«Schachmatt für Polens Rechte»: Ihr Nationalheiliger Chopin war schwul!
Eine Schweizer Radiosendung über die homoerotischen Briefe von Polens berühmtestem Komponisten sorgt international für Schlagzeilen – und bringt die Nationalkonservativen in Rage. Sie sprechen von «Verleumdung»
Analspülungen, leidenschaftliche Liebeserklärungen an diverse Männer und begeisterter Besuch von Klappen, wo «alles gebildet, alles gewaschen» ist: In Polen stehen die Rechtskonservativen Kopf, weil eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Schweizer Kulturradio ihren Vorzeigekomponisten Nr. 1 posthum geoutet hat. Und schwere Vorwürfe an die internationale Chopin-Forschung erhebt, so lange eine falsche Heterolegende gefördert zu haben. MANNSCHAFT sprach mit Moritz Weber, dem Autor des SRF-Features «Chopin war schwul – und niemand sollte davon erfahren».
Die Frage, ob Frédéric Chopin (1810-1849) «schwul» war, ist für die PiS-Regierung ziemlich «unangenehm», schreibt CNN in einem grossen Online-Artikel auf der Frontseite von CNN World. Schliesslich hatte Präsident Andrzej Duda behauptet, die LGBTIQ-Bewegung sei eine «schlimmere Ideologie als der Kommunismus», einzelne Regionen des Landes haben sich bekanntlich zu «LGBTIQ-freien Zonen» erklärt (MANNSCHAFT berichtete), während Jarosław Kaczyński erklärte, LGBTIQ-Personen würden «den polnischen Staat bedrohen». Und die katholische Kirche? Nun ja, die spielt ihre eigene unrühmliche Rolle. Sie bewahrt immerhin in ihrer Warschauer Heilig-Kreuz-Basilika das in Alkohol präservierte Herz Chopins auf, der im Alter von 39 Jahren in Paris starb. Und bis zuletzt in Briefen davon träumte, noch einmal seinen heiss geliebten Freund Tytus Woyciechowski (1808-1879) zu sehen: ein berühmter polnischer Freiheitskämpfer.
Vermutlich ist Chopin neben Papst Johannes Paul II und Marie Curie der berühmteste Pole aller Zeiten. Sogar der Warschauer Flughafen ist nach ihm benannt. Und nun das?
Entsprechend gross waren die Schlagzeilen weltweit, von Indonesien bis Frankreich, den USA bis Grossbritannien und Österreich. Nur deutsche Feuilletons schweigen sich verblüffenderweise aus. Einzige Ausnahme ist ein Artikel in Die Welt, wo Manuel Brug das Thema unter der Headline «Der schmutzige Traum, den ich von dir hatte» hinter einer Paywall ausführlich behandelt. Zur aktuellen Lage schreibt er: «Das Warschauer Chopin-Institut, Lordsiegelbewahrer von Chopins Nachruhm, steckt sehr ostentativ den Kopf in den Sand, will nichts Genaueres wissen.» Genauso wie viele Chopin-Gesellschaften weltweit nichts davon wissen wollen und erzürnt sind, dass ihr Idol nun «beschmutzt» würde mit «Nebensächlichkeiten», die manchen den Musikgenuss «verderben» könnten. Sie sehen Chopin im Zweifelsfall lieber als «asexuell».
Aber den Kopf in den Sand stecken ist schwierig bei so vielen XXL-Headlines, inklusive Titel-Storys, speziell in der polnischen Presse. Und von Asexualität kann angesichts der Briefe kaum die Rede sein. Eine Aktivistin twitterte daraufhin hämisch: «Szach mat, prawaczki!», was so viel bedeutet wie «Schachmatt für die Rechten» (in Diminutiv-Form). Während die Nationalkonservativen in ihren Sprachrohren verkündeten, das Ganze sei üble «Verleumdung», SRF-Autor Moritz Weber würde «lügen». MANNSCHAFT sprach mit Weber über die Vorwürfe und darüber, ob ihn und die SRF-Redaktion der Tsunami an Reaktionen auf ihre Sendung überrascht habe.
