Gefährliche Nähe: Wenn Intimität zur Falle wird
Sextortion trifft längst auch Männer und queere Jugendliche
Es beginnt harmlos. Ein Flirt, ein Lächeln, ein paar Nachrichten. Auf Tinder, Instagram oder Grindr entsteht Nähe, schnell und scheinbar echt – bis sie zur Falle wird.
Von Keven Nau
Was als Spiel beginnt, endet in Erpressung: Ein Foto, ein Video, ein Moment der Offenheit und wenig später die Drohung. Wer nicht zahlt, wird entblösst. Wer zahlt, wird meist trotzdem weiter erpresst.
Sextortion nennen Ermittler dieses Verbrechen – die «Erpressung auf sexueller Grundlage mit dem Tatmittel Internet». Ein technischer Begriff für ein zutiefst menschliches Drama: zerstörte Selbstbilder, Scham, Angst, Isolation (MANNSCHAFT berichtete).
Der neue Tatort: Dating-Apps Die Täter*innen agieren dort, wo Vertrauen zur Währung geworden ist – auf Tinder, Grindr, Instagram oder Tiktok. Sie geben sich als charmante Gesprächspartner*innen aus, täuschen Vertrautheit vor und wechseln dann rasch auf Messenger-Dienste wie Telegram oder Whatsapp. Dorthin, wo Strafverfolgung kaum mehr greifen kann.
«Man findet ein sympathisches Gegenüber, es werden Komplimente gemacht, man kommt sich näher und wird vertraulicher in der Kommunikation», beschreibt Kathlen Zink vom Landeskriminalamt (LKA) Sachsen gegenüber MANNSCHAFT das Muster. Dann kippt alles. «Die Täter speichern diese delikaten Videos bzw. die gesendeten Nacktfotos für sich ab. Danach fordern sie hohe Geldsummen – ansonsten drohen sie mit einer Veröffentlichung.»
Die Opfer wissen: Ein einziger Klick kann alles zerstören. Und genau das macht diese Form der Erpressung so perfid – sie passiert nicht irgendwo im Netz, sondern mitten in der Privatsphäre, in der verletzlichsten Form von Nähe.
Eine unsichtbare Epidemie Die Zahlen zeigen, wie gross das Problem längst ist. In Sachsen registrierte die Polizei 2023 über 600 Fälle, 2024 noch rund 470. In Sachsen-Anhalt zählte das LKA im selben Zeitraum 615 Fälle (2023) und 484 (2024). Auch Thüringen meldet hohe Werte: Laut Katharina Arnold vom Landeskriminalamt Thüringen waren es 2023 225 Fälle, 175 davon über das Internet – 2024 dann 182, 132 davon digital.
Doch die Statistik zeigt nur, was angezeigt wird. Die Dunkelziffer ist hoch – denn das grösste Hindernis ist nicht die Technik, sondern die Scham.
«Eine unfassbare Scham» In den Beratungsstellen tauchen die Geschichten spät auf, oft erst Monate nach der Tat. Menschen, die kaum schlafen, die niemandem erzählen können, was passiert ist. Florian Wedell, Psychologe beim Weissen Ring, erlebt das regelmässig: «Betroffene von Sextortion leiden häufig unter einer unfassbaren Scham. Es geht hier schliesslich um intime Aufnahmen, die erpresserisch gegen die Betroffenen verwendet werden. Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle kommen ebenfalls häufig vor», sagte er gegenüber MANNSCHAFT.
Viele machen sich selbst Vorwürfe. «Besonders gemein ist, wenn die Betroffenen sich selbst Vorwürfe machen, auf die Täuschung hereingefallen zu sein», so Wedell. «Dies kann im schlimmsten Fall durch victim blaming verstärkt werden.»
Wedell weiss, wie schwer der erste Schritt ist. «Die Zahlung des geforderten Geldbetrags wird nicht zum Ende der Erpressung führen – daher sollten Betroffene auf das Zahlungsbegehren nicht eingehen.» Stattdessen rät er, sich an Polizei oder Opferhilfe zu wenden.
