Tigran Sargsyan: Warum ein schwuler Pianist aus Armenien fliehen musste

In der ehemaligen Sowjetrepublik gilt Homosexualität vielen als «Propaganda des Amoralischen»

Der armenische Pianist Tigran Sargsyan
Der armenische Pianist Tigran Sargsyan (Bild: Privat)

Der armenische Pianist Tigran Sargsyan wuchs mit dem Gedanken auf, er sei «krank» – weil er sich «anders» fühlte. Er versuchte, das zu unterdrücken, bis ihn eines Tages seine Ehefrau mit einem Mann im Bett entdeckte. Sargsyan verlor seinen Job, wurde von den Eltern enterbt, landete auf der Strasse und flüchtete schliesslich nach Berlin. Dort verabredete er sich mit MANNSCHAFT, um seine Geschichte zu erzählen.

Wir treffen uns in einem Café im Wedding, nahe der S-Bahn. Sargsyan ist für dieses Treffen extra aus dem nördlichen Buch angereist, wo er seit 2023 in einem Heim mit anderen Geflüchteten lebt, während er darauf wartet, dass ein Gericht über seinen Asylantrag entscheidet.

Es ist ihm wichtig, dass andere von seiner Geschichte erfahren – von den «zwei Wesen» in sich, der queeren Person und dem Musiker. Beide zusammen konnte er erst in Deutschland ausleben, in seiner Heimat Armenien war das unmöglich.

Für das Gericht ist dieser Aspekt entscheidend, denn Deutschland stuft Armenien in der Regel als «sicheren Herkunftsstaat» ein, wo keine systematische Verfolgung angenommen wird, weswegen Asylanträge meist abgelehnt werden. Aber es gibt Ausnahmen. Und die Lage von LGBTIQ in Armenien könnte definitiv eine Ausnahme rechtfertigen.

Tigran Sargsyan, als er noch in Armenien lebte
Tigran Sargsyan, als er noch in Armenien lebte (Bild: Privat)

Überall Horrorgeschichten Sargsyan hat zu unserem Treffen einen armenischen Freund namens Stepan mitgebracht, einen offen schwulen, älteren Schauspieler, der schon 25 Jahre in Berlin lebt. Er übersetzt, was Sargsyan auf Armenisch erzählt. Er selbst berichtet, dass in Armenien überall Horrorgeschichten kursieren, die man schon als junger Mensch weitererzählt bekomme. Zum Beispiel diese: «Drei Freunde sitzen zusammen, einer gesteht, dass er schwul ist. Am nächsten Tag ist er tot, mit einer Wodkaflasche im Arsch. Ob das stimmt … wer weiss das schon. Aber solche Geschichten verbreiten Angst.»

Und weiter: «In einer armenischen Zeitung wurde berichtet, dass zwei Deutsche in einer Kneipe mit einem Drink anstiessen und sich anschliessend küssten, kurz danach wurden sie von anderen Männern in der Kneipe in einen eiskalten Fluss geworfen. Menschen in einem Dorf etwas weiter flussabwärts fischten sie aus dem Wasser, lebend. Gott sei Dank. Aber solche Geschichten kennt jeder in Armenien – und jeder ist sehr vorsichtig.»

Neue Prüderie Zu Sowjetzeiten hätte man als Mann in Armenien durchaus diskrete sexuelle Kontakte zu anderen Männern in Saunen und Badehäusern finden können, in Kabinen und Ähnlichem. Die Gesellschaft schaute weg und interessierte sich nicht dafür. Nach der Unabhängigkeit von der UdSSR kam aus dem Iran und der Türkei eine neue «Prüderie», wie Stepan sagt, und es erstarkte die Armenische Apostolische Kirche. Diese machte unter anderem 2017 internationale Schlagzeilen, als sie sich gegen das Filmfestival «Goldene Aprikose» positionierte, wo eine Doku mit dem Titel «Höre mir zu. Nicht erzählte Geschichten jenseits von Hass» gezeigt werden sollte. Darin kommen zehn LGBTIQ-Personen aus Armenien zu Wort.

In sozialen Netzwerken wurde gegen diese «Propaganda des Amoralischen» aufgerufen. Von Kirchenseite hiess es: «Solche Propaganda braucht unsere Gesellschaft nicht. Unser Volk ist Träger des christlichen Glaubens und christlicher Werte. Natürlich kann die Kirche solche gotteslästerlichen Erscheinungen und die entsprechende Propaganda nicht befürworten.» Auch als die britische Botschaft in Jerewan am Internationalen Tag für die Rechte von LGBTIQ eine Regenbogenfahne hisste, schimpften wütende Demonstrant*innen, der Westen würde «amoralische Propaganda» betreiben.

Die Folge: Die meisten LGBTIQ in Armenien leben ihre Sexualität so unsichtbar wie möglich aus, obwohl Homosexualität seit 2003 legal ist und gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht strafbar sind.

