«Auf Grindr will kaum jemand mehr Kondome benutzen»

PrEP: Eine neue Freiheit, angetrieben von Medikamenten

Bild: Samuel Spreyz
Bild: Samuel Spreyz

Wenn die Pharmaindustrie eine sexuelle Revolution einläutet: Müssen schwule Männer zu Langzeitpatienten werden, um ihre Sexualität ausleben zu können? Diese Frage stellt sich der Fotograf Samuel Spreyz mit seinem Projekt «MSM.Rx».

Samuel, machen wir gerade eine sexuelle Revolution für schwule Männer durch? Ja, mit dem Einsatz der PrEP*, die sichere, sexuelle Praktiken ermöglicht, könnte man das schon sagen. Diese Freiheit hat aber auch einen Preis: Wir unterwerfen unseren Körper der Kontrolle in der Form von regelmässigen HIV- und STI-Tests.

Für die LGBTIQ-Community, die so sehr von HIV betroffen war, ist es wahrhaftig eine Revolution – eine Revolution, die von legalen Drogen befeuert wird. Das Gesundheitssystem hat die Angst genommen. Die Angst, Sex zu haben. Die Angst vor HIV-positiven Menschen.

*PrEP steht für Prä-Expositions-Prophylaxe und ist ein Medikament in Tablettenform. Richtig eingenommen, schützt es HIV-negative Menschen vor einer Ansteckung mit HIV. Wer PrEP konsumiert, muss alle drei Monate zur ärztlichen Kontrolle. Dazu gehören Tests auf HIV und auf weitere Geschlechtskrankheiten sowie die Überprüfung der Nierenfunktion

Worum geht es bei deiner Arbeit «MSM.Rx»? Es ist ein Bildband und ein visueller Essay. Ich wollte diese neue Freiheit festhalten, die von Medikamenten angetrieben ist. Ich zeige Bilder aus dem schwulen Nachtleben und stelle sie Bildern aus der Pharmaindustrie gegenüber: Produktionsstätten, Testgeräte, Pillen und Verpackungen.

Denn bei der PrEP geht es eben nicht nur um sexuelle Freiheiten, sondern auch um Tests und Medikamente. Um ihre Sexualität ausleben zu können, werden schwule Männer zu Langzeitpatienten. Bei den Frauen hat sich dieser Mechanismus seit Jahrzehnten etabliert: Sie nehmen die Pille, um ihre Sexualität zu geniessen und nicht schwanger zu werden. Sie haben die Freiheit, eine Mutterschaft selbst zu bestimmen.

Portrait des Schweizer Fotografen Samuel Spreyz (Bild: Filip Vanzieleghem)
Der Schweizer Fotograf Samuel Spreyz (Bild: Filip Vanzieleghem)
Bild: Samuel Spreyz
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Wie bist du auf die Idee gekommen? Einerseits durch die Lektüre der französischen Schriftsteller Paul B. Preciado, Didier Lestrade und Guillaume Dustan, die über Sexualität, das Gesundheitssystem und HIV schrieben. Dabei geht es nicht nur um Medikamente und Prävention, sondern auch um Sex und um freizügige, mit Risiken verbundene Hardcorde-Praktiken.

Über ihre Themen gibt es nur wenig Bilder. Ihre Texte haben mich sehr inspiriert und mentale Bilder erzeugt, die ich mit der Fotografie zu reproduzieren versuchte. Andererseits bin ich selbst PrEP-User und wollte einen autobiografischen Einblick als Insider gewähren.

Kann unsere Sexualität denn wirklich frei sein, wenn wir auf PrEP oder HIV-Medikamente angewiesen sind? Die «Überwachung» ist die Kehrseite dieser Freiheit. Du musst dich dem medizinischen System und den regelmässigen Tests beugen, um diese Form der Sexualität ausleben zu können. Zudem ist in der Community ein indirekter Druck da: Suchst du auf Grindr nach Dates, will dort kaum jemand mehr Kondome benutzen.

Eine Mehrheit ist auf PrEP, also musst du dir überlegen, ob du dich schützen oder einen riskanteren Weg einschlagen willst. Guillaume Dustan sagte bereits während der HIV-Krise, dass man Verantwortung übernehmen muss und sie nicht anderen abtreten kann.

Bild: Samuel Spreyz
Bild: Samuel Spreyz
Bild: Samuel Spreyz
Bild: Samuel Spreyz

Meinst du, die Männer in der Community setzen sich mit diesen Fragen auseinander? Ich weiss es nicht. Die Älteren vielleicht, die die HIV-Krise erlebt haben. Für einige Menschen sind Medikamente einfach der Weg zum Ziel – eine Dienstleistung sozusagen, um ihre Sexualität auszuleben. Es ist ähnlich mit den Smartphones. Wir denken nicht an die Fabriken, in denen sie hergestellt wurden, oder wie ihre Verwendung bei uns die Ausschüttung von Dopamin auslöst. Das Smartphone ist nichts weiter als ein Werkzeug, wie PrEP auch. Werkzeuge, die wir immer absetzen können, sofern wir das wollen.

Bild: Samuel Spreyz
Bild: Samuel Spreyz

Wo hast du die Bilder aufgenommen? Einerseits im Studio, andererseits in Clubs in Antwerpen, Basel und Zürich sowie in Laboren und Produktionswerken. Manchmal kam eine Infrarotkamera zum Einsatz, Zugang zu den Clubs erhielt ich zum Teil mit Presseausweisen.

Es sind öffentliche Orte und gleichzeitig Safe Spaces, in denen Fotografie nicht erlaubt ist. Als Besucher von solchen Spaces würde ich dort nicht fotografiert werden wollen. Um die Anonymität und somit den ethischen Aspekt des Projekts zu gewährleisten, arbeitete ich mit Filtern und Unschärfen.

Dein Projekt wird bei der Photo Schweiz ausgestellt. Was bedeutet dir diese Plattform? Es gibt mir die Möglichkeit, ein Publikum ausserhalb der Community und der ECAL (Hochschule für Kunst und Design in Lausanne, Anm. d. Red) zu erreichen. Viele Menschen in der Gesellschaft haben noch nicht von PrEP gehört und ich glaube auch, dass viele schwule Männer in der Community sich keine Gedanken über die Zusammenhänge mit dem Gesundheitssystem gemacht haben. Im Rahmen meiner Arbeit bei der ECAL ist ein Bildband darüber entstanden. Mit grossformatigen Abzügen kann ich dem Projekt bei der Ausstellung nun eine weitere Dimension geben.

Bild: Samuel Spreyz
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Photo Schweiz Samuel Spreyz stellt sein Projekt «MSM.Rx» bei der Photo Schweiz aus. Die Werkschau gilt als grösste ihrer Art und verschafft einen Überblick über das fotografische Schaffen in der Schweiz. Jährlich zeigen über 250 nationale und vereinzelt internationale Fotograf*innen aktuelle Arbeiten. Die Photo Schweiz findet bis 16. Januar 2024 in der Halle 550 in Zürich-Oerlikon statt: photo-schweiz.ch.

Take That: «Auch wir sind ge­scheitert, haben Scheisse erlebt» – Gary Barlow, Mark Owen und Howard Donald hocken eng und einträchtig auf einem Sofa in London. Voller Enthusiasmus sprechen sie per Zoom über ihr neues Take-That-Album «This Life», das Älterwerden, psychische Gesundheit, Bienen und Boxer (MANNSCHAFT+).

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