Der Weisse Ring begleitet Betroffene schweizweit – mit psychologischer Ersthilfe, juristischer Beratung und einfach mit Zeit zum Zuhören. «Unsere ehrenamtlichen Kolleg:innen hören Betroffenen zu und helfen als ‹Lotsen im System› dabei, Rechtsbeistand oder psychotherapeutische Unterstützung zu finden.»
Jugendliche im Visier Bei Juuuport e. V., einer Online-Beratungsplattform für junge Menschen, gehört Sextortion längst zum Alltag. «In unserer Beratung machen diese Anfragen mittlerweile rund ein Drittel aller Anfragen aus», sagte Ann-Kristin Gaumann gegenüber MANNSCHAFT. Der Satz wirkt nüchtern – doch er beschreibt eine Entwicklung, die erschüttert.
Täglich melden sich Jugendliche, die in der digitalen Welt nach Nähe suchen und stattdessen in eine Falle geraten. Viele haben sich zum ersten Mal jemandem anvertraut, oft aus Neugier oder Einsamkeit. «Uns erreichen täglich bis zu fünf Anfragen zu Sextortion», sagt Gaumann. Und jede einzelne steht für eine Geschichte aus Scham, Druck und Angst, dass das eigene Gesicht plötzlich im Internet kursiert.
Die Täter*innen nutzen dabei die gleichen Orte, an denen junge Menschen sich sicher fühlen: Social-Media-Plattformen wie Instagram oder Tiktok, aber auch Dating-Apps wie Tinder oder Grindr. «Unsere Zielgruppe – Jugendliche und junge Erwachsene – werden auf den Plattformen erreicht, die sie täglich nutzen», erklärt Gaumann. Der Kontakt beginnt mit Komplimenten, harmlosen Nachrichten, einem schnellen Vertrauensaufbau – und endet oft mit einer Drohung über Telegram oder Whatsapp.
In der anonymen Beratung versuchen Gaumann und ihr Team, genau diesem Gefühl etwas entgegenzusetzen: Zuhören, Stabilisieren, Aufklären. Denn viele Betroffene sind überzeugt, dass sie die Einzigen sind, denen so etwas passiert. Doch das Gegenteil ist der Fall – die Zahl der Betroffenen steigt seit zwei Jahren rasant. «Sextortion ist ein Phänomen, das erst durch soziale Netzwerke und Messenger möglich wurde», so Gaumann. «Und es trifft längst nicht mehr nur junge Mädchen oder Frauen, sondern zunehmend auch männliche und queere Jugendliche.»
«Das Schweigen hält das System am Leben» Viele Betroffene suchen erst spät Hilfe. Manche gar nicht. Die Angst, blossgestellt zu werden, lähmt. «Für Betroffene besteht die grosse Herausforderung darin, neben der Tat auch über ein gescheitertes Beziehungserleben sprechen zu müssen», erklärt Wedell.
Schweigen schützt kurzfristig – und stabilisiert langfristig das System. Die Täter kalkulieren genau damit. Solange Scham grösser bleibt als Mut, werden sie Erfolg haben.
«Nicht zahlen, nicht schweigen» Die Polizei appelliert, sich frühzeitig Hilfe zu holen. Das LKA Sachsen rät: keine Freundschaftsanfragen von Fremden annehmen, keine intimen Handlungen in Videochats, kein Vertrauen in anonyme Online-Profile. Doch wenn die Erpressung bereits läuft, werden Beratungsstellen wie der Weisse Ring oder Juuuport zur letzten Rettung – ein vertraulicher Raum, bevor alles entgleitet.
Sie hören zu, wo andere wegsehen. Sie helfen, wo Behörden an Grenzen stossen. Und sie sagen, was viele nicht hören wollen: Nicht zahlen. Nicht schweigen. Nicht allein bleiben.
Denn Sextortion ist kein technisches Delikt. Es ist ein menschliches – ein Angriff auf Vertrauen, Intimität und Selbstwert. Und es zeigt, wie nah Gewalt und Nähe heute beieinanderliegen, nur einen Klick entfernt.
Der US-Autor Michael Schreiber veröffentlicht mit «Don Bachardy: An Artist’s Life» eine neue Oral History über den Künstler Don Bachardy – und damit über eine der bedeutendsten queeren Liebesgeschichten des 20. Jahrhunderts (MANNSCHAFT berichtete).
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