Tigran Sargsyan mit der armenischen Flagge
Tigran Sargsyan mit der armenischen Flagge (Bild: Privat)

Letzter Ausweg: Suizid Tigran Sargsyan, 1985 in Jerewan geboren, bestätigt, dass es in Armenien schwierig ist, selbst mit engsten Freund*innen und vertrauten Menschen über eine sexuelle Orientierung jenseits der Heteronorm zu sprechen. «Danach hast du immer Angst vor Verfolgung und Ausgrenzung», sagt er. Das gehe so weit, dass es lebensgefährlich werden könne. Leute würden gelyncht, nur weil sie homosexuell seien. Und von Familien werde man «böse ausgegrenzt». Viele, deren Homosexualität enthüllt werde, begingen Suizid, sagt Sargsyan (MANNSCHAFT berichtete über solche Fälle).

Er selbst dachte lange, wie viele in Armenien, dass seine Homosexualität eine «Krankheit» sei, die er irgendwie «kurieren» müsse. Und dann werde schon alles gut. Deshalb heiratete er mit 20 Jahren eine Frau und wartete darauf, dass die unerwünschten «Gefühle» weggehen würden. Die beiden bekamen zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Sargsyan machte Karriere als Pianist, er gewann in Moskau einen Klavierwettbewerb. Dann arbeitete er als Klavierpädagoge in Jerewan, begleitete Künstler*innen bei Recitals, gab selbst Klavierabende, vorzugsweise mit Musik von Chopin und Beethoven.

Dass Chopin sein Leben lang mit Männern intime Liebesbeziehungen hatte (MANNSCHAFT berichtete), wusste Sargsyan damals noch nicht, auch nicht, dass einige Musikwissenschaftler Beethoven neuerdings als nicht-heterosexuell interpretieren und über seine Liebe zu seinem Neffen spekulieren.

Tigran Sargsyan am Klavier
Tigran Sargsyan am Klavier (Bild: Privat)

Sehnsucht nach einem anderen Mann Bis zu seinem 30. Lebensjahr gelang es Sargsyan, seine Sehnsucht nach einem anderen Mann zu unterdrücken. Er erzählt, dass es in Jerewan einen Cruising-Park gibt, den zu besuchen jedoch extrem gefährlich sei. Die Badeanstalten, von denen Stepan zuvor sprach, gibt es so nicht mehr, weswegen die meisten sich darauf verlassen, Kontakte via Dating-Apps zu finden. Sargsyan begann eine Affäre mit einem vier Jahre älteren Armenier, der aus den USA nach Jerewan zurückgekehrt war. Auch er war verheiratet, allerdings ohne Kinder.

Das ging so lange gut, bis Sargsyans Frau die beiden vor vier Jahren entdeckte – und ihren Mann vor die Tür setzte. Es gab einen Skandal, denn die Ehefrau erzählte auch Sargsyans Eltern von dem Vorfall. Auch sie wandten sich «angeekelt» von ihm ab, genau wie seine beiden Brüder. Er wurde enterbt. Schlimmer noch: Die Ehefrau, die ebenfalls an der Musikschule arbeitete, erzählte ihren Kolleg*innen, was passiert war. Sargsyan verlor seine Anstellung, denn man fand, es sei undenkbar, einen Homosexuellen in die Nähe von Kindern zu lassen. Die Ehefrau untersagte auch jeden weiteren Kontakt mit seinen eigenen Kindern, damals 15 und 12 Jahre alt.

Er sass von einem Tag auf den anderen auf der Strasse. Der vormals heimliche Liebhaber packte seine Koffer und reiste zurück in die USA, er verweigerte jeden weiteren Kontakt und jede Hilfe. Beide haben später nur noch einmal telefoniert, dann – nichts mehr. «Ich hätte mich sehr gefreut, mit ihm irgendwo ein neues Leben aufzubauen, aber er ist in Amerika geblieben», so Sargsyan.

Tigran Sargsyan in Armenien
Tigran Sargsyan in Armenien

Drama mit den Mitarbeiter*innen der Deutschen Botschaft In Jerewan eine neue Bleibe zu finden ist seit dem zweiten Bergkarabach-Krieg fast unmöglich, weil die Mieten explodiert sind, zum einen wegen der vielen Binnenvertriebenen, dazu kamen nach Beginn des Ukrainekriegs viele Russ*innen (IT-Fachkräfte, Selbstständige, Wehrpflichtige), die visafrei einreisen konnten in ein Land, in dem viele Russisch verstehen. Inzwischen seien die Mieten in Jerewan höher als in Berlin, und das will was heissen.

Sargsyan musste Kredite bei der Bank aufnehmen und sich verschulden. Er begann, so weit wie möglich, privat Klavierunterricht zu geben. Und schliesslich versuchte er bei der Deutschen Botschaft, ein Arbeitsvisum zu bekommen, um ausreisen zu können. Sein Bekannter Stepan bestätigt, dass das schwer ist. Denn in der Botschaft arbeiten überwiegend Armenier*innen, und die behandeln jeden, der sich als homosexuell zu erkennen gibt, wie Abschaum. Es dauerte, bis Sargsyan zum Botschafter selbst durchdringen konnte und dann 2023 nach Berlin reisen durfte.