Herr Weber, ich musste tatsächlich dreimal hingucken, um zu glauben, dass ausgerechnet das öffentlich-rechtliche Schweizer Kulturradio einen so explosiven Beitrag zu Chopin und einem Queer Reading der polnischen Musikgeschichte gesendet hat… Die Idee ging von mir aus. (lacht) In der Zeit des ersten Lockdowns in Frühjahr fanden wenige Konzerte und Opernaufführungen statt, die ich als Musikkritiker sonst besprochen hätte. Auch im Sommer fielen viele Festivals aus, also all das, wo ich sonst gewesen wäre. So wie viele andere auch, hatte ich viel Zeit, um zuhause zu sein. Da bin ich darauf gekommen, die Chopin-Briefe durchzulesen. Das hatte ich noch nie getan, obwohl ich etliche seiner Biografien kenne. Also bin ich in die Bibliothek gegangen und habe mir die dreibändige französische Briefausgabe aus den 1950er-Jahren geholt, von Bronislaw Édouard Sydow herausgegeben. Ich hatte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ich das alles von A bis Z durchlesen würde…
Warum nicht? Ich hatte nicht erwartet, dass die Briefe besonders interessant wären. Was ich an Chopin-Zitaten bis dahin kannte, war zwar zum Teil sehr schön, aber nicht in einem Masse, dass ich 1.200 Seiten auf Französisch durcharbeiten wollte. Das ist ja schon ein gewisser Effort, wenn man nicht muttersprachlich französisch ist. Aber nachdem ich angefangen hatte zu lesen, merkte ich, wie spannend die Geschichte ist, die sich da ausbreitete, ich merkte, wie toll Chopin schreibt und wie explizit seine Liebeserklärungen sind, von denen ich nie zuvor etwas gehört hatte. Schon gar nicht in diesem Ausmass.
Liebeserklärungen an Männer! Sind in der französischen Ausgabe die Pronomina auch geändert, so als würde Chopin an bzw. über Frauen schreiben? Ja, das ist da auch schon geändert von «er» in «sie». Zudem gibt es bemerkenswert viele Fussnoten. Das ist mir als Erstes aufgefallen. Immer wenn’s in den Briefen am Schönsten wird, grätscht eine Anmerkung rein, in der der Name irgendeiner Frau genannt wird, die hier angeblich gemeint sei. Aber dafür gibt es im Brief selbst keinerlei Belege, denn diese Person kommt dort gar nicht vor. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob das alles nur die Interpretation des Herausgebers sei. Denn sonst müssten sich ja Hinweise irgendwo finden.
War Ihnen sofort klar, dass man die Briefe – trotz austauschter Personalpronomen – homoerotisch interpretieren müsste? Das war offensichtlich. Denn die Liebeserklärungen an Männer sind explizit. Ich hatte schon mal in einem Buch darüber gelesen, dass Chopin schwul gewesen sein könnte. Es gibt von Ende der 1990er-Jahre das Lexikon «Homosexuels et bisexuels célèbres» von Michel Larivière, da kommt Chopin vor. Als ich dann selbst die Briefe las, war für mich total offensichtlich, worum es geht, wenn Chopin immerzu schreibt «Ich küsse dich» und «Ich liebe nur dich» oder «Ich träume oft von dir». Zum Teil finden sich da auch erotische Dinge, wie dass er sich «mit byzantinischen Ölen» einreiben würde, um den Adressaten dann «mit magnetischen Kräften» zum Küssen zu «zwingen» oder dass er sich vor ihm fürchtet wie vor einem «Tyrann – nur du hast die Macht über mich». Und es steht ja jeweils dabei, an wen diese Briefe gerichtet sind, nämlich an seine männlichen Freunde, allen voran Tytus Woyciechowski. Damit war der Fall für mich schnell klar.
Ein polnischer Musikwissenschaftler sagte mir kürzlich, man müsste die leidenschaftlich-emotionalen Briefkonventionen des 19. Jahrhunderts berücksichtigen, man dürfe es nicht unvermittelt als «Homoerotik» interpretieren. Geht das, was Chopin an seine Freunde schreibt, nicht weit über entsprechende Konventionen hinaus? Ja, das würde ich so sehen. Auch wenn man aus anderen Ländern etwa die Korrespondenz von Goethe und Schiller anschaut: die haben sich herzlich geschrieben, aber nie so exklusiv und leidenschaftlich. Chopin gibt in seinen Briefen wirklich seine innersten Gefühle preis. Er sagt, ihm sei «sauer, bitter, salzig». Und er spricht von Kämpfen, die er innerlich ausficht. Auch der Unterschied, den er macht, zwischen Innenleben und Äusseren, ist ein Motiv, das immer wieder vorkommt. Er versteckt seine innersten Gefühle unter einem «Deckmantel». Das ist schon bezeichnend, und es geht weit über das hinaus, was man gemeinhin als «romantischen Geist» des 19. Jahrhundert bezeichnet.
