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Das Gay-Gen existiert nicht

Die Debatte um das Gay-Gen schien in den letzten Jahren zu verstummen. Nun macht eine neue Studie erneut eine bestimmte Region des X-Chromosoms für die Homosexualität verantwortlich. Das Gay-Gen existiert trotzdem nicht.

[dropcap]D[/dropcap]ie Region Xq28 auf dem X-Chromosom sowie eine Region auf dem Chromosom 8 haben einen grossen Einfluss darauf, ob ein Mann schwul ist oder nicht. So lauten die Erkenntnisse einer neuen Studie, die von Psychologieprofessor Michael Bailey im Februar am jährlichen Treffen der weltweit grössten wissenschaftlichen Gesellschaft, der American Association for the Advancement of Science, vorgestellt wurde. Die Studie analysierte die DNS von 400 schwulen Männern und soll noch dieses Jahr veröffentlicht werden.
«Die Studie zeigt, dass Gene mit der männlichen sexuellen Orientierung verwickelt sind», sagte Bailey.
Die Erkenntnisse sind nicht neu, sondern bestätigen eine Studie aus dem Jahr 1993, die im kleineren Rahmen von Molekularbiologe Dean Hamer durchgeführt wurde. Hamer studierte die Familiengeschichte von 100 schwulen Männern und kam zum Schluss, dass Homosexualität tendenziell vererbbar ist. Mehr als 10% der Brüder von schwulen Männern waren selber schwul im Vergleich zu 3% der Bevölkerung. Auch Onkel und männliche Cousins mütterlicherseits sind mit grösserer Wahrscheinlichkeit schwul, als Verwandte väterlicherseits, so Hamer.
In weiteren Forschungsarbeiten konzentrierte sich Hamer auf das X-Chromosom und somit auf die Gene, die von der Mutter an ihre Söhne weitergegeben werden. Er fand heraus, dass 33 von 40 schwulen Brüdern ähnliche genetische Marker in der Region Xq28 aufwiesen und es sich bei diesen Genen somit um Schlüsselgene in der Frage der sexuellen Orientierung handeln muss.

Konservative empört, LGBT-Aktivisten in Sorge
Vor zwanzig Jahren sorgte Hamers Studie für eine Kontroverse, die wohl einem heutigen Shitstorm gleichkäme. In der Gesellschaft weit verbreitet war die Annahme, dass Homosexualität eher durch die Umwelt «verursacht» wurde, als durch genetische Vorbestimmung. Besonders konservative Kreise vertraten die Ansicht, dass emotional distanzierte Väter oder das Spielen mit Mädchen homosexuelle Neigungen in jungen Männern auslösten. Der Gedanke, dass Homosexualität von den Eltern selbst an die Kinder weitergegeben wird oder gar natürlich sei, sorgte für grossen Aufruhr.
Gleichzeitig befürchteten viele LGBT-Aktivisten, dass bald pränatale Tests die Sexualität eines Embryos voraussagen würden, ähnlich wie im Science-Fiction-Film Gattaca. Beispiel für die im Vergleich zu heute weniger tolerante Haltung gegenüber Homosexuellen ist die Schlagzeile des britischen Boulevardblatts Daily Mail von 1993: «Hoffnung auf Abtreibung dank Entdeckung des Gay-Gens».
[quote align=’left‘]«Aus einer Perspektive der Evolution ist es ein Paradox»[/quote]Doch Hamers Studie – und somit auch die neuste Studie, die im Februar 2014 vorgestellt wurde – kann die Befürchtung einer möglichen Vorbestimmung der männlichen Sexualität mit ihren eigenen Erkenntnissen wieder entschärfen. Ein einziges Gay-Gen gibt es nicht. Stattdessen haben mehrere Gene auf der Region Xq28 einen limitierten und variierenden Einfluss auf die sexuelle Orientierung. Nicht alle schwulen Männer, die an der neuen Studie von Professor Bailey teilnahmen, haben dieselbe Xq28-Region geerbt. Die fraglichen Gene sind also weder ausschlaggebend noch erforderlich, um Männer «schwul zu machen».


