Skandal in Mexiko: «Ball der 41» zeigt LGBTIQ-Geschichte in Lateinamerika
In Mexiko war die Zahl «41» lange Synonym für Homosexualität. Zu den historischen Hintergründen hat Netflix einen wichtigen neuen Spielfilm ins Programm genommen
Netflix bietet seit neuestem den opulenten Kostümfilm «Ball der 41» über den ersten Homosexuellenskandal in Mexiko, der sich Anfang der 20. Jahrhunderts ereignete. Es ist eine wichtige Aufarbeitung der LGBTIQ-Geschichte in einem Land und einer Zeit, über die meist wenig bekannt ist.
In Deutschland gab es 1907 die berüchtigte Eulenburg-Affäre, um den engsten Vertrauten des Kaisers und seinen sogenannten «Liebenberger Kreis»: eine Gruppe von homoerotisch veranlagten Männern, die laut Vorwurf des Journalisten Maximilian Harden das Deutsche Reich von innen zersetzten. Beim sich daraus entwickelnden Verleumdungsprozess war über drei lange Jahre hinweg das Wort «Homosexualität» fast täglich in den Zeitungen, und es wurde erstmals öffentlich darüber debattiert, was Homosexualität eigentlich bedeutet. Der als Experte vorgeladene Magnus Hirschfeld wurde durch den Prozess zu einem Namen, den jeder kennt. Der Sänger Otto Reutter schrieb sogar das «Hirschfeld-Lied» über ihn, so berühmt wurde der Sexualwissenschaftler und so omnipräsent war das Thema mit einem Schlag.
In England hatte es schon 1895 den Oscar-Wilde-Prozess gegeben, der Homosexualität und die entsprechenden Netzwerke von männlicher Prostitution und gesellschaftlich hochgestellten Akteuren in die Schlagzeilen brachte. Lange Zeit danach hatten Schwule «Die Oscar-Wilde-Krankheit» – wie es E. M. Forster formuliert –, weil es kein allgemein gebräuchliches Wort gab. Es sei denn man wollte sich als «Sodomit» bezeichnen.
Der Geheimclub der «Maricones» In Mexiko gab es 1901 auch einen grossen Skandal rund um einen Club gesellschaftlich hochstehender Männer, die ihre homoerotischen Neigungen miteinander, aber vor allem mit bezahlten jungen (Sex-)Arbeitern auslebten in Privaträumen. Dieser Geheimclub veranstaltete auch regelmässig Bälle, bei dem die Mitglieder teils in Frauenkleidung teils in Frack kamen, miteinander tanzten und die Utopie einer alternativen Gesellschaft zelebrierten. Solche Bälle gab es auch in Berlin am Ende des 19. Jahrhunderts, wo der Polizeipräsident meistens eine schützende Hand über die Veranstaltungen hielt, wie man im Katalog zur 1984er Ausstellung «Eldorado: Geschichte, Alltag und Kultur homosexueller Frauen und Männer in Berlin von 1850-1950» des Schwulen Museums nachlesen kann. Denn im Fall einer Razzia standen am nächsten Tag die Namen aller Anwesenden in der Zeitung, was gesellschaftlicher Selbstmord war – der oft tatsächlichen Selbstmord zur Folge hatte.
In Mexiko kam es 1901 bei einem solchen Cross-dressing-Ball zu einer Razzia, bei der 41 Männer verhaftet und vor Gericht gestellt wurden. Weswegen man vom «Ball der 41» sprach. Sie wurden wegen «Verletzung von Moral und Anstand» verurteilt, die meisten zahlten eine Geldstraf, zwölf Männer wurden in Arbeitslager nach Yucatán geschickt – genau wie Oscar Wilde zu «hard labour» als Strafe für sein «grob unsittliches Verhalten» abgeurteilt wurde. Er starb kurze Zeit nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, weil seine Gesundheit ruiniert war.
Schwiegersohn die Staatspräsidenten Der Fall in Mexiko bekam besondere Brisanz durch den Umstand, dass laut Gerüchten auch der Schwiegersohn des Präsidenten Porfirio Díaz bei dem Ball anwesend gewesen sein soll. Sein Name: Ignacio de la Torre y Mier, ein wohlhabender Geschäftsmann und Politiker. Allerdings taucht sein Name nicht auf der Liste der verhafteten Männer auf, möglicherweise, weil sein Schwiegervater dafür sorgte, dass Igancio stillschweigend laufen gelassen wurde. Viele nannten ihn daraufhin die «Nummer 42». (MANNSCHAFT berichtete über die neuesten Entwicklungen zum Umgang mit Homosexualität in Mexico.)