Er versteckt seine innersten Gefühle unter einem «Deckmantel». Das ist schon bezeichnend, und es geht weit über das hinaus, was man gemeinhin als «romantischen Geist» des 19. Jahrhundert bezeichnet
Es gibt Passagen, wo Chopin über eine Analspülung spricht und über Pissoirs in London, in denen er sich rumtreibt… Schreibt man so etwas im 19. Jahrhundert seinen Freunden? Das mit der Spülung schreibt er als 15-Jähriger einem Kollegen. Das kann man natürlich auf verschiedenste Weise interpretieren. Es könnte medizinisches Interesse gewesen sein, damals wurden Einläufe als Heilmethode benutzt. Aber so wie Chopin dann schreibt «Ich werde dir die Finesse dieses Rätsels erklären» – das sollte man schon genauer untersuchen und fragen, was da gemeint ist! Über die Urinale in London habe ich nicht schlecht gestaunt. Im Guardian-Artikel zu meiner Sendung wird auf die Geschichte des «Cottaging» in England eingegangen, also Klappensex. Das war auch einer meiner ersten Gedanken bei dieser Stelle.
Allerdings habe ich diese beiden Passagen erst ganz am Schluss für die Sendung ausgewählt, zuerst ging es mir um die emotionalen Aspekte: Wie tief er geht in der Beschreibung seiner Gefühle, wenn er an Tytus schreibt «Du weisst nicht, wie sehr ich dich liebe!» Wobei es sich um eine exklusive Liebe handelt. Er schreibt: «Ich liebe nur dich» und «nur du hast die Macht über mich». Das hat mich schon berührt. Aber auch später schreibt Chopin an Antoni Wodziński: «Ich denke an dich, wie an Tytus.» Oder an Jan Matuszyński: «Ich träume immer von euch.» Gegen Ende wird es dann dramatisch, als Chopin im Sterben liegt und sich doch noch zweimal aufrafft, um Tytus Briefe zu schreiben und sich bemüht, ihn ein letztes Mal zu sehen. Da schliesst sich der Kreis.
Wie ging’s weiter, nachdem Sie dem Schweizer Radio die Idee unterbreiteten, eine musikwissenschaftliche Bombe zu legen? (lacht) Ich hatte zuerst einige Briefstellen an einen polnischsprachigen Kollegen geschickt und an einen weiteren Muttersprachler und nachgefragt, was genau in den Briefen steht, welche Pronomina im Original verwendet werden, also männliche oder weibliche. Ich habe dann sogar angefangen Polnisch zu lernen, damit ich das auch selbst verstehen und lesen kann, zumindest ansatzweise. Mir wurde klar, dass es grobe Übersetzungsfehler in den bisherigen Briefausgaben gibt. Das habe ich dann mit meinen Vorgesetzten bei SRF besprochen und mit unseren publizistischen Planern. Die waren begeistert von der Idee dieser Chopin-Sendung. Inzwischen war es schon Juli. Auch der Verantwortliche der Sendereihe «Passage» war angetan und hat sofort gesagt, dass ich das unbedingt machen sollte. Wir haben daraufhin Briefstellen für die Sendung ausgewählt und diese extra nochmals neu übersetzen lassen von einer professionellen Übersetzungsfirma nach dem Vieraugenprinzip. Diese Übersetzung nach der «ISO 17100»-Norm erfüllt höchste Qualitätsstandards, worauf wir auf der SRF-Webseite hinweisen. Und diese Übersetzung hat nochmals bestätigt, dass die Briefe teils falsch übersetzt waren und teils weibliche Pronomina hinzugefügt (!) wurden, um eine andere inhaltliche «Tendenz» herzustellen.
Wo findet man denn die Originale? Sie sind abrufbar auf der Webseite des Chopin-Instituts in Warschau. Alle Briefe sind dort verschriftlicht, aber leider nicht als Faksimile online einsehbar. Als ich nachfragte, ob ich Faksimiles bekommen könnte, wurde mir gesagt, die Briefe seien verschwunden. Das ist schon seltsam, schliesslich sind sie ja abgeschrieben und gedruckt, da müssten sie doch irgendwo als Original liegen. Aber man liess meine Anfragen diesbezüglich im Sand verlaufen… Weswegen wir uns beim SRF an die zugänglichen digitalen Briefe gehalten haben und diese verglichen haben mit der neusten wissenschaftlichen polnischen Ausgabe von Zofia Helman aus dem Jahr 2009. Denn wir wollten die Recherche auf der solidest möglichen Basis aufbauen.