Homosexualität ein Paradox?
«Es ist weder kontrovers noch überraschend. Alle menschlichen psychologischen Merkmale sind vererbbar, sie haben also eine genetische Komponente», sagt Qazi Rahman, Psychologe am King’s College in London. «Die Abweichungen in der menschlichen Sexualität können nur zu 30 bis 40Prozent durch genetische Faktoren belegt werden.»
Entschärfung scheint auch die Evolutionslehre von Darwin zu geben. Wie kann ein Merkmal wie die Homosexualität, das 10 Prozent der Bevölkerung betrifft und welches das Zeugen von Nachwuchs verhindert, so häufig von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden? Selbst im Tierreich können homosexuelle Aktivitäten in knapp 400 Gattungen nachgewiesen werden, darunter auch bei den Bonobos, nahe Verwandte des Menschen.
«Aus einer Perspektive der Evolution ist es ein Paradox», sagte Paul Vasey von der University of Lethbridge in Kanada gegenüber der BBC. «Wie kann die männliche Homosexualität als genetische Komponente über evolutionäre Zeiträume bestehen, wenn sich die Träger des Merkmals nicht reproduzieren?»

Homosexualität könnte mit Fruchtbarkeit zusammenhängen
Die Studien von Hamer und Bailey sind nicht die einzigen, die sich mit der Entwicklung der männlichen Sexualität befassen. In den letzten Jahren ist ein wahrer Dschungel aus Studien und Theorien entstanden, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das evolutionäre Geheimnis der Homosexualität zu lüften.
Eine Theorie, die das Evolutionsparadox umgehen könnte, ist diejenige von Andrea Camperio-Ciani, Forscher an der Universität Padova in Italien. So könnte ein bestimmtes Gen sein Reproduktions-Defizit wieder wettmachen, wenn es beim anderen Geschlecht einen entgegengesetzten Effekt hat. Der Forscher und sein Team kamen 2008 auf diese Theorie, nachdem sie vier Jahre lang die Familiengeschichte von 200 italienischen Familien analysierten. Sie kamen zum Schluss, dass Mütter von schwulen Männern sowie ihre Tanten und Grossmütter mütterlicherseits fruchtbarer sind als der nationale Durchschnitt.
Gemäss Camperio-Ciani und seinem Team haben die Gene zur Folge, dass die Träger sich stärker von Männern angezogen fühlen. Männer würden sich daher von anderen Männern angezogen fühlen, während Frauen durchschnittlich mehr Sexualpartner hätten und so auch häufiger schwanger werden als Frauen ohne diese Gene.
«Das ist das erste Mal, das ein Modell auf unsere erhobenen Daten passt», sagt Camperio-Ciani, ein evolutionärer Psychologe. «Diese Gene wirken sexuell entgegengesetzt. Das heisst, wenn eine Frau Trägerin dieser Gene ist, erhöhen diese ihre Fruchtbarkeit. Bei einem Mann reduzieren sie seine Fruchtbarkeit. Es ist ein Merkmal, das ein Geschlecht auf Kosten des anderen begünstigt.»

Nicht genetisch, sondern epigenetisch bedingt
Eine neuere Theorie des amerikanischen Instituts NIMBioS aus dem Jahr 2012 behauptet, Homosexualität habe gar nichts mit den Genen zu tun. «Es ist nicht Genetik. Es ist nicht die DNS. Es sind auch nicht Teile der DNS», sagt Sergey Gavrilets, Forscher am NIMBioS-Institut und Mitverfasser der Arbeit, die sich mit der neuen Theorie der Homosexualität befasst. «Unsere Hypothese basiert auf Epigenetik.»
Gegenüber dem amerikanischen Magazin TIME erklärte Gavrilets, dass epigenetische Markierungen auf der DNS die Empfindlichkeit gegenüber Hormonen im Mutterleib regulieren. Während der Entwicklung des Embryos bestimmen diese Markierungen, welche Gensequenzen zu welchem Zeitpunkt aktiviert werden. So schützen epigenetische Markierungen beispielsweise weibliche Föten vor zu hohen Testosteronwerten im Mutterleib oder kurbeln die Rezeptoren an, sollte ein männlicher Fötus zu wenig Testosteron erhalten.
Gemäss Gavrilets und seinen Kollegen werden epigenetische Markierungen auf der DNS nach ihrer Aktivierung wieder gelöscht. Trotzdem könne es vorkommen, dass diese Markierungen von der einen Generation zur nächsten weitergegeben werden. So würden Markierungen, die einen weiblichen Fötus vor zu viel Testosteron schützen, bei ihrem zukünftigen Sohn für eine Unterempflindlichkeit sorgen.
Obwohl die Annahmen noch nicht mit Studien belegt werden konnten, ist Gavrilets überzeugt, dass seine Theorie solide ist. Experimente könnten zudem belegen, zu welchem Umfang epigenetische Markierungen einen Einfluss auf sexuelles Verhalten haben.
Gavrilets Theorie ist seit ihrer Veröffentlichung kontrovers. So hätten LGBT-Gruppen ihn und sein Forscherteam kritisiert, dass keine wissenschaftlichen Erkenntnisse nötig seien, um ihre Existenz zu rechtfertigen, so Gavrilet.

