Thriller «Operation Hyakinthos»: Säuberungsaktionen im Polen der 80er
Netflix zeigt den Film von Piotr Domalewski über ein Stück vergessene LGBTIQ-Geschichte
Bei Netflix ist der neue polnische Film «Operation Hyakinthos» zu sehen, der die Säuberungsaktionen der 1980er-Jahre beschreibt. Damals beschloss die polnische Regierung, auf dem frühen Höhepunkt der AIDS-Krise homosexuelle Aktivitäten auszumerzen – im Namen öffentlicher Gesundheit.
Der Film von Regisseur Piotr Domalewski und Drehbuchautor Marcin Ciastoń behandelt die berüchtigte Anti-LGBTIQ-Operation, die zwischen 1985 und 1987 von der Geheimpolizei im kommunistisch regierten Polen durchgeführt wurde. Spezialagenten wurden beauftragt, Homosexuelle ausfindig zu machen (z. B. via Razzien von öffentlichen Toiletten) und ihre Namen in eine Datenbank zu überführen.
Betroffene wurden brutal verhört und gedrängt, die Namen anderer Homosexueller preiszugeben: unter Androhung, ihre eigene Homosexualität würde sonst ihren Familien, Ehefrauen, Kindern, Kollegen und Arbeitgebern bekanntgemacht. Ausserdem wurden die Betroffenen gezwungen, ein offizielles «Geständnis» zu unterschreiben, dass sie «Homosexuelle» sind. Laut Abspann bei Netflix wurden auf diese Weise über 11.000 Personen in Datenbanken «registriert».
Es ist ein Stück LGBTIQ-Geschichte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, das weitgehend unbekannt ist und über das bislang nicht viel gesprochen wurde. Daran wollte Marcin Ciastoń mit seinem Drehbuch etwas ändern. Es gewann beim Polnischen Filmfestival den Preis für «Bestes Drehbuch» und verwebt die fiktive Geschichte des jungen Polizeioffiziers Robert (Tomasz Ziętek) in Warschau mit den komplexen historischen Hintergründen.
Robert und Arek: Wankendes Weltbild Roberts Vater Edward (Marek Kalita) ist einer der Leiter der Geheimpolizei und hofft auf eine Karriere seines Sohnes. Die aber nur möglich ist, wenn er sich strikt an Anordnungen und Regeln hält und nicht auf eigene Faust etwas unternimmt. Robert ist verlobt mit seiner Kollegin Halinka (Adrianna Chlebicka), die das Polizeiarchiv betreut. Seine Eltern unterstützen die Verbindung und zeigen sich wegen der bevorstehenden Ehe begeistert – dem steht der eher «pflichtbewusste» Sex gegenüber, den Robert mit Halinka hat.
Der Film beginnt damit, dass Robert und sein Polizeipartner öffentliche Toiletten und Bars durchforsten sollen, um schwule Männer ausfindig zu machen. Während der Partner die Festgenommenen mit grösstmöglicher Homophobie behandelt, glaubt Robert, er könne durch Vertrauen und Freundschaft weiterkommen. Denn es geht darum, den mysteriösen Mord an einem Mann – vermutlich ein Homosexueller – in einem Park aufzuklären.
Der Mann seines Vertrauens wird der Student Arek (Hubert Milkowski), der nicht weiss, dass Robert bei der Polizei ist und der ihn aufklärt, wie furchtbar dieses Verfolgungssystem ist. Und welchen Missbrauch die Polizei und kommunistische Führung damit betreibt. Wie sich schnell herausstellt, ist einer der oberen Beamten der Geheimpolizei selbst in homosexuelle Aktivitäten verwickelt – und damit möglicherweise auch in die gezielten Tötungen von jungen Schwulen.
Robert lernt über Arek ein befreiteres Leben unter Studenten und Schwulen kennen, quasi ein Gegenentwurf zu all dem, was er von zuhause und von der Offiziersschule kennt. Und als Arek ihn nach einer Party küsst, kommt auch sein eigenes Weltbild ins Wanken.
Nachdenklicher Showdown «Operation Hyakinthos» behandelt Roberts latente schwule Sehnsüchte und die Spannungen, die dadurch mit dem eigenen obrigkeitshörigen Vater entstehen, der ahnt, dass sein Sohn nicht heterosexuell sein könnte. Der aber auch weiss, welche Konsequenzen das hätte – für Roberts Karriere und für sein Überleben. Besonders, weil Robert immer weiter in den Mordfällen an jungen Männern rumstochert, obwohl ihm das strikt untersagt wurde.
Natürlich läuft das Ganze in perfekter Thriller-Manier auf einen Showdown zu. Der am Ende extrem nachdenklich stimmt.
Ein bisschen erinnert die Geschichte des Undercover-Agenten im Schwulenmillieu an «Cruising» (1980) mit Al Pacino. Allerdings wird die Geschichte hier ganz anders aufgezogen und erzählt. Und so, wie Kameramann Piotr Sobociński Jr. sie einfängt, wirkt sie oft wie ein Neo-Noir-Film der 1970er-Jahre. Mit perfekt gestylten Innenräumen im Kommunismus.
