«West Side Story» in arabischen Ländern zensiert wegen trans Figur
Steven Spielbergs Neuverfilmung des Musicalklassikers darf in verschiedenen arabischen Ländern nicht gezeigt werden
Die Neuverfilmung des Musicals «West Side Story» von Regisseur Steven Spielberg wurde in Saudi-Arabien und weiteren Golfstaaten aus den Kinos verbannt – wegen der Inklusion einer trans Figur.
Nur einen Monat, nachdem den Marvel-Film «Eternals» dieses Schicksal ereilte (wegen der Darstellung eines schwulen Superhelden mit Partner und Kind), ereilt nun Spielbergs Adaption von «West Side Story» das gleiche Schicksal. Und wiederum geht es um die Länder Saudi-Arabien, Katar, Bahrain, Oman und Kuwait. Das berichtet The Hollywood Reporter. Er schreibt, dass die genauen Hintergründe unklar seien, dass jedoch «lokale Quellen» durchsickern liessen, dass die Figur des Anybodys die Zensoren auf den Plan gerufen habe.
Anybodys ist eine Figur, die bereits im Bühnenmusical von 1957 vorkommt. Es geht um einen «Tomboy», der unbedingt Gangmitglied der Jets werden will, aber von den anderen ausgeschlossen wird, weil er ein «Mädchen» ist. Dieser «Jedermann» begleitet die Handlung nur am Rande, spielt jedoch am Ende eine zentrale Rolle, als die Liebesgeschichte von Tony und Maria als Romeo-und-Julia-Reinkarnation ihrem tragischen Ende entgegengeht.
In der berühmten ersten Verfilmung von 1961 spielte Susan Oakes diese einprägsame Nebenrolle. Sexual Minorities Archives schreiben dazu, das sei «die vielleicht erste Darstellung eines trans-maskulinen Charakters im Film»: «Die Figur heisst Anybodys und hängt die meiste Zeit mit dem rein männlichen Gang der Jets ab. (…) Am Ende des Films ist es Anybodys – ein enger Freund von Gang-Anführer Tony (man könnte ihn heute als schwule trans Figur lesen) – zu dem Tony sagt: ‹Geh‘ nach Hause, sei ein Mädchen!› Damit rettet Tony Anybodys Leben in der tödlichen Schlussszene.»
In der Neuverfilmung, die in Deutschland heute ins Kino kommt, spielt der*die nicht-binäre Schauspieler*in Iris Menas die Rolle.
Offen miteinander umgehen In einem Interview sagt Menas: «Der Film zeigt, wie wichtig es ist, etwas über unsere Unterschiede zu lernen und diese zu zelebrieren. Und zu begreifen, dass wir eigentlich nur das fürchten, was wir nicht kennen. Dass wir alle ein bisschen offener und mitfühlender sein müssen im Umgang miteinander.» Das habe Spielberg und die gesamte Besetzung beim Dreh immer wieder demonstriert.
Solche Offenheit sind die genannten Golfstaaten offensichtlich nicht gewillt zu demonstrieren. Und das, obwohl erst letzte Woche aus Katar offiziell vermeldet wurde, dass Homosexuelle dort willkommen seien. Allerdings ging es um Fussball und die zeitlich begrenzte Phase der Fussball-WM 2022 (MANNSCHAFT berichtete). Ein Spielberg-Spielfilm und eine trans Figur sind demnach etwas anderes.
Laut Hollywood Reporter wurde Disney als Produktionsfirma, die hinter 20th Century Studios steht, aufgefordert, den Film neu zu «schneiden». Disney habe das abgelehnt, heisst es.
Was ist mit den schwulen Schöpfern des Musicals? Man könnte natürlich fragen, wie es in den genannten Ländern um Literatur zu den Schöpfern von «West Side Story» steht. Schliesslich waren sie alle – von Leonard Bernstein über Stephen Sondheim, Jerome Robbins bis Arthur Laurents – homosexuell bzw. bisexuell. Das wird in allen offiziellen Biografien thematisiert, auch der Aspekt, wie ihre sexuelle Orientierung und die entsprechenden Lebenserfahrungen in einer zutiefst homophoben Gesellschaft ihre Version der «verbotenen» Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria beeinflusste.
Wer alle «juicy details» erfahren will, zu wer-mit-wem beim Entstehungsprozess im Bett lag, findet diese in Laurents‘ Autobiografie «Original Story By» (2000) ab Seite 325. Laurents berichtete auch, wie der versteckt homosexuell lebende Robbins als Choreograph bei den Proben den Darsteller des Tony (Larry Kert) wiederholt fertigmachte und als «Schwuchtel» vor der gesamten Truppe beschimpfte. Ebenso dessen Lebenspartner, der als Tänzer bei der Uraufführung am Broadway dabei war. Die Figur des Anybodys geht auf Laurents als Autor der Geschichte zurück.
