichbaren anderen Ladenketten in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind bislang keine LGBTIQ-Titel im Sortiment aufgetaucht.
Der Buchladen Gay’s the Word ist nebenbei bemerkt auch eine Partnerschaft mit dem neuen Museum Queer Britain eingegangen. Dieses hat soeben seine Pforten eröffnet am Granary Square, hinterm Bahnhof King’s Cross (MANNSCHAFT berichtete). Es ist eine schicke Location, es gibt auch einige wahnsinnig tolle Exponate – allerdings nur in einem (!) Ausstellungsraum. Verglichen mit dem Schwulen Museum Berlin ist das geradezu lächerlich klein. Aber das SMU fing 1985 auch mal mit einem Raum an.
«The Queer Bible» Derzeit ist geplant, Queer Britain für zwei Jahre an diesem Ort zu «testen». Sollte das Museumskonzept vom Publikum angenommen werden, ist angedacht, umzuziehen und sich zu vergrössern, sagte eine Mitarbeiterin zu MANNSCHAFT beim Besuch.
Im Museumsshop findet man neben Merchandise-Produkten auch – via Gay’s the Word – eine neue «Queer Bible», als neues Testament für junge LGBTIQ, wo bekannte Persönlichkeiten wie Russell Tovey und andere ihre persönlichen queeren Held*innen vorstellen.
Unnötig zu erwähnen, dass es einen solchen Sammelband auf Deutsch auch nirgends gibt. Was es geradezu verpflichtend macht, sich den attraktiv aufbereiteten Titel zu kaufen und als ältere*r LGBTIQ-Leser*in etwas zu staunen, wie queere Geschichte derzeit grundsätzlich neu erzählt und akzentuiert wird. Dabei irritiert vieles, aber das ist auch gut so!
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