Hier hat ihn die armenische Community nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Oder wie Stepan sagt: «Diaspora-Armenier sind konservativer als die Armenier in Armenien. Das kennt man parallel auch von der türkischen Community in Deutschland. Die sind ‹alle› homophob, das hat keine Grenzen» (MANNSCHAFT berichtete).

Anlaufstelle Schwulenberatung Stepan wurde in Berlin mehrmals verboten, als Lehrer mit armenischen Kindern zu arbeiten. Auch hier ist die Ausgrenzung extrem. Stepan betont, dass in diesem Kontext «die Frauen» homophober als die Männer seien und sich noch ablehnender verhalten würden.

Als Sargsyan in Berlin ankam, ohne Ansprechpersonen, wandte er sich an die Schwulenberatung, über die er Hilfe bekam. Seinem Zimmernachbarn im Asylheim in Buch – einem Mann aus Georgien – sagte er gleich, dass er schwul sei. Falls das für den anderen ein Problem sei, müsse er das Zimmer wechseln. Er wechselte es nicht.

Seither lebt er in einem schrecklichen Schwebezustand, weil er nicht weiss, wie sein Asylantrag beschieden wird. Er darf nicht freiberuflich arbeiten, was für einen Pianisten wie ihn schwierig ist. Ein Klavier gibt es im Heim in Buch auch nicht, weswegen Sargsyan mehrmals pro Woche in eine Bibliothek in Marzahn fährt und sich dort einen Proberaum für zwei Stunden mietet.

Endlich ein «vollständiger Mensch» In all der Zeit habe ihm seine Liebe zur Musik Kraft gegeben. Einer der Gründe, warum er speziell nach Deutschland wollte und nicht anderswohin, war seine Bewunderung für Beethoven. Entsprechend überwältigt war er, als er im Beethoven-Haus Bonn ein Recital geben durfte. Ehrenamtlich. Auch in Berlin trat er wiederholt in Bibliotheken und anderen öffentlichen Räumen auf. Dass das LGBTIQ-Stadtmagazin Siegessäule diese Termine listete und ihnen damit Sichtbarkeit gab, war ihm wichtig. Es kamen erstaunlich viele Leute, womit die Mitarbeitenden der Bibliotheken nicht gerechnet hatten.

In der Musikszene in Deutschland erlebe er eine grosse Offenheit gegenüber Menschen, die jenseits der Heteronorm leben. Das nach all den Jahrzehnten in Armenien zu erleben, sei für ihn eine echte Offenbarung. Denn dadurch fühle er sich erstmals in seinem Leben wie ein «vollständiger Mensch».

Sollte sein Asylantrag nicht bewilligt werden – was dann? «Das ist das Schrecklichste, was mir passieren könnte, denn zurück nach Armenien kann ich auf keinen Fall.»

Inzwischen hat er vorsichtigen Kontakt zu seinen Kindern hergestellt. Er ist inzwischen 40 Jahre alt und blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Er freut sich auf Recitals im postsowjetischen Forum Aviator in Berlin, wo er wieder Chopin spielen wird. Er tut dies, obwohl er sich kürzlich einen Nerv im Rücken eingeklemmt hat und sich lange nur mit enormen Schmerzen bewegen konnte, was man auch bei unserem Treffen deutlich merkt. Aber Sargsyan will sich davon nicht unterkriegen lassen. Nicht nach allem, was er schon überwunden hat.

Granatapfelwein zum Abschied Beim Verabschieden drückt er mir eine Flasche Granatapfelwein in die Hand, eine armenische Spezialität. Als Dankeschön, dass ich mir die Zeit genommen habe, mir seine Geschichte anzuhören. Ich merke an, dass das absolut nicht nötig sei – aber Sargsyan wiegelt ab. Und besteht darauf, dass ich die Flasche mitnehme. Danach verabschiedet sich in Richtung Buch, gestützt von Stepan.

Nur für die Statistik: In Armenien wurde 2007 die Nichtregierungsorganisation Pink Armenia gegründet, mit Büro und Community-Zentrum in Jerewan. Sie bietet auf ihrer Website Broschüren in mehreren Sprachen mit Infos an (unter anderem auf Armenisch und Russisch). Im laufenden Jahr hat Pink Armenia laut Selbstauskunft in 225 Fällen Rechtsbeistand geleistet, 818 psychologische Beratungen gegeben und es gab 486 Hotline-Anrufe mit Bitte um Hilfe.

Im Fall einer Rückkehr nach Armenien könnte Sargsyan nicht wieder als Musikpädagoge und Künstler im Spotlight der Öffentlichkeit arbeiten, denn sobald seine alte Outing-Geschichte rauskäme, würde die Ausgrenzung aufs Neue losgehen. Es wäre ein Leben in der erzwungenen Unsichtbarkeit. Und ständiger Angst, verfolgt und möglicherweise gelyncht zu werden.

Therese Giehse: Schauspielerin, Exilantin, lesbische Ikone. Barbara Yelin verwandelt die Biografie der Künstlerin in eine Graphic Novel (MANNSCHAFT berichtete).

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