Fortan galt die Zahl «41» in Mexiko als Synonym für Homosexualität. Noch 1965 konnte der Essayist Francisco Urquizo behaupten: «In Mexiko gilt die Zahl 41 als Beleidigung. […] In offiziellen Dokumenten wird bei Numerierungen die Zahl 41 übersprungen. Kein Regiment in der Armee hat die Nummer 41. […] In Strassen haben nach offizieller Zählung keine Häuser die Nummer 41. Wenn sich eine entsprechende Zählung nicht vermeiden lässt, wird 40a und 40b verwendet. In Hotels und Krankenhäusern gibt es kein Zimmer 41. Viele feiern ihren 41. Geburtstag nicht und gehen direkt von 40 zu 42. Autos haben keine Nummernschilder mit der Zahl 41. Und Polizisten nehmen keine Dienstmarke mit dieser Zahl an.»
Entsprechend tief verwurzelt ist die Geschichte vom berüchtigten «Ball der 41» in der mexikanischen Populärkultur. Der Regisseur David Pablos hat daraus letztes Jahr den mexikanischen Spielfilm «El baile de los 41» gemacht, für den Drehbuchautorin Monika Revilla eine Geschichte zu den möglichen Hintergründen erdacht hat, in deren Zentrum Ignacio de la Torre y Mier, seine Ehefrau Amada Díaz und sein fiktiver Lover Evaristo Rivas (genannt «Eva») stehen.
Das unendliche Leid der Ehefrauen Dieser Film feierte im November 2020 beim Morelia International Film Festival Premiere, wenig später kam er in Mexiko regulär ins Kino. Soweit «regulär» in Zeiten von Corona möglich ist. Vermutlich hätte global kaum jemand etwas davon mitbekommen, wenn sich Netflix nicht entschlossen hätte, den «Ball der 41» ins Programm zu nehmen, zur Ergänzung seiner Auswahl an LGBTIQ-Spielfilmen und Dokus. So tauchte der Film in Synchronfassungen Mitte Mai beim Streamingdienst auf und erlaubt einem sehr grossen Zuschauer*innenkreis, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, wie homosexuelles Leben vor 100 Jahren aussah. Vor allem auch in einer Region, die normalerweise nicht im Fokus von europäischen oder anglo-amerikanischen Queer Historiker*innen steht.
Was der Film besonders brillant zeigt – neben den opulenten Kostümen und ausladenden historischen Dekors –, sind die emotionalen Verletzungen, die Igancios Ehefrau Amada erlebt, eine Indigene, die einen schwierigen gesellschaftlichen Status hat und dann auch noch von ihrem Ehemann sexuell ignoriert wird, man könnte sogar sagen: erniedrigt. Im Film findet sie heraus, dass ihr Mann eine Affäre mit «Eva» hat und ist bereit das zu akzeptieren, solange er ihr ein Baby macht, um den Schein einer glücklichen Ehe zu wahren. Ignacio flüchtet vor dieser Vorstellung und vor Amada, die quasi versucht ihn zum Sex zu nötigen. (Darf man hier von Vergewaltigung sprechen?) In ihrer Frustration geht sie schliesslich zu ihrem Vater, dem Staatspräsidenten, der Ignacio unter polizeiliche Beobachtung stellen lässt. Was dazu führt, dass die Polizei etwas vom ominösen Ball mitbekommt und eine Razzia durchführt.
Über eine solche Ehesituation wissen wir im Fall von Oscar Wilde und seiner Frau Constance sehr viel, auch im Eulenburg-Skandal haben die Ehefrauen ausgesagt, was besonders im Fall von Eulenburgs Intimfreund Kuno von Moltke zu auflagenfördernden Aussagen der Exfrau führte, die Moltkes brutal ablehnendes Verhalten im Ehebett detailliert schilderte. Solche Schockszenen sieht man im neuen Netflix-Film häufiger, eine wichtige Erinnerung, dass in diesem gesellschaftlichen Korsett, in das alle Beteiligten gezwungen waren, nicht nur die Homosexuellen litten, sondern alle.
Eiskalte Rache Mabel Cadena als Amada Díaz spielt diesen seelischen Zusammenbruch und die eiskalte Rache, die sie schliesslich nimmt, genial. Und Emiliano Zurita als Evaristo Rivas sieht nicht nur umwerfend gut aus, sondern schafft es, die Ängste vor der Umwelt und die Sehnsucht nach einem anderen Leben mit Ignacio glaubhaft zu vermitteln.