Der «Big Brother»-Effekt

Auch Qazi Rahman ist der Meinung, dass hormonelle Schwankungen im Mutterleib eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Sexualität spielen. Er spricht von einem «Big Brother»-Effekt, von dem einer von sieben schwulen Männern betroffen ist. Je mehr ältere Brüder ein Junge hat, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass er schwul ist. Grund dafür sei eine Immunreaktion der Mutter auf männliche Stoffe, die von Knaben in der Gebärmutter verursacht werden. Die Immunreaktion werde von Schwangerschaft zu Schwangerschaft stärker, so Rahman. Doch auch diese Theorie ist nur eine Hypothese unter vielen und muss noch bewiesen werden.


[quote align=’left‘]«LGBT-Menschen sind in der Geschichte verfolgt worden, weil die sexuelle Orientierung als ‹Entscheidung› angesehen wurde oder als Produkt einer schlechten Erziehung.»[/quote]

Gentest dank Zwillingsstudie unwirksam
Die genetischen Studien konzentrieren sich alle auf die Erforschung der männlichen Homosexualität. Bei der Entwicklung von Modellen zur Entstehung der lesbischen Sexualität waren Forscher vorerst noch nicht erfolgreich.
«Wir arbeiten noch an der weiblichen Homosexualität, da wir nicht dieselben Resultate erhalten», sagt Andrea Camperio-Ciano. «Es ist möglich, dass wir eine komplett andere Erklärung dafür bekommen.»
Auch Dean Hamer konnte eine Parallelstudie mit lesbischen Frauen zur Xq28-Region nicht vervollständigen. Ob Gavrilets Theorie zu den epigenetischen Markierungen einen Einfluss sowohl auf die männliche als auch auf die weibliche Homosexualität beweisen kann, müssen Studien erst noch belegen.
Mit der Veröffentlichung jeder neuen Studie befürchten LGBT-Aktivisten und Organisationen, dass eine definitive Formel für die Entstehung der Homosexualität erarbeitet und gegen sie verwendet werden kann. Es ist heute ausgeschlossen, dass ein Gentest in Zukunft die Sexualität eines Embryos im Mutterleib voraussagen kann.
Zwillingsstudien haben sogar gezeigt, dass ein eineiiger Zwillingsbruder eines schwulen Mannes mit grösserer Wahrscheinlichkeit heterosexuell ist, obwohl die beiden eine identische DNS besitzen. Ein Gentest, der die sexuelle Orientierung voraussagen könnte, wäre also ineffektiv.

Veranlagung als Chance für gleiche Rechte
Qazi Rahmen glaubt nicht, dass genetische Forschung zur Diskriminierung von Schwulen und Lesben missbraucht werden kann: «LGBT-Menschen sind in der Geschichte verfolgt und misshandelt worden, weil Politiker, religiöse Gruppen und Gesellschaften die sexuelle Orientierung als ‹Entscheidung› angesehen haben oder als Produkt einer schlechten Erziehung.»
In einem YouTube-Video distanzierte sich Dean Hamer von konservativen Kreisen, die seine Forschungsarbeit als Argumente gegen die natürliche Veranlagung der Homosexualität verwendet hatten: «Rechte zitieren mich, weil ich gesagt habe, es gebe kein Gay-Gen. Das stimmt insofern, als dass es kein einziges Gen gibt, das die sexuelle Orientierung bestimmt, wie es auch kein einziges Gen gibt, das für die Augen- oder die Haarfarbe zuständig ist. Diese Merkmale sind von mehreren Genen und ihrer Interaktionen mit externen Einflüssen abhängig. Das heisst aber nicht, dass diese Merkmale nicht genetisch bedingt sind.»
Das Magazin TIME schreibt sogar, dass sich bei einem Durchbruch in der Genforschung die politische und gesellschaftliche Haltung gegenüber Homosexualität weiter öffnen wird: «Wenn festgestellt wird, das Homosexuelle eine vorbestimmte Veranlagung haben, werden viele Argumente gegen ihre Gleichberechtigung an Glaubwürdigkeit verlieren.»

 

Dieser Artikel erschien erstmals in der April-Ausgabe 2014 von Mannschaft Magazin. Jegliche Wiedergabe und Vervielfältigung von nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion gestattet.


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