D.h. das polnische Chopin-Institut stellt die Briefe mit den richtigen Pronomen zur Verfügung? Ja, aber sie sind nur lesbar für jemanden, der Polnisch bzw. Altpolnisch kann. Die Briefe sind nicht in moderner Sprache geschrieben. Es gibt also viele sprachliche Varianten, die kompliziert sind. Da wir in der Sendung Vorwürfe erheben bzgl. falscher Übersetzungen, musste unsere eigene neue Übersetzung absolut wasserdicht sein. Deshalb haben wir sogar einige Stellen von einer zweiten Übersetzungsfirma – unabhängig und nach der gleichen Qualitätsnorm – nochmals gezielt übersetzen lassen und das Resultat anschliessend von polnischen Muttersprachler*innen verifizieren lassen. Man kann schon sagen, dass das Schweizer Radio sich wirklich Mühe gegeben hat und nicht einfach irgendwas behauptet, ohne Fakten zu liefern.
Ist das ein Arbeitsaufwand, den das Schweizer Radio immer betreibt? Das war schon eine Ausnahme. Da habe ich auch viel von meiner eigenen freien Zeit reingesteckt, was in keinem Verhältnis zum Budget für die Sendung steht. Aber es war eine Recherche mit investigativem Touch, und so etwas ist immer aufwendiger. Ich habe das gern gemacht, weil es mich persönlich interessiert hat als Thema. Und weil es immer spannender wurde.
Ich habe das gern gemacht, weil es mich persönlich interessiert hat als Thema. Und weil es immer spannender wurde
War dem SRF klar, dass das Thema solche Wellen schlagen würde? Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, wir hätten es sicher etwas grösser bringen können, auch online, wenn wir das vorher gewusst hätten. Inzwischen überlegen wir, die Geschichte weiterzuziehen. Es wird auch überlegt, die beiden Teile der Sendung ins Englische und Französische zu übersetzen, für unsere Kollegen von Radio Télévision Suisse (RTS). Aber: Dass es so viel Aufmerksamkeit bekommen würde, mit grossen Artikeln in der US und UK-Presse und in zahllosen polnischen Medien, das hatte niemand erwartet. Mir war schon klar, dass es ein heikles Thema ist. Man hat in der Vergangenheit schon bei Franz Schubert gesehen, wie viel da Aufwand betrieben wurde, um die Homoerotik in seinen Briefen nicht publik werden zu lassen. Mir war also bewusst, dass meine Sendung einigen Leuten in der klassischen Musikwelt nicht so passen könnte.
Maynard Solomon sorgte 1989 mit seinem berühmten Essay «Franz Schubert and the Peacocks of Benvenuto Cellini» für internationale Schlagzeilen, weil er offen über Schuberts Homosexualität schrieb. Wieso solche Aufregung, wenn es um Klassikgötter wie Schubert, Händel, Beethoven oder Tschaikowsky geht bzw. jetzt um Chopin? Es interessiert sich doch sonst kaum jemand für Klassik… Mich haben solche Abwehrreaktionen in der Vergangenheit auch immer wieder erstaunt. Was wir in meinem Feature hören sind schliesslich die eigenen Worte Chopins, und die sind relativ eindeutig. Dass man das nicht einfach als Diskursstimulanz annimmt und es selbst überprüft, wundert mich. Man könnte ja auch zu dem Schluss kommen: «O, da ist uns tatsächlich ein Fehler beim Übersetzen unterlaufen, wir werden dem nachgehen.» Aber lieber behaupten einige polnische Kommentartoren ich würde «lügen». Was Chopins Männerbeziehungen angeht, die nicht gut erforscht sind: Wieso macht sich da nicht mal jemand im Rahmen eines Doktorats oder einer Habilitation ran und liefert neue Erkenntnisse?
Wie lange hat es denn gedauert, bis die polnische Presse reagierte? Eine Woche nach der Erstausstrahlung berichtete Norman Lebrecht auf seiner Website Slipped Disc auf Englisch kurz über das Thema. Daraufhin griffen es verschiedene andere Zeitungen auf, in Deutschland u.a. Manuel Brug in Die Welt. Und dann kamen mit etwas zeitlicher Verzögerung die polnischen Medien, sowohl grosse Boulevardzeitungen, als auch linksliberale Publikationen, die den schwulen Chopin sogar zur Titelstory erhoben. Manche Kommentaroren meinten, das Thema würde im derzeitigen politischem Klima in Polen noch lange verschwiegen werden. Jemand anderes twitterte «Schachmatt für Polens Rechte!» («Szach mat, prawaczki!»).
