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Die Deutschen «erfanden» das Schwulsein

Homosexualität als deutsche «Erfindung»? Der Historiker Robert Beachy entwirft diese These in seinem Buch «Das andere Berlin» über die Jahrzehnte vor der Nazi-Zeit. Deutsche Geschichte andersrum.

(dpa) Als eine Art Ironie der Geschichte sieht es der amerikanische Historiker Robert Beachy (50), dass in Berlin und anderen deutschen Städten die jährlichen Gay-Prides im Sommer «Christopher Street Day» heissen und damit nach Ereignissen in New York benannt sind. Denn eigentlich sei doch Homosexualität, wie man sie heute wahrnehme und einordne, eine deutsche «Erfindung», weiss Beachy, der zurzeit in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul lehrt.

In seinem Buch «Gay Berlin: Birthplace Of A Modern Identity», das jetzt auf Deutsch vorliegt – Titel: «Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867-1933» – legt der Autor ausführlich (auf mehr als 450 Seiten!) die für manchen vielleicht überraschende These dar, dass nicht erst die Homo- und Trans-Aufstände 1969 in Manhattan gleichgeschlechtlich orientierte Menschen nachhaltig ins Bewusstsein brachten, sondern ganz bestimmte Umstände im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik.


Im 19. Jahrhundert galten Schwule als drittes Geschlecht
Im patriarchalischen 19. Jahrhundert ging es dabei in erster Linie um Männer. Der Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) nannte Männer, die auf Männer stehen, «Urninge» – für ihn ein Drittes Geschlecht: Wesen mit männlichem Körper und femininer Seele. Ihr Begehren sei keine Krankheit, sondern eine natürliche Gabe, die Respekt statt Bestrafung verdiene.

Jetzt auf Deutsch erschienen. «Das andere Berlin» von Robert Beachy.
Jetzt auf Deutsch erschienen. «Das andere Berlin» von Robert Beachy.

Beim Juristentag im Sommer 1869 in München erntete Ulrichs jedoch «Kreuzigen!»-Rufe, als er sich outete und dafür plädierte, das preussische Unzucht-Gesetz gegen mann-männliche Intimitäten zu ändern.

Beachy schreibt: «Konkret gesprochen leitete Ulrichs eine konzeptionelle Revolution ein, welche die erotische gleichgeschlechtliche Liebe vom Status einer abweichenden Verhaltensweise zu dem einer sexuellen Orientierung mit spezifischer Qualität erhob.» Ulrichs Pionierarbeit wurde ab Ende der 1890er Jahre beim Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) in Berlin fortgeführt.


Der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935), der später zu einem Feindbild der Nazis wurde und im Exil in Nizza starb, betrieb seriöse Forschung und engagierte Homo-Lobbyarbeit.

Mit der Homosexualität die Heterosexualität erfunden
Vor Hirschfeld und Co. wurde kaum von einer Spezies mit fester Identität ausgegangen, die nun mal (angeboren) so sei, wie sie sei. Vielmehr existierte die Vorstellung, jeder könne wegen moralischer Schwäche zum sogenannten Verbrechen der Sodomie verführt werden.

Mit der Wortneubildung «homosexuell» im deutschsprachigen Raum wurde auch erst die Heterosexualität erfunden, die zuvor kaum erklärungsbedürftig erschien. Der österreichisch-ungarische Autor Karl Maria Kertbeny (1824-1882) prägte dieses Wort 1868 (aus dem griechischen homos (gleich) und dem lateinischen sexus (Geschlecht)).

Das kaiserliche Berlin als Hochburg der männlichen Homosexualität
Auch wenn Länder wie Frankreich und England durchaus schwule Subkulturen kannten, war das Phänomen im kaiserlichen Berlin laut Beachy viel grösser. Warum es auf deutschem Boden fruchtbarer war – ob dies vielleicht auch an der homoerotischen Tradition aus der Zeit der Klassik oder einem romantisierten Begriff gleichgeschlechtlicher Freundschaft liegen könnte – das arbeitet Beachy nicht deutlich heraus. Stattdessen verliert er sich stellenweise in Elite-Geschichten der Wilhelminischen Zeit (Harden-Eulenburg-Affäre etwa oder die Geschichten rund um Friedrich Alfred Krupp).

[quote align=’right‘]«Eigentlich sollten die Deutschen diesen Teil ihrer Geschichte herausposaunen.»[/quote]Im Gefolge der Ereignisse in Deutschland und der fast alles zerstörenden Nazi-Zeit verlagerte sich die Wissenschaft von Geschlechtern und (sexuellen) Identitäten bis heute weitgehend in die USA, wo sie – meist als Queer Studies – alles jenseits des üblichen Bildes der Heteronormativität einschliesst. Inzwischen ist die Queer-Theorie sehr differenziert, manchem Prüden auch zu kompliziert, voller Spezialbegriffe oder Kürzel wie LGBTIQ (für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex and Questioning).

Beachys Buch zeigt, dass Deutschland einmal Vorreiter gewesen ist. Heute erscheint die Bundesrepublik innerhalb der westlichen Welt eher abgehängt. Zwar hat Berlin nach wie vor wahrscheinlich die freizügigste Schwulenszene der Welt, doch politisch ist manche Diskussion hierzulande eher von gestern. Das zeigt zum Beispiel die seit Jahren andauernde Debatte um ein volles Eherecht für gleichgeschlechtliche Paare. Bei diesem Thema sind angeblich konservativere Länder wie Spanien, Frankreich, Irland oder die USA längst auf einem anderen Stand.

In einem «Spiegel Online»-Interview sagte Beachy kürzlich: «Auf den Kampf um Homosexuellenrechte kann man in Deutschland heute stolz sein. Eigentlich sollten die Deutschen diesen Teil ihrer Geschichte herausposaunen, ihn auf Briefmarken und Plakate an der Autobahn drucken.»

Robert Beachy: Das andere Berlin – Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867-1933; aus dem Englischen von Hans Freundl und Thomas Pfeiffer, Siedler Verlag, 464 S., Euro 24,99,
ISBN 978-3-8275-0066-3


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