Für die Neuverfilmung hat Spielberg Tony Kushner als Drehbuchautor gewinnen können – immerhin der Schöpfer der ‹Gay Fantasia› «Angels in America», einem der bedeutendsten LGBTIQ-Theaterstücke der letzten 50 Jahre. Kushner hatte schon bei ihrem anderen Gemeinschaftsprojekt «Lincoln» 2012 den homoerotischen Subtext der Geschichte deutlich in den Vordergrund gerückt. Den entsprechenden Subtext kitzelt er auch aus «West Side Story» heraus und wird bei der Beschreibung des Anybodys deutlicher als die Vorlage: in der Officer-Krupke-Szene sagt einer der Jets, Anybodys sei ein «Dickless Wonder», also ein «schwanzloses Wunder», das sich auf der Polizeitstation in die Frauenabteilung setzen solle.
Queerness und Diversität im Musical Broadway-Musicals spielen im Nahen und Mittleren Osten nicht die prominente Rolle, die sie in der anglo-amerikanischen Welt einnehmen und via Streamingdiensten zunehmend auch bei uns. Darüber hatte in der letzten Welt am Sonntag Musikkritiker Manuel Brug ausführlich berichtet (Artikel hinter Bezahlschranke).
Brug schreibt, was das vielleicht Interessanteste am neuen Musical-Boom sei: «Mit Produktionen wie ‹Slippery Slope› am Gorki Theater und ‹Planet Egalia› am HAU hat, zumindest in Deutschland, auch das junge woke Grossstadtmilieu das Musical für sich entdeckt. Die scheinbar mainstreamigste Kunstform überhaupt inszeniert die Themen, die junge und mitteljunge Bürgerkinder heute beschäftigen. Das führt zu einem ganz neuen Mainstream: Queerness und Diversität werden gefeiert wie nie zuvor, das Musical als genuin schwule Kunstform hat ein schier unerschöpfliches Repertoire an queeren Erzählungen.»
Auch Brug zählt in seinem Artikel «West Side Story» in diesem Kontext auf: «Politische Haltung und schwelgerischer Mainstream scheinen sich nicht mehr auszuschliessen.» (MANNSCHAFT berichtete über das neue Musical «Ku’damm 56» in dem Dennis Hupka eine schwule Figur spielt, die sich einer Konversionstherapie unterzieht.)
Hier ist der Trailer zu Spielbergs von der US-Kritik gefeierter Neuverfilmung:
Musicals und schwule Muslime Welche Bedeutung Broadway-Musicals für schwule Männer aus dem Nahen und Mittleren Osten haben, zeigte letztes Jahr Regisseur und Drehbuchautor Mike Mosallam mit dem Film «Breaking Fast». Darin erzählt er die Geschichte des strenggläubigen Muslims Mo, dessen Familie ursprünglich aus dem Libanon stammt und der nun in Los Angeles lebt. Mo befolgt strikt die religiösen Regeln des Islam, inklusive die Fastenregeln zu Ramadan (auf die der Titel des Films verweist). Mo ist gegenüber seiner unterstützenden arabischen Familie geoutet, lebt mit Hassan zusammen, der ihn allerdings wegen der Homophobie seiner eigenen arabisch-stämmigen Familie verlässt und eine Frau heiratet. In seinem Schmerz tröstet sich Mo mit Musicals – und liebt besonders jene von Stephen Sondheim, also dem Texter von «West Side Story». (MANNSCHAFT berichtete über das kürzlich verstorbene Musicalgenie.)
Gespielt wird Mo von Haaz Sleiman, selbst im Libanon geboren und in den Vereinigten Arabischen Emiraten aufgewachsen, bevor er mit 20 in die USA kam. Er spielt auch den schwulen Lebenspartner des Superhelden in Marvels «Eternals» und setzt sich stark für die Sichtbarkeit von schwulen Muslimen ein.
In einem Gespräch für ein Querverlag-Buchprojekt über LGBT-Musicals erzählte mir Sleiman, dass er seine Begeisterung für Musicals als Jugendlicher mit niemandem teilen konnte. Aus Angst vor homophoben Reaktionen gab sich Sleiman damals nicht als Musicalfan zu erkennen: «Es ist für schwule Araber definitiv schwerer als für schwule Männer im Westen, sich zu Musicals zu bekennen. Unglücklicherweise haben viele schwule Araber aus meiner Zeit im Libanon und den Vereinigten Arabischen Emiraten inzwischen geheiratet und führen ein Doppelleben.»
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