Hat die polnische Regierung den Schweizer Botschafter einberufen? (lacht) Soweit ich weiss nicht. Aber rückblickend kann ich sagen, dass die Recherche hart war, weil kaum jemand mit mir über das Thema sprechen wollte. Ich habe viele Chopin-Biograf*innen angefragt wegen Statements. Die meisten haben meine Interviewanfragen ignoriert. Obwohl ich über Wochen mehrmals nachgehakt habe. Bei Alan Walker, dem britisch-kanadischen Autor von «Fryderyk Chopin: A Life and Times» (2018), hatte ich sogar über den Verlag Faber & Faber angefragt. Die haben mir wiederholt versichert, dass sie die Anfrage weitergeleitet hätten. Gut, Walker ist 90 Jahre alt, sein Schweigen könnte auch andere Gründe haben… Aber da kam gar nichts zurück. Das Chopin-Institut in Warschau hat sich von Anfang an geziert. Als ich dort wegen eines Interviews anfragte, dauerte es ewig, bis eine Reaktion kam. Und dann bekam ich nur den Pressesprecher vors Mikrofon.
Alan Walker, der letzte Chopin-Biograf, stammt aus Grossbritannien und lehrte lange dort. Ist man im UK nicht sehr viel weiter in Bezug auf LGBTIQ-Akzeptanz? Ich war tatsächlich schockiert, als ich bei Walker las, die homoerotischen Passagen in den Chopin-Briefen seien ein «mental twist». Wie kann man solche Stellen als «geistige Verwirrtheit» abtun?
Der Rest der Walker-Biografie – von den angeblichen und nicht belegten Frauenaffären abgesehen, die in breiten Kapiteln abgehandelt werden – ist als detaillierte Schilderung allerdings gut gemacht. Ich kann mir vorstellen, dass Walker sich auf die existierenden Übersetzungen verlassen hat. Wenn man kein Polnisch kann, muss man das schliesslich tun. Damit ist das fehlerhafte Grundmaterial auch das Grundproblem für alle nichtpolnischsprachigen Forscher*innen. Das müsste als Erstes aufgearbeitet und neu herausgebracht werden, mit den Handschriften z.T. auch als forensischen Scans, denn es gibt Briefe, wo offensichtlich Kreuze reingemacht und ganze Sätze gestrichen bzw. unkenntlich gemacht wurden. Das müsste sauber aufgearbeitet werden, denn wenn schon im Quellenmaterial Fehler drin sind, setzt sich die Fehlerkette endlos fort.
Wie kann man solche Stellen als «geistige Verwirrtheit» abtun?
Ist es «systemische Gewalt», wie jemand in Ihrer Sendung sagt, dass sich die Musikwissenschaft weigert, hier etwas zu unternehmen? Es ist erstaunlich, dass da immer noch solch ein Knoten drin steckt, was das Verweigern von Fakten angeht, die man selbst nach doppelter und dreifacher Prüfung nicht akzeptieren will. In den Chopin-Biografien wird aus den kleinsten Hinweisen – beispielsweise auf die Sängerin Konstancja Gładkowska – eine Affäre konstruiert. Chopin schreibt tatsächlich über sie, aber nur darüber, wie sie singt. Und das tut er nur am Rande, er erwähnt noch, dass sie ein hübsches Kleid angehabt hätte. Daraus wird dann eine «grosse Liebe» konstruiert. Mit so etwas lenkt man davon ab, dass Chopin sehr viel Eindeutigeres an Tytus geschrieben hat. Das kann man gar nicht vergleichen in Bezug auf Emotionalität und Leidenschaftlichkeit, wo zudem noch expressis verbis von «Liebe» die Rede ist.
Neben den Reaktionen aus Deutschland, Grossbritannien, Polen und bei Slipped Disc in den USA: Wie weit reicht die Aufregung rund um Ihre Sendung inzwischen? Sogar die New York Daily News haben gerade darüber berichtet, immerhin eine der auflagenstärksten Zeitungen der USA. Und der TV-Sender CNN hat gestern ein Interview mit mir gemacht.
Herzlichen Glückwunsch! Hat Ryan Murphy sich schon gemeldet? (lacht) Nein, noch nicht.