Bleibt Alfonso Herrera als Ignacio de la Torre y Mier. Auch er sieht in den kolonialen Belle-Epoche-Kostümen und mit Schnauzbart überaus attraktiv aus. Er hat auch einige wunderbar unverklemmte und explizite Liebesszenen mit Evaristo. Aber Herrera zeigt nichts von dem ungeheuren Druck, der auf ihm liegt – von der Angst vor Erpressern, vom Stress, dem er in der Regierung und Gesellschaft ausgesetzt ist, von seinen Gefühlen für Amanda, die er scheinbar nur aus Kalkül geheiratet hat, die damit aber dennoch eine Machtposition einnimmt, mit der er sich arrangieren muss, wenn er es sich mit seinem Schwiegervater nicht verscherzen will.
Widersprüche sichtbar machen Wer zuletzt die ebenfalls bei Netflix neu gestartete dokumentarische Ryan-Murphy-Serie «Halston» gesehen hat, über den US-amerikanischen Stardesigner der 1970er-Jahre, der konnte am Spiel von Ewan McGregor studieren, wie man mit minimalen Gesten und Blicken ein überzeugendes Porträt eines zerrissenen und widersprüchlichen Mannes kreieren kann, der eigentlich unsympathisch ist, bei dem man als Zuschauer*in aber dennoch mitfühlt. Herrera tut das nicht bzw. wird von der Regie nicht zu solchen Momenten geführt. Weswegen der Film teils ein bisschen oberflächlich-flach bleibt, statt in die Tiefe abzutauchen. Das ändert nichts daran, dass er sehr sehenswert ist als LGBTIQ-Geschichtsstunde aus Lateinamerika.
Natürlich kann man solch eine Geschichte auch anders aufbereiten. Erinnert sei an die neue Doku «The Importance of Being Oscar» (2019), die leider bislang nicht bei Netflix aufgetaucht ist. Da kommentieren und analysieren Experten aus heutiger Perspektive die Vorfälle von damals, kombiniert mit historisch nachgestellten Szenen, die denen aus «Ball der 41» verblüffend ähneln. Wobei Freddie Fox (aus «Cucumber»), Ed Stoppard und Ben Lloyd-Hughes als drei extrem prominente Darsteller genauso hinreissend aussehen wie Herrera und Zurita.
Auf eine filmische Aufarbeitung der Eulenburg-Affäre wird man wohl hierzulande noch warten müssen, obwohl es zu ihr sehr viel mehr überprüfbare (und filmreife) Fakten gibt als zum «Ball der 41». Jannik Schümann ist derzeit bei Dreharbeiten zu einem neuen «Sisi»-Film in Riga. Man fragt sich, was es da neu zu erzählen gibt? Zumindest sehen die von Schümann geposteten Fotos auf Instagram nicht nach einer radikal neuen queerfeministischen Interpretation der Kaiserinnengeschichte aus. Und in der ARD gab’s bekanntlich «All You Need» als LGBTIQ-Versuch, statt alles rund um Eulenburg. (MANNSCHAFT berichtete über die neue Serie.)
Weitere historische Stoffe jenseits von Stonewall Aber vielleicht nimmt sich ja jemand am «Ball der 41» ein Beispiel und durchforstet das Feld der historischen LGBTIQ-Stoffe genauer. Im Fall der lesbischen englischen Landbesitzerin Anne Lister (1791-1840) wurde daraus die grandiose Serie «Gentleman Jack», die man als DVD kaufen kann. Sie basiert auf den Tagebüchern von Lister, in denen sie ihr Liebesleben detailliert beschreibt und Drehbuchautor*innen all die Punkte liefert, die sich Monika Revilla beim «Ball der 41» ausdenken musste. Wobei man bei Lister sieht: Die Realität ist oft facettenreicher und mutiger, sexuell befreiter und moderner, als viele sich in Bezug auf historische Stoffe vorstellen können.
Was an all diesen Filmen und Serien jenseits der ewigen Stonewall-Fokussierung faszinierend ist, ist die Erkenntnis, dass Gay Liberation und alles was damit zusammenhängt, nicht erst in den 1960er-Jahren anfing. Es lohnt, die Vorgeschichten besser zu kennen, ganz besonders auch die, die ausserhalb des europäischen und nordamerikanischen Kulturraums liegen. Vielleicht macht sich ja auch jemand daran, entsprechende historische Stoffe aus dem arabischen Raum zu Filmen zu machen?
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