Der Retro-Aspekt ist bei «Operation Hyakinthos» entsprechend hoch und lässt den Film teils bewusst «alt» aussehen, so als sei er tatsächlich 1985 gedreht worden. Was die brennende Aktualität des Themas ein bisschen verdeckt. Besonders wo heute immer noch Menschen wegen ihrer Homosexualität von der Polizei gejagt werden in verschiedenen osteuropäischen Ländern oder in Afrika (MANNSCHAFT berichtete).
«Rosa Akten» Was im Film nicht erklärt wird, sind die genauen Umstände, die 1985 dazu führten, dass «Operation Hyakinthos» gestartet wurde. War sie abgestimmt mit der Parteiführung in der Sowjetunion? War die Situation in anderen Ostblockländern identisch? Über die Hintergründe erfährt man in einem Artikel der Daily Mail, dass die Operation auf eine Initiative des polnischen Innenministers Czesław Kiszczak zurückgeht. Er wollte angeblich nicht nur AIDS auf diese Weise bekämpfen, sondern auch Prostitution und Sexkriminalität. Eine weitere «Erklärung» war scheinbar, dass schwule Männer vor sich selbst geschützt werden sollten, nach dem Mord an einem Homosexuellen in Danzig (das ist der Mord, der im Netflix-Thriller thematisiert, aber nach Warschau verlegt wird).
Einige polnische Histoker*innen glauben, laut Daily Mail, dass die Operation Teil einer breiteren Kampagne war, um mit kompromittierendem Material Mitglieder der anti-kommunistischen Opposition auszuschalten, etwa Unterstützer der Solidarność-Bewegung. Die wurde bekanntlich von Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa angeführt, der auch der erste Präsident des Landes nach dem Fall des Kommunismus wurde.
Laut LGBTIQ-Aktivist Krzysztof Tomasik sollen etliche der sogenannten «Rosa Akten» noch existieren, mit all den Informationen, die damals gesammelt wurden, um Politiker und hochstehende Persönlichkeiten zu erpressen, schreibt Daily Mail. Sie unterlegt ihre Geschichte mit eindrucksvollen Fotos aus diesen Akten.
Im Netflix-Film wird auch nicht erklärt, warum die Operation dann 1987 wieder aufhörte. Wer entschied das? Und wie ging es weiter vorm unmittelbaren Zusammenbruch des Kommunismus in Polen?
Von dieser Endphase handelt das wunderbare Buch «Im Wasser sind wir schwerelos» (2020/21) von Tomasz Jędrowski, das die Liebesgeschichte von zwei Jungen beschreibt, von denen einer davon träumt, im kommunistischen Parteigefüge Karriere zu machen, weil er glaubt, ganz weit oben in der Hierarchie könne er «frei» sein, auch als Schwuler, während der andere Junge aus dem Land raus will, um «echte» Freiheit zu erfahren, fernab vom real existierenden Sozialismus und Kommunismus. Als Leser weiss man, dass der Traum von Freiheit im Parteisystem zerplatzen wird, weil das Stystem implodieren wird. Und zwar unmittelbar. Doch das wissen beide Jungen im Buch noch nicht. Einer ahnt es nur.
Puzzlestücke Man kann nur hoffen, dass «Operation Hyakinthos» nur der Auftakt zu weiteren Filmen über die Geschichte von LGBTIQ in Polen sein wird. Eine Geschichte, die nicht erst in jüngster Zeit mit «LGBTIQ-freien Zonen» begann und sich nicht nur darum dreht, ob Nationalkomponist Chopin schwul war (MANNSCHAFT berichtete). Wie immer ist Geschichte vielschichtiger, und es lohnt sie auch entsprechend zu erzählen. Stück für Stück. Fürs LGBTIQ-Nachrichtenportal Queerty ist «Operation Hyakinthos» jedenfalls «einer der besten Filme des Jahres 2021». Er ist definitiv ein wichtiges Puzzlestück zur LGBTIQ-Geschichte Europas.
Auf Nachfrage von MANNSCHAFT sagt Drehbuchautor Marcin Ciastoń zu den Reaktionen in der polnischen Presse: «Die Kritiken sind gut bis sehr gut, mit ein paar gemischen Kommentare dazwischen. Es scheint, wir haben unsere Sache gut gemacht.»
«Operation Hyakinthos» setzt jedenfalls die erstaunliche Anzahl von Filmen fort, mit denen Netflix vergessene LGBTIQ-Geschichte aus verschiedenen Ländern aufarbeitet und für die Streaming-Generation sichtbar macht: erinnert sei an «Ball der 41», ein opulenter Historienfilm über den ersten Homosexuellenskandal in Mexiko Anfang des 20. Jahrhunderts (MANNSCHAFT berichtete).
Auch «Ball der 41» ist ein Meilenstein, der zeigt: Gay Liberation fängt nicht mit Stonewall an, und man sollte den Blick nicht immer nur auf die USA werfen. Schwulenverfolgung gab es ihm Rahmen des «Lavender Scare» auch in Grossbritannien und natürlich auch in Deutschland in den 1950er- und 60er-Jahren, wie «Der Staat gegen Fritz Bauer» zeigt, oder ganz aktuell das Paragraf-175-Drama «Grosse Freiheit» mit Nachwuchsstar Thomas Prenn.
«Operation Hyakinthos» kann man bei Netflix sowohl im polnischen Original (mit Untertiteln) sehen, als auch in einer deutschen Synchronfassung.
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