Wäre das nicht ein perfektes Thema für ein Biopic? Auf jeden Fall. Ich habe in meinem eigenen Feature schon gezeigt, wie gut die Musik aus der jeweiligen Lebensphase zu den Briefen und Ereignissen passt. Auch als Virtual-Reality-Projekt würde das Ganze gut funktionieren.
Was werden Sie selbst künftig mit dem Thema machen: als Chopin-Experte durch die Welt reisen und Vorträge halten? Es gab Anfragen, um bei einem Festival einen Vortrag zu halten oder Artikel für ein Klaviermagazin zu verfassen. Ich bin natürlich daran interessiert, das Thema noch in anderer Form zu präsentieren. Aber ich habe auch andere musikjournalistische Dinge, mit denen ich mich befassen möchte. Chopin wird mich sicher weiterbegleiten. Wichtiger als meine Arbeit wäre allerdings, dass die Wissenschaft jetzt den Stab übernimmt und die Grundlagen zu Chopins Leben neu zur Verfügung stellt. Eine Dissertation oder Habilitation zum Thema würde Jahre dauern, das kann ich als Journalist nicht leisten. Man müsste sich dabei auch auf die Suche machen nach jenen Briefen, die Chopin von anderen Männern bekam, denn die sind erstaunlicherweise – ausgerechnet! – alle nicht mehr da, während sich der grosse Rest erhalten hat.
Chopin schreibt an seinen geliebten Freund Tytus, dass der langsame Satz aus dem f-Moll-Klavierkonzert Opus 21 seine Gefühle für ihn am besten ausdrücke. Kann diese verführerisch-schwärmerische Musik jetzt noch gespielt werden in Ländern wie Russland, wo «Homopropaganda» verboten ist oder in Polen selbst, das ja in einzelnen Zonen «LGBTIQ frei» sein will? Der Vorteil von Chopins Musik war, auch für Chopin selbst, dass sie keine Worte enthält. Deshalb sind seine Klänge nicht offensichtlich homoerotisch.
Das gilt auch für den Walzer, den er für Tytus schreibt und an ihn schickt, und der eine geheime «Stelle» enthält, von der nur Tytus wisse, wie es in einem Brief heisst. Chopin ist ja weltweit einer der meistgespielten Komponisten; es wäre töricht, seine Musik fortan nicht mehr zu spielen, nur weil jemand den Klängen Homopropaganda unterstellen würde. Seine Kompositionen klingen ja nach wie vor gleich.
Was war denn die krasseste Reaktion auf Ihre Sendung? Viele schrieben abwehrend: «Wen interessiert das überhaupt?» Aber ich finde es doch relevant, in wen Chopin verliebt war, denn es zeigt ein anderes Bild von ihm als Mensch, als das, was bisher kolportiert wurde. Es geht um seine inneren Kämpfe, die auch in seiner Musik zu finden sind. Und die kommen dann eben doch aus einer ganz anderen Richtung, als bisher erzählt wurde. Diese Kluft zwischen Innerem und Äusserem, dieses Versteckenmüssen seiner Gefühle, sein ganzes Leben lang, das finde ich durchaus relevant für seine Musik. Er schreibt einmal an Tytus: «Dem Klavier vertraue ich das an, was ich dir gerne sagen würde.» Seine Gefühle zu Tytus hat er also auch in seine Kompositionen hineingegossen.
Das übergeordnet Traurige an der ganzen Geschichte ist, dass Chopin sein Innerstes verstecken musste und dass es heutzutage mancherorts auf der Welt immer noch Menschen gibt, die das tun müssen
Das übergeordnet Traurige an der ganzen Geschichte ist, dass Chopin sein Innerstes verstecken musste und dass es heutzutage mancherorts auf der Welt immer noch Menschen gibt, die das tun müssen. Auch in der Schweiz. Nicht unbedingt weil sie es hier müssen, sondern weil sie Angst haben, Homosexualität könnte Anfeindungen provozieren oder ihrem Ruf in der Öffentlichkeit schaden. Ich habe da eine sehr berührende Hörerreaktion bekommen. Ein Herr schrieb mir: «Allerdings steht die ganze Tragik der Menschheit im Vordergrund, dass immer noch viele Menschen nicht ihr eigentliches Leben leben können und ihre Gefühle verstecken müssen. Und 200 Jahre später sind wir immer noch nicht so viel weiter. Was auch die vielen Ausreden belegen, mit denen behauptet wird, wie schwierig es sei, die Briefe richtig zu verstehen.»
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